Rassismusvorwürfe im politischen Abseits

Der Ansatzpunkt und bis heute der eigentliche Fokus der neuen vehementen Auseinandersetzung à la „Woke“ oder Cancel Culture“ mit uns selber: mit den vermeintlich verborgenen, vor uns selbst verborgenen, dunklen, schmutzigen Seiten unserer Mentalität ist eine spezifische öffentliche Rassismuskritik. Sie findet Rassismus, in jedem von uns. Sie präsentiert sich als die unnachgiebige Forderung nach einer schonungslosen Selbsterforschung und Selbstentblößung, die längst überfällig sei.

Zur Abwechslung könnte man einmal versuchen, die böse und unversöhnlich umstrittene neue Moral-, Sozial- und Kulturkritik bis dorthin zurück zu verfolgen, wo sie noch genuine Sozialforschung oder Geschichtsschreibung ist. Oder es auch noch ist, wenn die autoritative Stoßrichtung dieser Forschungsleistungen auch schon ideologisch sein sollte – und die Denktraditionen der Aufklärung bereits verlassen. Dann könnte man die anhaltende, wenn nicht wachsende Überzeugungskraft dieser Gedankenwelt vielleicht besser verstehen. Die sich einem eher entziehen, wenn man nur den penetranten Belehrungsanspruch und die Spaltungsstrategie im Auge hat. Wenn die neue Unterdrückungspraxis auf jahrzehntelangen Wegen von links her kommt und aus dem weiten Denkhorizont des sozialen Ausgleichs auf uns herabstößt, weiß man jedenfalls, dass man es hier mit einer Verfälschung, mit einer Perversion zu tun hat. Die Frage wäre dann: Wo genau haben die Geister sich geschieden und die Wege sich getrennt?

Manchmal verläuft alles freilich auch zusammengedrängt, und wir haben die authentische Kritik an empörendem sozialem Unrecht, den kollektiven Widerstand gegen reale Menschenverachtung und seinen Umschlag, seine Verwandlung in eine ganz andere „Bewegung“ oder auch nur Unruhe schön anschaulich und massiv beieinander. Wenn man dem auch bei uns viel gelesenen amerikanischen Journalisten George Parker folgt, war die mächtige Woge von antirassistischen Protesten in den USA nach der Ermordung von George Floyd im Mai 2020 genau ein solcher Fall – vielschichtig und gebrochen:

