Über Zoran Djindjić

Distanz zur „Frankfurter Schule“:

Bei jemandem seinen Doktor zu machen, heißt nicht, ihn als seinen Leitstern zu betrachten. Zoran Djindjić ist nach Deutschland gekommen, um bei Jürgen Habermas zu promovieren und hat seine Dissertation dann bei Albrecht Wellmer in Konstanz, einem anderen Vertreter der „Frankfurter Schule“, über das Gesellschaftsbild von Marx abgeschlossen. Die Brücke oder besser die Schiene war der Praxis-Kreis in Belgrad, der eng mit den hiesigen Philosophieprofessoren der Frankfurter Richtung verbunden und verbandelt war. Auch dann übrigens noch, als die Praxis-Leute in Belgrad im Laufe der 80er Jahre vom Marxismus irgendeiner Variante zum serbischen Nationalismus der chauvinistischen Variante übergingen. Das ist jedenfalls in Konstanz, wie ich mich erinnere, lange nicht verstanden oder verdrängt worden. Ausgerechnet unsere Philosophen in der Nachfolge marxistischer Traditionen haben sich über die fatale Wendung von links nach ganz rechts, wie sie sich im akademischen Belgrad – entlang der Kosovo-Frage – vollzogen hatte, noch über Jahre hinweggetäuscht. Als Zoran Djindjić Mitte der 80er Jahre in Frankfurt am Main dann selbst anfängt, eigenständig zu philosophieren und zu schreiben, hat das nichts mehr mit Marx zu tun. Es ist der definitive Bruch mit Marx und seiner großen Erzählung. In seinen politischen Essays aus dieser Zeit (1986-1988), die ich erst viele Jahre später kennen lerne, über den Vortrag von Ivan Glaser zur Gedenkveranstaltung 2013 an der Universität Konstanz, stellt Djindjić dem Totalitarismus des jugoslawischen Sozialismus einen essentiellen Liberalismus entgegen. Wie ihn Ernst Fraenkel in seiner Analyse des nationalsozialistischen Unrechtsstaates entwickelt hatte. (Vgl. Ivan Glaser, Den modernen Staat denken, in: Zoran Djindjić, Experiment gegen die Moderne, 2017, S. 290 ff.)

Aber die Distanz Zoran Djindjićs – und anderer aus Jugoslawien stammender Intellektueller in seinem damaligen Umfeld – vor allem zu Jürgen Habermas als dem international einflussreichsten Vordenker der Frankfurter Schule hatte noch andere Gründe. Leider muss ich sagen: so richtig verstehe ich sie erst heute – angesichts des russischen Vernichtungskrieges gegen die Ukraine und im Licht der unsäglichen öffentlichen Plädoyers von Habermas für sofortige Verhandlungen mit

Präsident Wladimir Putin. Es ist der Kerngedanke von Habermas, alle politischen Konflikte könnten letztlich via Dialog, „herrschaftsfrei“ entschärft, temperiert und friedlich gelöst werden, der diesen jungen Leuten aus einem hoffungslos fehlkonstruierten und auch bereits rissigen, bereits auseinanderbrechenden Herkunftsstaat als indiskutabel vorkommen musste, wenn nicht als lächerlich. Weniger pointiert gesagt: als eine weltferne, illusionäre Konstruktion: genauer Ausdruck, typisches Produkt der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft und ihrer interessierten politischen Denkfaulheit.

Zurück in Belgrad: Auf der Suche nach politischer Orientierung

Vielleicht darf ich mit meiner eigenen Desorientierung anfangen: Nach zweieinhalb Jahrzehnten nahezu ausschließlicher Beschäftigung mit deutscher Zeitgeschichte (nur unterbrochen durch ein Forschungsstipendium in den USA) begann ich Mitte der 80er Jahre, zusammen mit Ivan Glaser Jugoslawien zu bereisen. Charakteristisch für meine Unbedarftheit ist 1986 ein Besuch bei Dobrica Cosic in der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste, den ich ganz wunderbar finde mit seiner druckreifen Sprache und in seiner ganzen Hoheit als einer der angesehensten Romanciers des Landes. Null Ahnung, dass wir hier einen giftigen, rassistischen Nationalisten vor uns haben. Das wird mir dann allerdings zwei oder drei Jahre später klar: als Cosic in einer privaten Audienz in seinem Belgrader Domizil, die Zoran Djindjić für uns arrangiert hatte, behauptete, im Kosovo finde ein „Genozid“ an der serbischen Minderheit statt. Und speziell an meine Adresse: „dafür brauche es keiner Gaskammern“.

