Gedenken gegen Erinnerung

Was man etwas vorschnell unsere „Zeitenwende“ genannt hat, in der wir auf einmal aus einer jahrzehntelangen bundesdeutschen Selbstbezogenheit „aufgewacht“ seien – einfacher gesagt: der russische Vernichtungskrieg gegen die Ukraine – zwingt uns zumindest eine geschichtliche Horizonterweiterung auf. Und konfrontiert uns so auch mit politischen Verhältnissen, in denen das Gedenken die Erinnerung nicht anregt, stützt und fördert, sondern sie im Gegenteil verschüttet und vernichtet. Einen exemplarischen Fall dafür bietet der amerikanische Historiker Charles King in seiner subtilen, auch literarisch herausragenden Geschichte der Stadt Odessa, die jetzt auch auf Deutsch vorliegt. (Odessa. Leben und Tod in eine Stadt der Träume, 2023, Edition Tiamat). Auf Grund ihrer für den Handel und Fernhandel günstigen geografischen Lage, ihrer multiethnischen Zugänglichkeit und soziökonomischen wie kulturellen Liberalität entwickelte sich die Stadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Metropole des regionalen und gesamtrussischen jüdischen Bürgertums und Großbürgertums. Das sich hier einmal nicht nur geduldet sah, sondern auch politisch präsent war, das heißt: über Einfluss und Macht verfügte und in mancher Hinsicht das letzte Wort hatte.

Wer sich in den Untergang dieser einzigartigen jüdischen Prominenz und Dominanz im frühen 20. Jahrhundert einfühlen möchte, kommt nicht an einem ihrer großen Schriftsteller vorbei: an dem Vordenker des Zionismus Vladimir Jabotinsky und seinem autobiografisch grundierten Roman „Die Fünf“ (1935, auf Deutsch 2012, Die Andere Bibliothek) Das Werk mag hierzulande nicht zum Kanon der Großen Literatur zählen, es ist ein Meisterwerk der modernen Weltliteratur.

Aber hier geht es schon nicht mehr um Niedergang, Abstieg und Zerfall zwischen Spätzarismus, Erstem Weltkrieg und bolschewistischer Revolution. Sondern bereits um Ausrottung. Um die systematische Verfolgung, Vertreibung, Deportation und Ermordung der jüdischen Bürger von Odessa im Zweiten Weltkrieg. Wie sie in diesem Fall nicht direkt von den Nazis, sondern in Übereinstimmung mit Hitler-Deutschland von der rumänischen Besatzungsmacht durchgeführt worden ist. Und wie sie dann nach dem Zweiten Weltkrieg von den Entscheidungsträgern der siegreichen Sowjetunion im Interesse und im Zuge propagandistischer Systemstabilisierung und politisch- ideologischer Selbstverherrlichung so gut wie wegmanipuliert wird. Charles King zeigt in großer Dichte, Quellennähe und begrifflicher Feinheit auf, wie aus der realen Stadt, die unter dem Druck totalitärer Gewaltherrschaft stand, jetzt eine strahlende sowjetische „Heldenstadt“ gemacht wird.

Zum Beispiel in erbaulichen, amüsanten und sentimentalen Kriegsfilmen – mit so tapferen wie treuherzigen und gemütsvollen jungen Soldaten in den Hauptrollen, an denen sich ganz Russland erfreut und erwärmt – verschwindet die Stadt, die sich angstvoll anpasst; die sich notgedrungen unterwirft; die mit der faschistischen Macht in allen möglichen Varianten kollaboriert; die sich im durchaus typischen und massenhaften Phänomen der Denunziation kompromittiert. „Aber ‚Odessa-Mama’ – die verheißungsvolle und herzliche Mutterstadt, die von sowjetischen Schlagersängern und Schriftstellern gepriesen wurde – diente nun dazu, die schwierigen Realitäten, die den Ort in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts geprägt hatten, auszublenden. Die sowjetische Version des Odessa-Patriotismus überdeckte eine dunkle Vergangenheit: die unausweichliche Tatsache, dass das jüdische Erbe, das nun zumeist in verschlüsselter Form zelebriert wurde – in zahllosen Geschichten, Romanen, Theaterstücken, Filmen, Witzbüchern, Konzerten, Musicals und anderen Schmähungen – im Gedächtnis derer, die es wiederherstellen wollten, ausgelöscht worden war.“

Das Gedenken ist hier nur Kitsch, Nostalgie, Lüge. Wir hatten nach dem Krieg entschieden mehr Glück als unsere sowjetischen Zeitgenossen. Anders als sie hatten wir die Chance, eine vertretbare, eine im Ansatz um Aufklärung bemühte Erinnerungskultur aufzubauen. Wenn wir auch Jahrzehnte gebraucht haben, eher wir uns in unserem Denken und Lernen an die realen Orte der deutschen Verbrechen in Osteuropa begeben haben. In Westdeutschland jedenfalls. Auch für die von sich selbst so überzeugten „68er“ war die Frage lange Jahre immer nur gewesen: Warum hatte der Nationalsozialismus in Deutschland an die Macht kommen können? „Auschwitz“ war eine Chiffre, ein Symbol, keine konkrete Wirklichkeit.