„Der zündende Funke war ein Video von 5 Minuten und 46 Sekunden, das zeigt, wie ein Schwarzer Mann vom Knie eines kriminell gestörten Polizisten niedergedrückt und erstickt wird. Die Proteste dauerten erst Tage, dann Wochen, dann Monate. An manchen Orten fanden sie gar kein Ende. Sieben Millionen Menschen, vielleicht aber auch 15 oder 26 Millionen Menschen in 2500 Städten haben sich daran beteiligt – die genaue Zahl lässt sich nicht feststellen, dafür waren die Protestzüge zu viele und zu groß. Weltweit gingen die Menschen in mindestens 70 Ländern auf die Straße. Sogar in Vidor, einer Stadt in Texas mit einer berüchtigten Verbindung zum Ku-Klux-Klan knieten weiße Menschen nieder und senkten schweigend das Haupt… Noch nie hatte es in der Geschichte der USA einen Protest dieses Ausmaßes gegeben, wie er sich nach dem Tod von George Floyd erhob… Nach einigen Wochen ebbten die Proteste ab. Die engagiertesten Aktivisten, wie die in Minneapolis, wandten sich wieder der Kärrnerarbeit zu, eine Veränderung im Umgang der Polizei mit Schwarzen Menschen zu bewirken. Einige Regierungsbehörden in den Städten und Bundesstaaten beschäftigten sich mit der Frage, wie man Polizisten besser zur Rechenschaft ziehen und das Justizsystem entsprechend reformieren könnte…Aber der Geist des Protests verschwand nicht. Er verließ die Straßen und zog ein in die Kultur – in Universitäten, Zeitungen, Kunstvereine, Verlagshäuser, gemeinnützige Vereine, Unternehmen und nach Hollywood.
Die Fokussierung auf die Polizeigewalt zog weitere Kreise und verwandelte sich in etwas weniger Greifbares, aber sehr viel Ehrgeizigeres. Etwas nahezu Transhistorisches, das als ‚Antirassismus’ bezeichnet wurde. Für einige Amerikaner, vor allem aus den gebildeten weißen Schichten, wurde der Sommer 2020 die Jahreszeit der weißen Fragilität, der Anti-Blackness, der Reflexion unausgesprochener Vorurteile, der Abrechnung mit dem Rassismus… Diese Form des Engagements verlagerte die Aktivitäten von den armen Stadtvierteln und den Gefängnissen in die Personalabteilungen, die Antidiskriminierungsprogramme…Dieser Sommer zielte weniger auf soziale Reformen als auf einen Bewusstseinswandel. – Die Pandemie verschwand fast völlig aus dem Blickfeld, während Millionen Weiße ein kollektives moralisches Erwachen erlebten, das die Amerikaner in ihrer Geschichte von Zeit zu Zeit überkommt. Diese Erweckungserfahrungen können die Gestalt religiösen Erlebens annehmen, und zwar in einer speziell amerikanischen Spielart mit Sünde, Brandmarkung, Beichte, Buße, Erlösung. Jagd auf Häretiker, Bücherverbrennungen und dem Traum vom Paradies. Solcherart Erweckungserfahrungen vollziehen einen großen Salto rückwärts. Hinweg über die diesseitsgewandten Philosophen des 18.Jahrhunderts und unsere säkularen, rationalistischen Gründerväter, um schließlich bei unseren Ursprüngen zu landen, unseren puritanischen Vorfahren.“ (George Parker, Die letzte beste Hoffnung. Zum Zustand der Vereinigten Staaten, Hamburg 2021, S. 60 ff.),

Wer sich in diese archaische Welt, die anscheinend nicht ganz versinken will, hineindenken möchte, kann es über ein Meisterwerk der amerikanischen Literatur aus dem 19. Jahrhundert tun: Nathaniel Hawthorne, The Scarlet Letter. A Romance (1850, dt. Der scharlachrote Buchstabe, dtv 2021, wunderbar übersetzt von Jürgen Bocan). Hier ist es eine junge Frau, die wegen eines unehelichen Kindes öffentlich buchstäblich an den Pranger gestellt wird. Und dann in einem Leben Rande dieser steinern-patriarchalischen Pioniergesellschaft über sich hinauswächst. Nur begleitet von ihrer frühreifen, unbestechlichen kleinen Tochter. Während der Vater des Kindes, ein Geistlicher und ausgerechnet der charismatische spirituelle Führer der kleinen abgelegenen Waldgemeinde in ihren selbst gezimmerten Blockhäusern, fast sein ganzes Leben braucht, ehe er dazu zu stehen vermag.

II.

Das ist Amerika, das sind nicht wir. Hier kann die Polizei nicht einfach routinemäßig auf offener Straße Menschen umbringen. Und es gibt bei uns keine „neuen Puritaner“. Dennoch: ließe sich nicht aus den hier so trefflich skizzierten beiden Phasen der Rassismuskritik im Amerika von 2020 auch etwas für uns selbst lernen – über alle politischen, kulturellen und ideologischen Unterschiede hinweg? Vielleicht so: hohe Ansprüche an die persönliche Gewissenserforschung: an die eigene moralische Integrität, Vorurteilsfreiheit, Sensibilität für jede Form von sozialer Benachteiligung und Ausgrenzung – bei gleichzeitiger Flucht aus der Politik: Rückzug von jeder sozialpolitischen Front; von jedem Machtkampf um die Durchsetzung von sozialen Reformen in einer unregulierten, entfesselten kapitalistischen Gesellschaft? Gibt es nicht auch hier eine Mittelschicht, meist Leute mit höherer Bildung, die an ihrer Weltoffenheit arbeiten mögen, an ihrem kosmopolitischen Humanismus, an ihrem Respekt für den Anderen – bei doch gleichzeitigem Desinteresse am alltäglichen Klassenkampf, der überall die werte Innerlichkeit umgibt und umlagert.?