Den aufsteigenden Slobodan Milosevic hatte ich gegenüber meinen bereits zutiefst beunruhigten Freunden in Zagreb, wo wir unsere Reisen immer starteten, noch peinlich lange als ein bloßes Übergangsphänomen, ein verirrtes Zwischenspiel abgetan, dem alsbald – wie überall in Ostmitteleuropa – auch hierzulande die große prowestliche Zäsur folgen werde. Erst unsere Besuche im Kosovo Ende der 80er Jahre haben mich darüber belehrt, was hier wirklich im Gange war. Aber das haben wir alles schon erzählt. (Vgl. Ivan Glaser, Ernst Köhler, Für das kleinere Ganze. Zu einem anderen Verständnis vom Ende Jugoslawiens, 1993)

Zoran Djindjić, dessen Lebensmittelpunkt jetzt wieder Belgrad war, hatte in meinen Augen zu diesem Zeitpunkt noch wenig davon begriffen. Was unsere Abstecher in das Kosovo betraf, so lieh er uns einmal seinen großen, alten Wagen (mit der Frankfurter Nummer, was uns in den durchfahrenen Dörfern von serbischer Seite fröhliche, wenn auch irrtümliche Gastgeschenke durch das heruntergeschraubte Autofenster einbrachte). Er hörte sich unsere Berichte über die aktuellen Terrormethoden des serbischen Kolonialregimes im Kosovo auch geduldig und aufmerksam an, aber das war eher die ihm eigene Gelöstheit und Grandezza, die Freundschaft mit uns. Erreicht haben wir ihn damit kaum.

In luziden Essays hatte Djindjić die kommunistische Gewaltherrschaft Titos und seiner Nachfolger auseinandergenommen (anders als übrigens so mancher seiner ehemaligen Konstanzer Kommilitonen, die beispielsweise weiter an der Mär von der basisdemokratischen „Arbeiterselbstverwaltung“ im offenen Sozialismus Titos strickten). Aber jetzt war unser Zoran auf einmal von Milosevic-nahen Medienleuten umgeben. Das neu heraufziehende Szenarium der Polarisierung und Spaltung des Landes – liberaldemokratischer Aufbruch in Slowenien und Kroatien, das war jetzt „1989“! – in Serbien eine plebiszitäre, demagogisch gekonnte, mittels einer neuen, sinnlicheren Sprache inszenierte, großserbische Massenmobilisierung dagegen – schien sich ihm noch zu entziehen. Für ihn hatten diese Slowenen und Kroaten mit ihren vermeintlich progressiven Reformabsichten noch immer etwas von den „Sklavenvölkern“ des alten, anti- imperialen serbischen Narrativs. Politische Selbstbehauptung, Selbstbefreiung, die Fähigkeit zur Staatsbildung, zur Durchsetzung von staatlicher Unabhängigkeit war danach seit jeher die Inspiration, die Leistung, der Adel der serbischen Nation gewesen. Was sich da im Nordwesten jetzt so unverschämt und lautstark breit machte, war hingegen politische Unverantwortlichkeit. Es war borniert, partikularistisch, staatsfeindlich und kam allein aus wirtschaftlicher Eigensucht.

So etwas wie ein Weltbild war das bei Djindjić freilich nicht mehr. Es war nur noch ein wackeliges, verschlissenes Ressentiment. Fast gleichzeitig oder doch schon im nächsten Augenblick wird Djindjić dann maßgeblich an der Gründung der oppositionellen Demokratischen Partei in Serbien beteiligt sein.

Eine unbeantwortete Frage

Wie konnte so einer in so einem solchen Land an die Macht gelangen? Das habe ich mich in meinem Beitrag zur Gedenkveranstaltung für Zoran Djindjić 10 Jahre nach seinem Tod gefragt. Und das frage es mich heute noch immer. Mitreden kann ich da nicht, ich habe nichts aus der Nähe beobachtet. Es ist eine Forschungsaufgabe. Es wäre eine Aufgabe für Sie als Journalisten, lieber Dragan Stavljanin. Ich habe meinen Freund für ein Jahrzehnt – in diesen für ihn als oppositionellen Politiker unter dem Regime von Slobodan Milosevic so entscheidenden Jahren – nicht mehr gesehen. Selbst die Frage, wie er es denn überhaupt gemacht und geschafft haben könnte; die Frage also nach den konkreten Bedingungen und Handlungsmustern seines Aufstiegs im politischen Dschungel Serbiens habe ich mir erst im Nachhinein gestellt. Als die Kriege seit 1991 mir diese Frage nicht mehr so verstellten. Als ich nicht mehr so fixiert war auf das Schweigen Zoran Djindjićs zu diesen Kriegen, die doch letztlich alle von Serbien ausgingen. Mit ihren Massemorden an Zivilisten, mit ihrer Vertreibung von Millionen von Menschen („ethnische Säuberung“), mit ihrer Zerstörung von Städten – wie Vukovar, eine Katastrophe, die bis heute der europäischen Öffentlichkeit nicht richtig bewusst ist. Vielleicht holen wir es angesichts des Schicksals von Mariupol im vergangenen Jahr ja noch einmal nach.