Inzwischen, mit der Invasion Russland in die Ukraine, ist dieser Standardblick auf unsere Zeitgeschichte fragwürdig geworden. Er ist besser gesagt erschüttert worden. Heute wird sich kaum mehr jemand bei uns etwas auf unsere „Vergangenheitsbewältigung“ einbilden – so viel ernstgemeinte internationale Anerkennung sie auch gefunden hat. Was selbst die ukrainischen Großstädte betrifft – abgesehen vielleicht nur von Kiew-, sind die deutschen Verbrechen vor Ort hierzulande bis heute Neuland unserer Erinnerung. Auch für viele historisch interessierte und verantwortungsbewusste deutsche Bürger. Es handelt sich um eine tief verankerte, in unserem Horizont, in unserer halbierten Integrität, in unserem Bild von der Welt, in unserem Begriff von Europa angelegte Ignoranz. Unser eingeübtes, etabliertes Gedenken an die Deutschen den Zweiten Weltkrieg war und ist kein Lug und Trug. Aber es war und ist doch selektiv, und zwar verbohrt selektiv. Es war und ist verkrüppelt. So, wie es ist, kann es keinesfalls Bestand haben. Es für die erreichbare, unerschlossene, gleichsam brachliegende, wartende Erinnerung aufzuschließen, bleibt die Aufgabe.

Zivilgesellschaft im Krieg: die neue Ukraine

Jede Demokratie, die den Namen verdient, ist unzufrieden mit sich selbst. Das ist ihre Crux oder besser gesagt ihr Markenzeichen. Sie weiß, dass sie erst am Anfang steht – sei es nun im Vorgriff auf neue Dimensionen ihrer Selbstverwirklichung und Ausgestaltung. Oder eben in der Abwehr von Rückbildung, Versagen und Betrug. Immer sieht sie sich damit konfrontiert, dass ihre Aufgaben größer sind als ihre Errungenschaften. So alt und ehrwürdig sie sein mag. Und die ukrainische Demokratie ist noch jung. Wer aus Deutschland kurz nach dem „Maidan“ von 2013/2014 in Kiew oder Charkiw war, konnte diesen basis-demokratischen Vektor, diese innere Front mit Händen greifen: die unnachgiebige Reformforderung von unten an die Adresse der Institutionen des Staates; die zornige, erbitterte Zurückweisung der sich nach wie vor überall zäh behauptenden oder wiederherstellenden alten Machtverhältnisse. So im Gespräch mit überlebenden Akteuren der gewalthaften Auseinandersetzung auf dem Maidan, die bekanntlich viele Tote gefordert hatte. Sie haben den Besuchern gegenüber die glatte, anhaltende Obstruktion der Justiz in ihren Fällen herausgearbeitet. 2015 jedenfalls war der demokratische Rechtsstaat für diese Kämpfer noch bloße Zukunftsmusik.

Inzwischen hat der russische Vernichtungskrieg gegen die Ukraine die innenpolitische Konfliktsituation des Landes in einen „Nebel“ gehüllt, wie man es treffend genannt hat. Wenn sie plötzlich doch einmal wieder auffliegt, wie kürzlich mit der Weltnachricht über bestechliche hohe Richter inmitten ihrer Geldbündel, sind wir als Beobachter von außen gefordert. Dem Gefühl der Enttäuschung sollten wir uns nicht überlassen. Es hätte etwas Pharisäerhaftes. Die Anteilnahme am Schicksal dieses Landes und die Hochachtung vor dem Freiheitskampf seiner Bürger ist etwas anderes als ein Heldenkult. Der immer parat steht und niemals mehr ist als eine süffige Masche.

Solidarität verlangt eher eine nüchterne Vergegenwärtigung der zwingenden praktischen Probleme, vor die sich diese Zivilgesellschaft im Krieg gestellt sieht. Sie ist dabei nach wie vor weitgehend auf sich selbst und ihre Eigenverantwortung zurückverwiesen. Anders als wir in unserem ausgearbeiteten, etablierten Staatswesen, an das wir vieles delegieren können – gewohnheitsmäßig und auch ungestraft.

Wie geht man etwa mit den vielen „Kollaborateuren“ in den von den Besatzern befreiten Gebieten um? Das muss in dieser um ihr schieres Überleben in Selbstbestimmung kämpfenden Gesellschaft eine große, heiße, schmerzhafte Frage sein. Lokal, regional in jedem einzelnen Fall. Wie ist hier das Recht zu wahren und zu schützen? Wer ist überhaupt ein „Verräter“? Der Arzt, die Krankenschwester, der Lehrer, die unter den Russen weiter ihre Arbeit gemacht haben? Es gab offenbar unbeugsame Oberbürgermeister, die im Interesse der ihnen anvertrauten Städte im Amt blieben. Ohne sich zu prostituieren. Unzweifelhafte, zynische Kollaboration mit den Invasoren reichte hingegen offenbar bis hoch hinauf im Machtsystem der Ukraine, bis in die Spitzen der ukrainischen Geheimdienste. Der noch ungefestigte ukrainische Rechtstaat steht vor einem enormen neuen Leistungstest: Mitten in einem leidenschaftlich angespannten, aufgereizten politischen Klima muss er vertretbare, tragfähige Unterscheidungen und Urteilskriterien erarbeiten. Nicht nur im Blick auf den erstrebten EU-Beitritt.