Das Angriffsobjekt der hier gemeinten, sehr speziellen Suche und Jagd nach versteckten, unterschwelligen, oft unbewussten, aber immer opferreichen Formen von Rassismus ist die westliche Gesellschaft in toto, nicht mehr und nicht weniger. Es ist die westliche Demokratie, die aus dieser Sicht ihre heiligen Werte im Alttagsleben allesamt verrät und mit Füßen tritt. Wenn auch wie blind, wie geistesabwesend, wie nebenbei – eher aus Gewohnheit, aus einer habituellen Stumpfheit, Unterentwicklung, Verwahrlosung des Denkens und Fühlen heraus denn aus Hass und Fanatismus. Nach dieser zeitkritischen Diagnose haben wir uns achtlos zu einer Gesellschaft ohne Interesse, ohne Einfühlung, ohne Imagination für das viele Leid gemacht, das wir täglich anrichten.

Die gedankliche Basis für diesen Frontalangriff auf unsere angeblich doppelbödige, abgründige Normalität ist bereits vor Jahrzehnten ausgearbeitet worden: in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Es war ein Umbruch, der die bis dahin noch irgendwie als tragend, wenn nicht als alternativlos verstandenen Vorstellungen vom Funktionieren unserer Gesellschaft, von einer legitimen politischer Ordnung, von einem demokratisch und rechtstaatlich verfassten Gemeinwesen angetastet und zu demolieren versucht hat. Hier eine Einschätzung, die seinen Hintergründen und seiner Reichweite gerecht werden könnte:

„Um 1950 kam es in Europa zu einer Reihe von tiefgreifenden sozialen Veränderungen. Die beiden Weltkriege hatten das Vertrauen der Europäer in den Fortschritt nachhaltig und Angst vor der Macht der Technik geschürt. Die intellektuelle Linke in Europa betrachtete den Liberalismus und die westliche Industriegesellschaft mit neuer Skepsis, schließlich hatten sie, nicht zuletzt aufgrund der Stimmen verelendeter Wähler, den Aufstieg des Faschismus zugelassen und damit die verhängnisvolle Entwicklung überhaupt erst eingeleitet. Imperien waren untergegangen, und der Kolonialismus war für die meisten Menschen moralisch kompromittiert. Die Bewohner der ehemaligen Kolonien migrierten in die westlichen Gesellschaften, was linke Intellektuelle dazu veranlasste, ethnischen oder kulturellen Ungleichheiten mehr Aufmerksamkeit und zu widmen und sich insbesondere mit Machstrukturen auseinanderzusetzen, die diese beförderten. Die Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten und Aktivismus im Namen von Frauen und Homosexuellen erhielten mehr und mehr Unterstützung in der Öffentlichkeit, während die Ernüchterung über den orthodoxen Marxismus – bisher der große gemeinsame Nenner der Linken im Kampf für soziale Gerechtigkeit – innerhalb der politischen und kulturellen Linken zunahmen. Angesichts der katastrophalen Auswirkungen des Kommunismus, die sich in allen kommunistisch regierten Staaten zeigten, war diese Desillusionierung nur allzu begründet und führte zu einer radikalen Neujustierung der Weltsicht der linken kulturellen Elite. In der Folge geriet auch das Vertrauen in die Wissenschaft, die zu diesem Zeitpunkt noch in jeder Hinsicht im Aufstieg begriffen war, zum ersten Mal ins Wanken; gerade die Wissenschaft hatte ja dazu beigetragen, die zuvor undenkbaren Gräuel des 20.Jahrhunderts überhaupt zu ermöglichen und zu rechtfertigen…“ (Helen Pluckrose und James Lindsay, Zynische Theorien, München 2022, S.24 f. Der erhellenden Studie folge ich auch in den nächsten Abschnitten.)