Es ist eines, wie man als Bürger eines demokratischen Landes auf so etwas reagiert. Aber als Historiker sollte man schon gewisse Anforderungen an sich selbst stellen. Sich etwa der Frage stellen: wieviel „Machiavellismus“, welches Ausmaß von zynischer taktischer Beweglichkeit war unvermeidlich, um mittelfristig einen Milosevic loszuwerden? Oder geht das überhaupt nicht und gehört strikt tabuisiert? Was ist eigentlich dran an der Geschichte, dass Djindjić kurzzeitig selbst mit einem Verbrecher, dem Massenmörder Radovan Karadzic in Pale, zusammengearbeitet hat? Um Milosevic das Wasser abzugraben und dem Despoten Wählerstimmen zu rauben? Ausblenden ist immer daneben. Aber ich muss mich auch nicht moralisierend überheben. Ich könnte vielmehr erst einmal versuchen, mir den Kontext dieser fragwürdigen Entscheidung zu vergegenwärtigen. Was für eine politische Situation war das überhaupt? Welche Figur gibt Djindjić hier ab? Sollte ich bei diesem Nachforschen in Schwierigkeiten geraten oder gar in ein moralisches Dilemma, arbeite ich richtig.

Selbstvergessener Reformer ohne Zeit

Zoran hat mir diesen Rückzug und meine Abwendung von ihm mitnichten vergolten. Er hat mich 2002 in Belgrad in alter Herzlichkeit empfangen. Als sei ich treu wie Gold. Ich war schon 2001 einmal dort, aber da war ich nicht zum Regierungschef vorgedrungen. Dabei hatte ich mich höchst schlau als Mitarbeiter der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ausgegeben. Djindjić hat mir dann in einem Brief nach Konstanz versichert, das sei eine Dummheit gewesen – hätte ich mich schlicht als Freund angemeldet, hätte es gleich geklappt. Anfang 2004 war ich zusammen mit meinem alten Reisegenossen Ivan Glaser wieder in Belgrad, um mich auf meinen Redebeitrag zur Gedenkfeier der Stadt Konstanz für Zoran Djindjić im März des gleichen Jahres vorzubereiten. Der Text der Rede liegt Ihnen vor (in englischer Sprache; auch ins Serbische ist er übersetzt worden, siehe: Ekonomist, 29.März 2004). Er versucht festzuhalten, was der frühe, gewaltsame Tod dieses außerordentlich weitsichtigen und mutigen Politikers für unsere Gesprächspartner vor Ort, vor allem für Cedomir Jovanovic, bedeutet hat: einen unfassbaren Verlust für das Land und seine Entwicklung.

Mein eigenes, sehr fragmentarisches Bild von Zoran Djindjić an der Macht habe ich hier und dann auch in meiner Rede auf der Gedenkveranstaltung der Universität Konstanz 2013 umrissen. Letztere liegt Ihnen ebenfalls vor. Dem möchte ich hier nichts hinzufügen.

PS

Oder höchstens eine kurze Bemerkung zur Kosovo-Frage, die anscheinend in Serbien unsterblich ist und heute die EU wieder akut unter Druck setzt. Djindjić war hier für mich – das heißt: seitdem ich selbst überhaupt eine Ahnung von dieser späten, massiv erschwerten, aber unaufhaltsamen Nationalstaatsbildung hatte – immer auf der radikal und aussichtslos falschen Seite. Auch kurz vor seiner Ermordung noch – als er der Internationalen Gemeinschaft entgegenschleuderte, dass sich im Kosovo ein regelrechter, ausgewachsener Nationalstaat formiere. Ja, und? Aber wenn man sich vorstellt, dass heute Zoran Djindjić in Belgrad der Gegenspieler von Albin Kurti in Prishtina wäre – und nicht Aleksandar Vučić, der, wie Oliver Jens Schmitt es kürzlich formuliert hat, immer noch derselbe ist, der er als Propagandaminister von Milosevic war! Dann stünden sich hier, nicht zu glauben, keine Welten gegenüber. Sondern lediglich zwei demokratische Vollblutpolitiker, die beide nichts als die Wohlfahrt und Weiterentwicklung ihres Landes im Auge haben.