Rassismusvorwürfe im politischen Abseits

Der Ansatzpunkt und bis heute der eigentliche Fokus der neuen vehementen Auseinandersetzung à la „Woke“ oder Cancel Culture“ mit uns selber: mit den vermeintlich verborgenen, vor uns selbst verborgenen, dunklen, schmutzigen Seiten unserer Mentalität ist eine spezifische öffentliche Rassismuskritik. Sie findet Rassismus, in jedem von uns. Sie präsentiert sich als die unnachgiebige Forderung nach einer schonungslosen Selbsterforschung und Selbstentblößung, die längst überfällig sei.

Zur Abwechslung könnte man einmal versuchen, die böse und unversöhnlich umstrittene neue Moral-, Sozial- und Kulturkritik bis dorthin zurück zu verfolgen, wo sie noch genuine Sozialforschung oder Geschichtsschreibung ist. Oder es auch noch ist, wenn die autoritative Stoßrichtung dieser Forschungsleistungen auch schon ideologisch sein sollte – und die Denktraditionen der Aufklärung bereits verlassen. Dann könnte man die anhaltende, wenn nicht wachsende Überzeugungskraft dieser Gedankenwelt vielleicht besser verstehen. Die sich einem eher entziehen, wenn man nur den penetranten Belehrungsanspruch und die Spaltungsstrategie im Auge hat. Wenn die neue Unterdrückungspraxis auf jahrzehntelangen Wegen von links her kommt und aus dem weiten Denkhorizont des sozialen Ausgleichs auf uns herabstößt, weiß man jedenfalls, dass man es hier mit einer Verfälschung, mit einer Perversion zu tun hat. Die Frage wäre dann: Wo genau haben die Geister sich geschieden und die Wege sich getrennt?

Manchmal verläuft alles freilich auch zusammengedrängt, und wir haben die authentische Kritik an empörendem sozialem Unrecht, den kollektiven Widerstand gegen reale Menschenverachtung und seinen Umschlag, seine Verwandlung in eine ganz andere „Bewegung“ oder auch nur Unruhe schön anschaulich und massiv beieinander. Wenn man dem auch bei uns viel gelesenen amerikanischen Journalisten George Parker folgt, war die mächtige Woge von antirassistischen Protesten in den USA nach der Ermordung von George Floyd im Mai 2020 genau ein solcher Fall – vielschichtig und gebrochen:

„Der zündende Funke war ein Video von 5 Minuten und 46 Sekunden, das zeigt, wie ein Schwarzer Mann vom Knie eines kriminell gestörten Polizisten niedergedrückt und erstickt wird. Die Proteste dauerten erst Tage, dann Wochen, dann Monate. An manchen Orten fanden sie gar kein Ende. Sieben Millionen Menschen, vielleicht aber auch 15 oder 26 Millionen Menschen in 2500 Städten haben sich daran beteiligt – die genaue Zahl lässt sich nicht feststellen, dafür waren die Protestzüge zu viele und zu groß. Weltweit gingen die Menschen in mindestens 70 Ländern auf die Straße. Sogar in Vidor, einer Stadt in Texas mit einer berüchtigten Verbindung zum Ku-Klux-Klan knieten weiße Menschen nieder und senkten schweigend das Haupt… Noch nie hatte es in der Geschichte der USA einen Protest dieses Ausmaßes gegeben, wie er sich nach dem Tod von George Floyd erhob… Nach einigen Wochen ebbten die Proteste ab. Die engagiertesten Aktivisten, wie die in Minneapolis, wandten sich wieder der Kärrnerarbeit zu, eine Veränderung im Umgang der Polizei mit Schwarzen Menschen zu bewirken. Einige Regierungsbehörden in den Städten und Bundesstaaten beschäftigten sich mit der Frage, wie man Polizisten besser zur Rechenschaft ziehen und das Justizsystem entsprechend reformieren könnte…Aber der Geist des Protests verschwand nicht. Er verließ die Straßen und zog ein in die Kultur – in Universitäten, Zeitungen, Kunstvereine, Verlagshäuser, gemeinnützige Vereine, Unternehmen und nach Hollywood.
Die Fokussierung auf die Polizeigewalt zog weitere Kreise und verwandelte sich in etwas weniger Greifbares, aber sehr viel Ehrgeizigeres. Etwas nahezu Transhistorisches, das als ‚Antirassismus’ bezeichnet wurde. Für einige Amerikaner, vor allem aus den gebildeten weißen Schichten, wurde der Sommer 2020 die Jahreszeit der weißen Fragilität, der Anti-Blackness, der Reflexion unausgesprochener Vorurteile, der Abrechnung mit dem Rassismus… Diese Form des Engagements verlagerte die Aktivitäten von den armen Stadtvierteln und den Gefängnissen in die Personalabteilungen, die Antidiskriminierungsprogramme…Dieser Sommer zielte weniger auf soziale Reformen als auf einen Bewusstseinswandel. – Die Pandemie verschwand fast völlig aus dem Blickfeld, während Millionen Weiße ein kollektives moralisches Erwachen erlebten, das die Amerikaner in ihrer Geschichte von Zeit zu Zeit überkommt. Diese Erweckungserfahrungen können die Gestalt religiösen Erlebens annehmen, und zwar in einer speziell amerikanischen Spielart mit Sünde, Brandmarkung, Beichte, Buße, Erlösung. Jagd auf Häretiker, Bücherverbrennungen und dem Traum vom Paradies. Solcherart Erweckungserfahrungen vollziehen einen großen Salto rückwärts. Hinweg über die diesseitsgewandten Philosophen des 18.Jahrhunderts und unsere säkularen, rationalistischen Gründerväter, um schließlich bei unseren Ursprüngen zu landen, unseren puritanischen Vorfahren.“ (George Parker, Die letzte beste Hoffnung. Zum Zustand der Vereinigten Staaten, Hamburg 2021, S. 60 ff.),