Eine Reihe illustrer französischer Denker der ersten Nachkriegsjahrzehnte, wie vor allem Michel Foucault und Jean-Francois Lyotard, haben sich dieser Zäsur in ihren Werken kühn und originell gestellt. Einerseits, und sind andererseits doch hoffnungslos weit hinter ihr zurückgeblieben. Beantwortet dieser„Postmodernismus“ doch die umfassende Erschütterung und Desillusionierung zahlloser Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem im Kern superskeptischen, defätistischen Welt- und Gesellschaftsbild. Jeglicher politischer Imperativ scheint darin weggedacht, gekappt. Ein fast unabsehbar komplexes und weitgespanntes reales Szenarium der Trauer, der Erbitterung, der Auflehnung, das an allen Ecken und Kanten nach politischem Handeln geradezu schreit – nach Intervention: selbstbestimmt, organisiert, von unten noch oben, von außen nach innen – sieht sich hier theoretisch sozusagen stillgelegt, wie eingefroren. Man denke nur an Foucault. Es gibt hier allgegenwärtige, systemisch miteinander vernetzte und verklammerte sozialer Machtsysteme. Überall Hierarchien und Komplexe von Unterdrückungsroutinen, gegen die offenbar nichts ankommt: ein individueller Mensch ohnehin nicht, aber auch kein Kollektiv von Menschen, keine Reformanstrengung. Nirgendwo, in der Schule nicht, in der Klinik nicht. Von der Justiz ganz zu schweigen. Von den Sozialwissenschaften an den Universitäten ganz zu schweigen. Die Sprache ist gewissermaßen die Machtsapparatur der Machtapparaturen. Gleichsam der Treibriemen dieses monströsen, maschinenhaften Ganzen. Sie sagt uns oder spricht uns vor, wer wir sind, wo wir stehen und wie wir unser Umfeld zu sehen haben. Wie wir die anderen zu sehen haben. Die über uns, aber vor allem die unter uns. Kurz: sie sagt uns, wie wir über unser Denken zu denken haben.

Wenn das unsere Demokratie ist, dann gibt es sie nicht. Dann ist sie eine Illusion, ein hohler Traum. Dann ist sie in Wirklichkeit totalitär. Diese Diagnose, die zunächst ganz außer Mode geraten war und fast vergessen, muss in der den 90er und 2000er Jahren wieder an Boden gewonnen haben. Heute ist sie jedenfalls wieder voll präsent, nicht nur an den Universitäten der USA.

III.

Wenn ich hier eine persönlichen Anmerkung einfügen darf: Einige der Älteren unter uns müssen sich heute eingestehen, dass sie diese vernichtende Abwertung unseres sozialen Zusammenlebens und politischen Systems zunächst überhaupt nicht verstanden haben. So auch ich meinen Foucault und seine philosophische Fragwürdigkeit nicht. Alles, was ich vor einem halben Jahrhundert von ihm gelesen habe, stand für mich im Zeichen von Psychiatriegeschichte und der damals vieldiskutierten „Psychiatriereform“. Es war grob gesagt ein „68er“ Thema. Die inzwischen – international – so machtvoll zur Geltung kommende zynisch-perspektivlose Bild, Zerrbild von unserer wie immer defizitären, deformierten, beschädigten Demokratie, das Foucault da zeichnet, muss ich abgewehrt haben: überflogen oder einfach beiseite gefegt. Das Bild war einfach zu schwarz. Der gewählte zeitgeschichtliche Gegenstand war stärker. Ich habe damals Foucault für meine Zwecke und Forschungsinteressen – das Schicksal der „Geisteskranken“ im modernen Europa – vereinnahmt. Und einen radikalen, bahnbrechenden Aufklärer aus ihm gemacht. Ganz im Sinne der damaligen „emanzipatorisch“ ausgerichteten Revolte gegen die aus unserer Sicht nur halbe, schwer unfertige oder auch früherstarrte, frühverfälschte westdeutsche Demokratie. Heute, da der derselbe Denker, dasselbe Opus dazu herhalten muss, eine ganze Inflation von Unterdrückungsvorwürfen zu begründen – und in ihrer Militanz zu legitimieren, kommt einem das alte Missverständnis doch naiv und kurzschlüssig vor.