Vielleicht die beiden einzigen unzweifelhaft demokratischen Regierungschefs, die der Balkan in den letzten Jahrzehnten überhaupt hervorgebracht hat.

Ernst Köhler
Konstanz, März 2023
Notizen für Radio Free Europe, Prag
Zum 20. Todestag von Zoran Djindjić

Schamlose Vertauschung

In Gesprächen, die inzwischen das lange Schweigen abzulösen scheinen, trifft man bei uns schnell auf den Gedanken der Verhandlung zwischen der Ukraine und Russland. Mit den „offenen Briefen“ aus der Anfangsphase des Krieges hat das nicht unbedingt etwas zu tun. Es sind jetzt andere Leute – mit anderen Beweggründen, die sich so äußern. Angesichts des infamen Dauerbeschusses auf die ukrainische Zivilbevölkerung und ihre Versorgungssysteme für Licht, Wärme und Wasser erscheinen Verhandlungen zwischen den beiden Feinden nicht wenigen deutschen Bürgern als eine gebieterische Notwendigkeit, als die letzte Rettung vor einer ungeheuerlichen Barbarei.

Aber auch wenn er aus der Anteilnahme und Menschlichkeit kommt (statt aus einer bloß eingebildeten Weitsicht): der Gedanke an baldige Verhandlungen bleibt haltlos. Schon das Bild von den zwei ineinander verbissenen Kriegsparteien ist irreführend. Es gibt hier einen Aggressor, und es gibt sein Opfer. Sie haben nichts gemeinsam, und wir sollten sie auch nicht künstlich auf eine Stufe stellen. Wo böte sich in dieser katastrophal ungleichen Konstellation die Chance für ein bilaterales Zusammenkommen? Wenn der eine nur die endgültige Ausrottung des anderen will.

Und wenn man dem möglicherweise bereits mit dem Rücken an der Wand stehenden Putin die eroberten Teile des Donbass überließe? Damit er „sein Gesicht wahren“ und sich dem heimischen Publikum und der beunruhigten Machtelite gegenüber als so etwas wie ein Sieger ausgeben könnte? Wer so argumentiert – und das reicht durchaus bis in die Führungsspitzen der westeuropäischen Staaten -, offenbart damit nur, dass er nicht weiß – oder nicht wissen will -, wer Putin ist. Dass er lieber ausklammert, was seit 2014 in der Ukraine geschehen ist. Lieber beiseite schiebt, dass der begrenzte Krieg im Donbass Putin zu wenig war und er ihm den großen folgen ließ. Mehr noch, unser wendiger Diplomat ist bereit, die russische Kriegsführung seit Februar 2022 – zumindest für das Schicksal von Mariupol muss von Völkermord gesprochen werden – realpolitisch zu neutralisieren, gleichsam zu waschen. Was nur gegen den Willen der hier geschlossenen ukrainischen Bevölkerung geht. Was Verrat ist.

Wie kann man für Putin und seine Helfer neue „Nürnberger Prozesse“ ins Auge fassen und sie zugleich als tragende Figuren in eine Friedensregelung einbeziehen wollen? Als seien es nicht Verbrecher, wie die Welt sie nicht tragen kann – wie Hannah Arendt es einmal von Eichmann gesagt hat. Sondern Staatsmänner unter Staatsmännern. Eine Vertauschung, die vielleicht der am wenigsten hinterfragte Zynismus in unserem politischen Common Sense ist.

Über den ukrainischen Jedermann

Ernst Köhler

Woher nehmen die Ukrainer die Kraft dafür, diese Entschlossenheit zum Widerstand? Es ist ein großes, unvergleichliches Ereignis der Gegenwart. Aber ist es nicht auch ein unfassbares? Mehr als 90 Prozent der Zivilisten des Landes wollen, dass die ukrainische Armee bis zu vollen Befreiung ihres Landes kämpft – was auch immer sie durchmachen und noch durchmachen müssen. In Deutschland bewundern wir diese Menschen dafür und stehen hinter ihnen. Heute nicht mehr die Mehrheit von uns. Aber ob es nun, sagen wir, 60 Prozent oder nur noch 40 Prozent sind, ist zweitrangig. Es sind nach wie vor sehr viele von uns. Ungeachtet aller Probleme, die der Krieg auch uns selbst auferlegt. Das ist ausschlaggebend. Es ist immer noch ein massives Votum, eine gesellschaftliche Wucht, eine kritische Masse.