Wer sich in diese archaische Welt, die anscheinend nicht ganz versinken will, hineindenken möchte, kann es über ein Meisterwerk der amerikanischen Literatur aus dem 19. Jahrhundert tun: Nathaniel Hawthorne, The Scarlet Letter. A Romance (1850, dt. Der scharlachrote Buchstabe, dtv 2021, wunderbar übersetzt von Jürgen Bocan). Hier ist es eine junge Frau, die wegen eines unehelichen Kindes öffentlich buchstäblich an den Pranger gestellt wird. Und dann in einem Leben Rande dieser steinern-patriarchalischen Pioniergesellschaft über sich hinauswächst. Nur begleitet von ihrer frühreifen, unbestechlichen kleinen Tochter. Während der Vater des Kindes, ein Geistlicher und ausgerechnet der charismatische spirituelle Führer der kleinen abgelegenen Waldgemeinde in ihren selbst gezimmerten Blockhäusern, fast sein ganzes Leben braucht, ehe er dazu zu stehen vermag.

II.

Das ist Amerika, das sind nicht wir. Hier kann die Polizei nicht einfach routinemäßig auf offener Straße Menschen umbringen. Und es gibt bei uns keine „neuen Puritaner“. Dennoch: ließe sich nicht aus den hier so trefflich skizzierten beiden Phasen der Rassismuskritik im Amerika von 2020 auch etwas für uns selbst lernen – über alle politischen, kulturellen und ideologischen Unterschiede hinweg? Vielleicht so: hohe Ansprüche an die persönliche Gewissenserforschung: an die eigene moralische Integrität, Vorurteilsfreiheit, Sensibilität für jede Form von sozialer Benachteiligung und Ausgrenzung – bei gleichzeitiger Flucht aus der Politik: Rückzug von jeder sozialpolitischen Front; von jedem Machtkampf um die Durchsetzung von sozialen Reformen in einer unregulierten, entfesselten kapitalistischen Gesellschaft? Gibt es nicht auch hier eine Mittelschicht, meist Leute mit höherer Bildung, die an ihrer Weltoffenheit arbeiten mögen, an ihrem kosmopolitischen Humanismus, an ihrem Respekt für den Anderen – bei doch gleichzeitigem Desinteresse am alltäglichen Klassenkampf, der überall die werte Innerlichkeit umgibt und umlagert.?

Das Angriffsobjekt der hier gemeinten, sehr speziellen Suche und Jagd nach versteckten, unterschwelligen, oft unbewussten, aber immer opferreichen Formen von Rassismus ist die westliche Gesellschaft in toto, nicht mehr und nicht weniger. Es ist die westliche Demokratie, die aus dieser Sicht ihre heiligen Werte im Alttagsleben allesamt verrät und mit Füßen tritt. Wenn auch wie blind, wie geistesabwesend, wie nebenbei – eher aus Gewohnheit, aus einer habituellen Stumpfheit, Unterentwicklung, Verwahrlosung des Denkens und Fühlen heraus denn aus Hass und Fanatismus. Nach dieser zeitkritischen Diagnose haben wir uns achtlos zu einer Gesellschaft ohne Interesse, ohne Einfühlung, ohne Imagination für das viele Leid gemacht, das wir täglich anrichten.

Die gedankliche Basis für diesen Frontalangriff auf unsere angeblich doppelbödige, abgründige Normalität ist bereits vor Jahrzehnten ausgearbeitet worden: in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Es war ein Umbruch, der die bis dahin noch irgendwie als tragend, wenn nicht als alternativlos verstandenen Vorstellungen vom Funktionieren unserer Gesellschaft, von einer legitimen politischer Ordnung, von einem demokratisch und rechtstaatlich verfassten Gemeinwesen angetastet und zu demolieren versucht hat. Hier eine Einschätzung, die seinen Hintergründen und seiner Reichweite gerecht werden könnte:

„Um 1950 kam es in Europa zu einer Reihe von tiefgreifenden sozialen Veränderungen. Die beiden Weltkriege hatten das Vertrauen der Europäer in den Fortschritt nachhaltig und Angst vor der Macht der Technik geschürt. Die intellektuelle Linke in Europa betrachtete den Liberalismus und die westliche Industriegesellschaft mit neuer Skepsis, schließlich hatten sie, nicht zuletzt aufgrund der Stimmen verelendeter Wähler, den Aufstieg des Faschismus zugelassen und damit die verhängnisvolle Entwicklung überhaupt erst eingeleitet. Imperien waren untergegangen, und der Kolonialismus war für die meisten Menschen moralisch kompromittiert. Die Bewohner der ehemaligen Kolonien migrierten in die westlichen Gesellschaften, was linke Intellektuelle dazu veranlasste, ethnischen oder kulturellen Ungleichheiten mehr Aufmerksamkeit und zu widmen und sich insbesondere mit Machstrukturen auseinanderzusetzen, die diese beförderten. Die Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten und Aktivismus im Namen von Frauen und Homosexuellen erhielten mehr und mehr Unterstützung in der Öffentlichkeit, während die Ernüchterung über den orthodoxen Marxismus – bisher der große gemeinsame Nenner der Linken im Kampf für soziale Gerechtigkeit – innerhalb der politischen und kulturellen Linken zunahmen. Angesichts der katastrophalen Auswirkungen des Kommunismus, die sich in allen kommunistisch regierten Staaten zeigten, war diese Desillusionierung nur allzu begründet und führte zu einer radikalen Neujustierung der Weltsicht der linken kulturellen Elite. In der Folge geriet auch das Vertrauen in die Wissenschaft, die zu diesem Zeitpunkt noch in jeder Hinsicht im Aufstieg begriffen war, zum ersten Mal ins Wanken; gerade die Wissenschaft hatte ja dazu beigetragen, die zuvor undenkbaren Gräuel des 20.Jahrhunderts überhaupt zu ermöglichen und zu rechtfertigen…“ (Helen Pluckrose und James Lindsay, Zynische Theorien, München 2022, S.24 f. Der erhellenden Studie folge ich auch in den nächsten Abschnitten.)

Eine Reihe illustrer französischer Denker der ersten Nachkriegsjahrzehnte, wie vor allem Michel Foucault und Jean-Francois Lyotard, haben sich dieser Zäsur in ihren Werken kühn und originell gestellt. Einerseits, und sind andererseits doch hoffnungslos weit hinter ihr zurückgeblieben. Beantwortet dieser„Postmodernismus“ doch die umfassende Erschütterung und Desillusionierung zahlloser Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem im Kern superskeptischen, defätistischen Welt- und Gesellschaftsbild. Jeglicher politischer Imperativ scheint darin weggedacht, gekappt. Ein fast unabsehbar komplexes und weitgespanntes reales Szenarium der Trauer, der Erbitterung, der Auflehnung, das an allen Ecken und Kanten nach politischem Handeln geradezu schreit – nach Intervention: selbstbestimmt, organisiert, von unten noch oben, von außen nach innen – sieht sich hier theoretisch sozusagen stillgelegt, wie eingefroren. Man denke nur an Foucault. Es gibt hier allgegenwärtige, systemisch miteinander vernetzte und verklammerte sozialer Machtsysteme. Überall Hierarchien und Komplexe von Unterdrückungsroutinen, gegen die offenbar nichts ankommt: ein individueller Mensch ohnehin nicht, aber auch kein Kollektiv von Menschen, keine Reformanstrengung. Nirgendwo, in der Schule nicht, in der Klinik nicht. Von der Justiz ganz zu schweigen. Von den Sozialwissenschaften an den Universitäten ganz zu schweigen. Die Sprache ist gewissermaßen die Machtsapparatur der Machtapparaturen. Gleichsam der Treibriemen dieses monströsen, maschinenhaften Ganzen. Sie sagt uns oder spricht uns vor, wer wir sind, wo wir stehen und wie wir unser Umfeld zu sehen haben. Wie wir die anderen zu sehen haben. Die über uns, aber vor allem die unter uns. Kurz: sie sagt uns, wie wir über unser Denken zu denken haben.

Wenn das unsere Demokratie ist, dann gibt es sie nicht. Dann ist sie eine Illusion, ein hohler Traum. Dann ist sie in Wirklichkeit totalitär. Diese Diagnose, die zunächst ganz außer Mode geraten war und fast vergessen, muss in der den 90er und 2000er Jahren wieder an Boden gewonnen haben. Heute ist sie jedenfalls wieder voll präsent, nicht nur an den Universitäten der USA.

III.