Immerhin wird man fragen dürfen, wie das denn zusammenpassen soll: einen Denker wie Michel Foucault endlich einmal genau, unbefangen lesen; seinen Bruch, seine Abrechnung mit dem Fortschrittsgedanken der Aufklärung und

und der ihm folgenden sozialen Bewegungen nicht länger vertuschen; ihm keine Vision von einer besseren Welt andichten – ihn dann aber zugleich und in einem Atemzug für eine missionarische Kampagne ausschlachten: für weniger Repression, für weniger Diskriminierung, für weniger Erniedrigung, für mehr soziale Gerechtigkeit in der Welt? Oder wenigstens erst mal bei uns, in den westlichen Gesellschaften? Wie kann ein politischer und moralischer Aktivismus überhaupt an sich selbst glauben, der sich auf einen dermaßen entmutigenden, geschlossenen Strukturalismus beruft und stützt? Auf eine Gesellschaftsanalyse, die – mit Hannah Arendt zu sprechen – den handelnden Menschen und seine Fähigkeit zum praktischen Neuanfang verschwinden lässt?

Nicht zu unterschlagen wäre aber auch: Ungeachtet der wirren, theoretisch gesehen geradezu paradox verqueren Ausstattung und Vorbereitung dieser gegenwärtig so auftrumpfenden Protestkultur auf die selbstgestellte , überaus ehrgeizige Aufgabe: ohne sie gäbe es gewisse Fragestellungen, Beobachtungen und Einsichten vermutlich gar nicht. Hervorzuheben wäre hier das Konzept der „Intersektionalität“, wie es die amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw auch schon vor drei Jahrzehnten formuliert hat (1991):

„Intersektionalität ist die zutreffende Diagnose, dass Menschen besonders stark diskriminiert werden können, wenn sich bei ihnen mehrere unterdrückte Identitäten kreuzen – beispielsweise, wenn sie schwarz und weiblich sind – , und dass die derzeitige Gesetzgebung dieser Form der Diskriminierung nicht ausreichend Rechnung trage. Crenshaw merkt an, dass etwa legale Diskriminierung schwarzer Frauen durch ein Unternehmen möglich sei, das zwar viele schwarze Mitarbeiter und weiße Frauen, aber so gut wie keine schwarzen Frauen einstelle. Sie konstatiert außerdem zu Recht, dass sich intersektionale Identitätsgruppen spezifischen Vorurteilen ausgesetzt sehen. Demzufolge könnte eine schwarze Frau sich den üblichen Vorurteilen gegenübersehen, die mit Schwarz-Sein und mit Frau-Sein einhergehen, wäre darüber hinaus aber noch mit zusätzlichen Vorurteilen behaftet, die ausschließlich schwarze Frauen betreffen.“ (Helen Pluckrose/ James Lindsay, a.a.O., S. 61).

Wir haben hier einen originären Text in der Tradition des „Woke“-Diskurses vor uns. Nur liest er sich wie ein linksliberaler Reformvorschlag. Der Bezug zur staatlichen Innern- und Sozialpolitik ist jedenfalls noch nicht zerrissen. Die Fokussierung auf „Identitäten“ – auf die Identität der Opfer von multipler Ausgrenzung – hier: Frau, schwarz, arm – ist noch nicht verzweifelt, noch nicht so steril und ohnmächtig moralisierend. Sie sieht sich hier noch nicht als eine Sisyphus-Arbeit in einer als irreparabel verdorbenen betrachteten Gesellschaft. Die niemals eine menschlicheres Gemeinwesen aus sich hervorbringen wird. Kurz, es ist noch keine Demaskierung von uns allen, der immer wieder nur neue Entlarvungen folgen müssen – bis ins Unendliche. Es ist hingegen ein öffentlicher Appell, die Gesetzeslage zu überdenken und den Rechtsstaat durchzusetzen. Genau hier – falls dieser Zugriff, diese konkrete Reformabsicht nämlich aufgegeben wird – scheiden sich die Geister.