Aber verstehen wir die Ukrainer auch? Unsere Hochachtung hat etwas Empathisches, das heißt auch: etwas Labiles. Der Respekt ist ohne Zweifel authentisch, aber auch anfällig für gewisse Ermüdungserscheinungen. Nicht nur in Deutschland, sondern auch anderswo im Westen, nicht zuletzt in den USA. Aber bleiben wir bei uns. Man kann in niemanden hineinsehen. Aber das Thema Krieg – der ein Vernichtungskrieg gegen die ukrainische Zivilbevölkerung ist, so wie der serbische Krieg der 90er Jahre ein Vernichtungskrieg gegen die bosnische Zivilbevölkerung war – wird bei uns möglichst vermieden. Auch im engeren Bekanntenkreis, auch in der Familie. Das ist eine Form der Selbstvereinzelung, wie soll sich da politischer Zusammenhalt und kollektive Festigkeit entwickeln?

Vor der Klammer steht: Unserer Anteilnahme und Loyalität fehlt es hinten und vorn an historischem Wissen. Sie wären verlässlicher, wenn wir nicht so wenig wüssten über das unbeugsame Land. Hier der Versuch einer Annäherung in Stichworten: über drei Quellen geistiger Autonomie, ausgereifter nationaler Besonderheit oder Identität, aus denen die Selbstbehauptung der Ukraine gegen die Aggression Russlands schöpfen kann. Es sind zugleich aber auch drei Punkte, die uns eher fremd sind und in denen wir Mühe haben, den Bürgern der Ukraine zu folgen. Es sind drei Grundtatsachen der ukrainischen Geschichte und Zeitgeschichte, in die wir uns gerade einzuarbeiten begonnen haben. Ausgerechnet dort, wo sie handeln, wo sie sich zusammenschließen, wo wir sie über sich selbst hinauswachsen sehen, stoßen wir an die Grenzen unseres Erfahrungshorizonts.

Erstens wissen die Ukrainer, wer Putin ist. Und das nicht erst seit 2014. Wir nicht – oder erst seit gestern, soweit wir uns da überhaupt schon bewegt haben sollten, „Zeitenwende“ hin oder her. Als deutsche Durchschnittsbürger stehen wir freilich kaum vor der Frage, ob wir den russischen Präsidenten nicht doch langsam wieder mal anrufen sollten. Um ihn ordentlich zu ermahnen. So ganz isoliert sind Figuren wie Olaf Scholz oder Emmanuel Macron nun auch wieder nicht. Sie gehören mit ihrem absurden Phantasma von der Unsterblichkeit der Diplomatie zu unserer vertrauten politischen Vorstellungswelt. Es ist eine aus der Zeit gefallene Welt, in der Staatsmänner immer Staatsmänner bleiben, egal was für Verbrechen sie begehen.

In der Ukraine ist der Nationalismus dann zweitens die maßgebliche Schubkraft hinter der europäischen Orientierung des Landes. Er war es dort, wie man jetzt in einem Standardwerk zur Geschichte der Ukraine nachlesen kann (Serhii Plokhy, Das Tor Europas, 2022), immer wieder. Seitdem es in diesem Land überhaupt so etwas wie einen modernen Nationalgedanken gibt. In Deutschland hat der Nationalismus Hitler an die Macht gebracht, was hier zum Glück niemand von Anstand vergessen kann und will. Was hier andererseits aber auch gern und fast schon reflexartig verallgemeinert wird. So als ob der Nationalismus immer und überall, aus seinem eigentlichen Wesen heraus in eine völkische, rassistische, faschistische, genozidale Richtung abdrifte. Andere, entgegen gesetzte Erfahrungen vor der Haustür – wie etwa die im Kosovo der 80er und 90er Jahre kommen dagegen schlecht an. Auch hier war der Nationalismus, der Wille zu Sezession von Serbien, die Entscheidung für die staatliche Eigenständigkeit die entscheidende Kraft hinter Regimewechsel und Demokratisierungsprojekt. In der Literatur über die politische Entwicklung vor und nach der Unabhängigkeit der Ukraine ist die Rede von einem „liberalen Nationalismus“ oder „staatsbürgerlichen Nationalismus“. Gefeit gegen die angedeutete Entartung ist er freilich nie.