Wenn ich hier eine persönlichen Anmerkung einfügen darf: Einige der Älteren unter uns müssen sich heute eingestehen, dass sie diese vernichtende Abwertung unseres sozialen Zusammenlebens und politischen Systems zunächst überhaupt nicht verstanden haben. So auch ich meinen Foucault und seine philosophische Fragwürdigkeit nicht. Alles, was ich vor einem halben Jahrhundert von ihm gelesen habe, stand für mich im Zeichen von Psychiatriegeschichte und der damals vieldiskutierten „Psychiatriereform“. Es war grob gesagt ein „68er“ Thema. Die inzwischen – international – so machtvoll zur Geltung kommende zynisch-perspektivlose Bild, Zerrbild von unserer wie immer defizitären, deformierten, beschädigten Demokratie, das Foucault da zeichnet, muss ich abgewehrt haben: überflogen oder einfach beiseite gefegt. Das Bild war einfach zu schwarz. Der gewählte zeitgeschichtliche Gegenstand war stärker. Ich habe damals Foucault für meine Zwecke und Forschungsinteressen – das Schicksal der „Geisteskranken“ im modernen Europa – vereinnahmt. Und einen radikalen, bahnbrechenden Aufklärer aus ihm gemacht. Ganz im Sinne der damaligen „emanzipatorisch“ ausgerichteten Revolte gegen die aus unserer Sicht nur halbe, schwer unfertige oder auch früherstarrte, frühverfälschte westdeutsche Demokratie. Heute, da der derselbe Denker, dasselbe Opus dazu herhalten muss, eine ganze Inflation von Unterdrückungsvorwürfen zu begründen – und in ihrer Militanz zu legitimieren, kommt einem das alte Missverständnis doch naiv und kurzschlüssig vor.

Immerhin wird man fragen dürfen, wie das denn zusammenpassen soll: einen Denker wie Michel Foucault endlich einmal genau, unbefangen lesen; seinen Bruch, seine Abrechnung mit dem Fortschrittsgedanken der Aufklärung und

und der ihm folgenden sozialen Bewegungen nicht länger vertuschen; ihm keine Vision von einer besseren Welt andichten – ihn dann aber zugleich und in einem Atemzug für eine missionarische Kampagne ausschlachten: für weniger Repression, für weniger Diskriminierung, für weniger Erniedrigung, für mehr soziale Gerechtigkeit in der Welt? Oder wenigstens erst mal bei uns, in den westlichen Gesellschaften? Wie kann ein politischer und moralischer Aktivismus überhaupt an sich selbst glauben, der sich auf einen dermaßen entmutigenden, geschlossenen Strukturalismus beruft und stützt? Auf eine Gesellschaftsanalyse, die – mit Hannah Arendt zu sprechen – den handelnden Menschen und seine Fähigkeit zum praktischen Neuanfang verschwinden lässt?

Nicht zu unterschlagen wäre aber auch: Ungeachtet der wirren, theoretisch gesehen geradezu paradox verqueren Ausstattung und Vorbereitung dieser gegenwärtig so auftrumpfenden Protestkultur auf die selbstgestellte , überaus ehrgeizige Aufgabe: ohne sie gäbe es gewisse Fragestellungen, Beobachtungen und Einsichten vermutlich gar nicht. Hervorzuheben wäre hier das Konzept der „Intersektionalität“, wie es die amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw auch schon vor drei Jahrzehnten formuliert hat (1991):

„Intersektionalität ist die zutreffende Diagnose, dass Menschen besonders stark diskriminiert werden können, wenn sich bei ihnen mehrere unterdrückte Identitäten kreuzen – beispielsweise, wenn sie schwarz und weiblich sind – , und dass die derzeitige Gesetzgebung dieser Form der Diskriminierung nicht ausreichend Rechnung trage. Crenshaw merkt an, dass etwa legale Diskriminierung schwarzer Frauen durch ein Unternehmen möglich sei, das zwar viele schwarze Mitarbeiter und weiße Frauen, aber so gut wie keine schwarzen Frauen einstelle. Sie konstatiert außerdem zu Recht, dass sich intersektionale Identitätsgruppen spezifischen Vorurteilen ausgesetzt sehen. Demzufolge könnte eine schwarze Frau sich den üblichen Vorurteilen gegenübersehen, die mit Schwarz-Sein und mit Frau-Sein einhergehen, wäre darüber hinaus aber noch mit zusätzlichen Vorurteilen behaftet, die ausschließlich schwarze Frauen betreffen.“ (Helen Pluckrose/ James Lindsay, a.a.O., S. 61).

Wir haben hier einen originären Text in der Tradition des „Woke“-Diskurses vor uns. Nur liest er sich wie ein linksliberaler Reformvorschlag. Der Bezug zur staatlichen Innern- und Sozialpolitik ist jedenfalls noch nicht zerrissen. Die Fokussierung auf „Identitäten“ – auf die Identität der Opfer von multipler Ausgrenzung – hier: Frau, schwarz, arm – ist noch nicht verzweifelt, noch nicht so steril und ohnmächtig moralisierend. Sie sieht sich hier noch nicht als eine Sisyphus-Arbeit in einer als irreparabel verdorbenen betrachteten Gesellschaft. Die niemals eine menschlicheres Gemeinwesen aus sich hervorbringen wird. Kurz, es ist noch keine Demaskierung von uns allen, der immer wieder nur neue Entlarvungen folgen müssen – bis ins Unendliche. Es ist hingegen ein öffentlicher Appell, die Gesetzeslage zu überdenken und den Rechtsstaat durchzusetzen. Genau hier – falls dieser Zugriff, diese konkrete Reformabsicht nämlich aufgegeben wird – scheiden sich die Geister.