Und schließlich : Seit der Unabhängigkeit von 1991 ist die strukturell, sozioökonomisch in grundverschiedene Regionen geteilte, wenn man will: gespaltene Ukraine schrittweise zu einem Nationalstaat zusammengewachsen, der von einer klaren Mehrheit der Bevölkerung in allen Regionen getragen wird. Schon vor dem Krieg seit Februar 2022. Mehr noch: die in einer langen Geschichte ausgebildete regionale Zerrissenheit hat es dem Land – man möchte sagen: ironischerweise – ermöglicht, einen eigenständigen demokratischen Pluralismus hervorzubringen. Anders als in der postsowjetischen russischen Republik unter Jelzin, der Panzer auf das Parlament hat schießen lassen, hat sich das Parlament in Kiew von Anfang an nie zu einer Institution des bloßen Abnickens degradieren lassen. (Vgl. auch: Mykola Rjabtschuk, Die reale und die imaginierte Ukraine, 2013) Auch schon vor 2013/14 nicht, also vor der Revolution des „Maidan“, die nach mehr als zwei Jahrzehnten staatlicher Unabhängigkeit dann den Bruch auch mit dem autokratischen Herrschaftsmodell Moskaus brachte. „Bruch“ heißt hier auch: die Entfaltung einer kritischen politischen Öffentlichkeit: die für die Unabhängigkeit der Justiz kämpfen muss, weil sie in der Ukraine noch verweigert wird. Die gegen Korruption kämpfen muss, weil sie auch im neuen Staat noch das gesamte Leben beherrscht, und zwar von ganz oben nach ganz unten. Seit spätestens 2015 kommen auch bei uns die Stimmen dieser Reformforderungen zu Geltung. Wir müssen sie nur hören.

Es gibt da freilich eine besondere Schwerhörigkeit: Die regionalen Gegensätze in der Ukraine – zwischen Lwiw und Donezk, pointiert gesagt – scheint man hier vor allem als „ethnische“, „sprachliche“, „kulturelle“ verstehen zu wollen. So schreibt man sie aber über Gebühr fest und stilisiert sie zu einer kaum noch wandlungsfähigen Mentalität hoch. Statt sie eher politisch aus der jeweils spezifischen imperialen Geschichte der einzelnen Regionen herzuleiten: lange unter den Habsburgern oder endlos lange unter dem zaristischen russischen Reich. Wir haben es da in der deutschen Öffentlichkeit mit einer griffigen Sorte von Halbwissen und Klischeedenken zu tun. Anscheinend muss es heutzutage immer gleich “Kultur“ sein, eine Art zweiter Natur. Darunter tun wir es nicht. Dergleichen Vorurteil ist zählebig. Auch wenn die Propaganda des Kreml unser selbst geschaffenes Zerrbild nicht noch mit aller Macht unterstützte, wie er es seit Jahren tut.

Was der Westen Osteuropa verdankt

Über Philippe Sands: Rückkehr nach Lemberg

Im Osten trifft man auf den Westen, und im Westen auf den Osten. Ersteres ist evident, schon ein fast Gemeinplatz. „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ (Philipp Ther, 2014) ist von Beginn an beobachtet und inzwischen vielfältig bearbeitet worden. Zunächst war sie ja auch so etwas wie ein Triumph für den Westen. Mit der Zeit haben wir auch einiges davon mitbekommen, was die Epochenzäsur von 1989 ff. für die nichtprivilegierten Menschen im Osten Europas bedeutet hat und bedeutet. Was der Umbruch sie an Lebensqualität, Muße, persönlichem Gleichgewicht, Lebensstandard, sozialer Sicherheit gekostet hat und kostet. Für die in Polen hat es uns etwa Andrzej Stasiuk vor Augen geführt, für die Menschen in Russland Swetlana Alexijewitsch. Gereist sind wir dann auch ein bisschen, mit Karl Schlögel als unserem unvergleichlichen Hermes. Aber es geht hier nicht nur um große Literatur, die unsere lebensweltlich verwurzelte und auch in unserem historischen Gedächtnis verankerte Provinzialität als Westeuropäer aufzubrechen vermag. „Was der Westen Osteuropa verdankt“ weiterlesen

Wie wir die Ukraine verraten. (Kleine Dokumentation zur Erinnerung)

Über die Lage in der Ukraine seit Anfang 2014 sind wir gut informiert. Wir haben hier einen Ausnahmejournalisten wie Konrad Schuller von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der immer wieder aus dem Land berichtet – auch über die Lage in den von Russland besetzten Gebieten berichtet. Hautnah, imaginativ, unbestechlich. Über die vom Kreml gesteuerten Kräfte an der Macht wie über ihre rechtlosen Untertanen. Ebenso aber auch über die Ausgrenzungsstrategie Kiews, die vor allem die Rentner in den „Volksrepubliken“ von Donezk und Luhansk trifft. Wir haben hier Lektoren und Herausgeber vom Format Katharina Raabes beim Suhrkamp Verlag und Manfred Sappers von der Zeitschrift „Osteuropa“, denen wir unverzichtbare Textsammlungen wie „Euromaidan“ (2014), „Testfall Ukraine“(2015), „Gefährdete Nachbarschaften – Ukraine, Russland, Europäische Union“ (2015) verdanken. Es erreichen uns authentischen Stimmen aus der Ukraine selbst und unabhängige Beiträge aus anderen Ländern der Region wie Litauen, aber auch aus Russland. Kurz, wir haben alles, was wir als Zeitgenossen, Nichtfachleute, als normale deutsche Bürger zu unserer Orientierung brauchen. Nicht zuletzt die Analysen von Osteuropa-Historikern – darunter auch deutscher, die sich der lange Zeit vorherrschenden, die Ukraine und ihre Geschichte weitgehend ausblendenden Fokussierung der einschlägigen bundesdeutschen Historiographie auf Russland von vornherein entzogen haben wie etwa Andreas Kappeler oder Wilfried Jilge. Oder die sich diesem alten Trend unter dem Eindruck des von Moskau bedrohten und beschädigten Umbruchs in der Ukraine doch heute entziehen wie Karl Schlögel oder Bianka Pietrow-Ennker und Benno Ennker. Inmitten unserer ganzen Aufgeklärtheit sind wir aber selber ein Problem. Wir selbst in unserer Gleichgültigkeit gegenüber dem im Innern nach wie vor umkämpften und von außen, von einer Großmacht mit Gewalt und Krieg überzogenen Demokratieversuch in einem Nachbarland. „Wie wir die Ukraine verraten. (Kleine Dokumentation zur Erinnerung)“ weiterlesen

Widerstand ist immer persönlich

Cover "Widerstand ist immer persönlich"

Neu aufgelegt: Widerstand ist immer persönlich: Gedankenspiele aus der alten Bundesrepublik.

Essays, Vignetten und Gedichte aus den 1980er Jahren – beispielsweise zur Psychiatriereform, RAF, Antifaschismus… und eine damals wie heute schmerzhafte Hinterfragung der linken Identität.

Edition Kritische Wälder, 2017, ISBN 3744896994, Paperback & Ebook (zB bei Amazon)

Erstveröffentlichungen u.a. im „Freibeuter“ (Wagenbach-Verlag), 1979-1989

Primo Levi über die Erinnerung

Ernst Köhler

1.

„Die ersten Berichte über die nationalsozialistischen Vernichtungslager begannen sich im Entscheidungsjahr 1942 zu verbreiten. Sie waren vage, stimmten aber untereinander überein: Sie ließen eine Massenvernichtung von einem derartig großen Ausmaß, von einer so unvorstellbaren Grausamkeit, mit so verworrenen Motivationen deutlich werden, dass die Öffentlichkeit, gerade wegen ihrer Ungeheuerlichkeit, dazu neigte, sie nicht zu glauben. Es ist bezeichnend, dass diese Ungläubigkeit von den Schuldigen selbst lange vorausgesagt wurde. Viele Überlebende erinnern sich daran…, was für ein Vergnügen es den SS-Leuten bereitete, den Häftlingen zynisch vor Augen zu halten: ‚Stellen Sie sich nur vor, Sie kommen in New York an, und die Leute fragen Sie: Wie war es in den deutschen Konzentrationslagern? Was haben sie da mit euch gemacht? Sie würden den Leuten in Amerika die Wahrheit erzählen. Und wissen Sie, was dann geschehen würde? Sie würden Ihnen nicht glauben, würden Sie für wahnsinnig halten, vielleicht sogar in eine Irrenanstalt stecken… Sonderbarerweise taucht dieser Gedanke…in Gestalt nächtlicher Träume aus der Verzweiflung der Häftlinge auf. Beinahe alle erinnern sich, entweder im Gespräch oder in ihren Aufzeichnungen, an einen Traum, der sich in den Nächten der Gefangenschaft häufig einstellte, unterschiedlich in den Einzelheiten, aber im Wesentlichen immer gleichbleibend: Sie waren nach Hause zurückgekehrt, erzählten mit Leidenschaft und Erleichterung einer ihnen nahestehenden Person von den vergangenen Leiden und sähen, dass ihnen nicht geglaubt, ja nicht einmal zugehört würde. In der typischsten (und grausamsten) Version wandte sich der Angesprochene ab und ging schweigend weg.“