 

Über Zoran Djindjić

Distanz zur „Frankfurter Schule“:

Bei jemandem seinen Doktor zu machen, heißt nicht, ihn als seinen Leitstern zu betrachten. Zoran Djindjić ist nach Deutschland gekommen, um bei Jürgen Habermas zu promovieren und hat seine Dissertation dann bei Albrecht Wellmer in Konstanz, einem anderen Vertreter der „Frankfurter Schule“, über das Gesellschaftsbild von Marx abgeschlossen. Die Brücke oder besser die Schiene war der Praxis-Kreis in Belgrad, der eng mit den hiesigen Philosophieprofessoren der Frankfurter Richtung verbunden und verbandelt war. Auch dann übrigens noch, als die Praxis-Leute in Belgrad im Laufe der 80er Jahre vom Marxismus irgendeiner Variante zum serbischen Nationalismus der chauvinistischen Variante übergingen. Das ist jedenfalls in Konstanz, wie ich mich erinnere, lange nicht verstanden oder verdrängt worden. Ausgerechnet unsere Philosophen in der Nachfolge marxistischer Traditionen haben sich über die fatale Wendung von links nach ganz rechts, wie sie sich im akademischen Belgrad – entlang der Kosovo-Frage – vollzogen hatte, noch über Jahre hinweggetäuscht. Als Zoran Djindjić Mitte der 80er Jahre in Frankfurt am Main dann selbst anfängt, eigenständig zu philosophieren und zu schreiben, hat das nichts mehr mit Marx zu tun. Es ist der definitive Bruch mit Marx und seiner großen Erzählung. In seinen politischen Essays aus dieser Zeit (1986-1988), die ich erst viele Jahre später kennen lerne, über den Vortrag von Ivan Glaser zur Gedenkveranstaltung 2013 an der Universität Konstanz, stellt Djindjić dem Totalitarismus des jugoslawischen Sozialismus einen essentiellen Liberalismus entgegen. Wie ihn Ernst Fraenkel in seiner Analyse des nationalsozialistischen Unrechtsstaates entwickelt hatte. (Vgl. Ivan Glaser, Den modernen Staat denken, in: Zoran Djindjić, Experiment gegen die Moderne, 2017, S. 290 ff.)

Aber die Distanz Zoran Djindjićs – und anderer aus Jugoslawien stammender Intellektueller in seinem damaligen Umfeld – vor allem zu Jürgen Habermas als dem international einflussreichsten Vordenker der Frankfurter Schule hatte noch andere Gründe. Leider muss ich sagen: so richtig verstehe ich sie erst heute – angesichts des russischen Vernichtungskrieges gegen die Ukraine und im Licht der unsäglichen öffentlichen Plädoyers von Habermas für sofortige Verhandlungen mit

Präsident Wladimir Putin. Es ist der Kerngedanke von Habermas, alle politischen Konflikte könnten letztlich via Dialog, „herrschaftsfrei“ entschärft, temperiert und friedlich gelöst werden, der diesen jungen Leuten aus einem hoffungslos fehlkonstruierten und auch bereits rissigen, bereits auseinanderbrechenden Herkunftsstaat als indiskutabel vorkommen musste, wenn nicht als lächerlich. Weniger pointiert gesagt: als eine weltferne, illusionäre Konstruktion: genauer Ausdruck, typisches Produkt der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft und ihrer interessierten politischen Denkfaulheit.

Zurück in Belgrad: Auf der Suche nach politischer Orientierung

Vielleicht darf ich mit meiner eigenen Desorientierung anfangen: Nach zweieinhalb Jahrzehnten nahezu ausschließlicher Beschäftigung mit deutscher Zeitgeschichte (nur unterbrochen durch ein Forschungsstipendium in den USA) begann ich Mitte der 80er Jahre, zusammen mit Ivan Glaser Jugoslawien zu bereisen. Charakteristisch für meine Unbedarftheit ist 1986 ein Besuch bei Dobrica Cosic in der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste, den ich ganz wunderbar finde mit seiner druckreifen Sprache und in seiner ganzen Hoheit als einer der angesehensten Romanciers des Landes. Null Ahnung, dass wir hier einen giftigen, rassistischen Nationalisten vor uns haben. Das wird mir dann allerdings zwei oder drei Jahre später klar: als Cosic in einer privaten Audienz in seinem Belgrader Domizil, die Zoran Djindjić für uns arrangiert hatte, behauptete, im Kosovo finde ein „Genozid“ an der serbischen Minderheit statt. Und speziell an meine Adresse: „dafür brauche es keiner Gaskammern“.