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Von der Zurückhaltung zur Verantwortungslosigkeit – was aus der Realpolitik werden kann

(Vortrag, 2015)

Auch eine Außenpolitik der Vorsicht und der Zurückhaltung hat ihre Kosten. Und sie können unerträglich sein – für andere. In drei Schritten: zuerst deute ich an, wo mir selbst die dunkle, entsetzliche Seite des durchaus überlegten, rational begründeten Verzichts auf massive politische oder gar militärische Intervention zum ersten Mal aufgegangen ist – nämlich am Schicksal Bosniens in den jugoslawischen Zerfallskriegen der 1990er Jahre. Wer könnte mehr Verständnis für außenpolitische Mäßigung, Selbstbegrenzung, für die möglichste Vermeidung von anmaßenden, ungedeckten Großmachtambitionen haben als wir Deutschen vor dem Hintergrund unserer Geschichte?  Das wäre mein zweiter Punkt – ein Blick auf die deutsche Außenpolitik nach 1990 und ihre inzwischen vielfach hinterfragte und auch international kritisierte Tendenz zur Selbstentlastung, künstlichen Selbstverkleinerung, Drückebergerei. Abschließend streife ich noch die Politik der Obama-Administration im Nahen und Mittleren Osten. Ich stelle sie in den Kontext jenes Rückzugs aus der Rolle eines „Weltpolizisten“ oder „wohlwollenden Hegemon“, für den Präsident Obama erklärtermaßen steht.

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„Immer sind ja die Wörter schöner als die Geschichte“

Ernst Köhler

Über die neuen Gedichte von Peter Salomon

Salomonbild
Peter Salomon, Die Jahre liegen auf der Lauer. Neue Gedichte, Paperback, 92 S., 12,– € , Eggingen 2012 (Edition Klaus Isele)

Die jetzt erschienenen neuen Gedichte von Peter Salomon weisen eine große Spannweite auf – der Themen, der Formen, der Tonlage. Die ungeniert auseinanderstrebende Fülle wird aber zusammengehalten durch ein immer präsentes, nie erschlaffendes Methodenbewusstsein. Es ist eine Methodik des Experimentierens, des Spiels mit dem Bruch von Klischees und Konventionen – verbrauchten Verfahren des Sehens, Denkens, Empfindens, Schreibens, die diese zentrifugalen Text-Potenzen bändigt und in einen Reigen einbindet. Es gibt kein Gedicht, das nicht die Spuren dieses Zugriffs, dieser destruktiven Arbeit an sich trüge. Peter Salomon gilt als ein Lyriker, der sich dem gegenwärtigen Alltag zuwendet – samt seiner Misere und Qual. Das sagt er auch selbst von sich – allerdings präziser, differenzierter, literarisch versierter wie etwa in der knappen autobiografischen Skizze Wie ich nach Konstanz gekommen bin und warum ich es nicht wieder verlassen habe (Autobiographische Fußnoten, 2009). Aber mögen auch alle die in dieser Lyrik reproduzierten Erinnerungen, Begegnungen, Beobachtungen, Gedanken, Befindlichkeiten einen realen, alltäglichen Anlass, Vorwurf oder Hintergrund haben, sie wirken ausnahmslos gebrochen. Sie sind alle verwandelt. Das Alltagsmaterial muss jeweils zerschlagen worden sein – zerstückelt, bevor es wieder zusammengefügt worden ist. Es sind Konstruktionen, die uns der Autor anbietet – realitätshaltig, erfahrungsgesättigt, sinnenhaft konkretisiert, aber mit Bruchlinien. Richtiger: weltnah, weil sie ihre Künstlichkeit nie vertuschen. Die in der Überschrift dieser Besprechung zitierte Zeile findet sich in dem Gedicht Aus dem Jahr 1978. Sie bringt die Arbeitsweise des Lyrikers Peter Salomon wie nebenbei auf den Punkt.

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