Den aufsteigenden Slobodan Milosevic hatte ich gegenüber meinen bereits zutiefst beunruhigten Freunden in Zagreb, wo wir unsere Reisen immer starteten, noch peinlich lange als ein bloßes Übergangsphänomen, ein verirrtes Zwischenspiel abgetan, dem alsbald – wie überall in Ostmitteleuropa – auch hierzulande die große prowestliche Zäsur folgen werde. Erst unsere Besuche im Kosovo Ende der 80er Jahre haben mich darüber belehrt, was hier wirklich im Gange war. Aber das haben wir alles schon erzählt. (Vgl. Ivan Glaser, Ernst Köhler, Für das kleinere Ganze. Zu einem anderen Verständnis vom Ende Jugoslawiens, 1993)

Zoran Djindjić, dessen Lebensmittelpunkt jetzt wieder Belgrad war, hatte in meinen Augen zu diesem Zeitpunkt noch wenig davon begriffen. Was unsere Abstecher in das Kosovo betraf, so lieh er uns einmal seinen großen, alten Wagen (mit der Frankfurter Nummer, was uns in den durchfahrenen Dörfern von serbischer Seite fröhliche, wenn auch irrtümliche Gastgeschenke durch das heruntergeschraubte Autofenster einbrachte). Er hörte sich unsere Berichte über die aktuellen Terrormethoden des serbischen Kolonialregimes im Kosovo auch geduldig und aufmerksam an, aber das war eher die ihm eigene Gelöstheit und Grandezza, die Freundschaft mit uns. Erreicht haben wir ihn damit kaum.

In luziden Essays hatte Djindjić die kommunistische Gewaltherrschaft Titos und seiner Nachfolger auseinandergenommen (anders als übrigens so mancher seiner ehemaligen Konstanzer Kommilitonen, die beispielsweise weiter an der Mär von der basisdemokratischen „Arbeiterselbstverwaltung“ im offenen Sozialismus Titos strickten). Aber jetzt war unser Zoran auf einmal von Milosevic-nahen Medienleuten umgeben. Das neu heraufziehende Szenarium der Polarisierung und Spaltung des Landes – liberaldemokratischer Aufbruch in Slowenien und Kroatien, das war jetzt „1989“! – in Serbien eine plebiszitäre, demagogisch gekonnte, mittels einer neuen, sinnlicheren Sprache inszenierte, großserbische Massenmobilisierung dagegen – schien sich ihm noch zu entziehen. Für ihn hatten diese Slowenen und Kroaten mit ihren vermeintlich progressiven Reformabsichten noch immer etwas von den „Sklavenvölkern“ des alten, anti- imperialen serbischen Narrativs. Politische Selbstbehauptung, Selbstbefreiung, die Fähigkeit zur Staatsbildung, zur Durchsetzung von staatlicher Unabhängigkeit war danach seit jeher die Inspiration, die Leistung, der Adel der serbischen Nation gewesen. Was sich da im Nordwesten jetzt so unverschämt und lautstark breit machte, war hingegen politische Unverantwortlichkeit. Es war borniert, partikularistisch, staatsfeindlich und kam allein aus wirtschaftlicher Eigensucht.

So etwas wie ein Weltbild war das bei Djindjić freilich nicht mehr. Es war nur noch ein wackeliges, verschlissenes Ressentiment. Fast gleichzeitig oder doch schon im nächsten Augenblick wird Djindjić dann maßgeblich an der Gründung der oppositionellen Demokratischen Partei in Serbien beteiligt sein.

Eine unbeantwortete Frage

Wie konnte so einer in so einem solchen Land an die Macht gelangen? Das habe ich mich in meinem Beitrag zur Gedenkveranstaltung für Zoran Djindjić 10 Jahre nach seinem Tod gefragt. Und das frage es mich heute noch immer. Mitreden kann ich da nicht, ich habe nichts aus der Nähe beobachtet. Es ist eine Forschungsaufgabe. Es wäre eine Aufgabe für Sie als Journalisten, lieber Dragan Stavljanin. Ich habe meinen Freund für ein Jahrzehnt – in diesen für ihn als oppositionellen Politiker unter dem Regime von Slobodan Milosevic so entscheidenden Jahren – nicht mehr gesehen. Selbst die Frage, wie er es denn überhaupt gemacht und geschafft haben könnte; die Frage also nach den konkreten Bedingungen und Handlungsmustern seines Aufstiegs im politischen Dschungel Serbiens habe ich mir erst im Nachhinein gestellt. Als die Kriege seit 1991 mir diese Frage nicht mehr so verstellten. Als ich nicht mehr so fixiert war auf das Schweigen Zoran Djindjićs zu diesen Kriegen, die doch letztlich alle von Serbien ausgingen. Mit ihren Massemorden an Zivilisten, mit ihrer Vertreibung von Millionen von Menschen („ethnische Säuberung“), mit ihrer Zerstörung von Städten – wie Vukovar, eine Katastrophe, die bis heute der europäischen Öffentlichkeit nicht richtig bewusst ist. Vielleicht holen wir es angesichts des Schicksals von Mariupol im vergangenen Jahr ja noch einmal nach.

Es ist eines, wie man als Bürger eines demokratischen Landes auf so etwas reagiert. Aber als Historiker sollte man schon gewisse Anforderungen an sich selbst stellen. Sich etwa der Frage stellen: wieviel „Machiavellismus“, welches Ausmaß von zynischer taktischer Beweglichkeit war unvermeidlich, um mittelfristig einen Milosevic loszuwerden? Oder geht das überhaupt nicht und gehört strikt tabuisiert? Was ist eigentlich dran an der Geschichte, dass Djindjić kurzzeitig selbst mit einem Verbrecher, dem Massenmörder Radovan Karadzic in Pale, zusammengearbeitet hat? Um Milosevic das Wasser abzugraben und dem Despoten Wählerstimmen zu rauben? Ausblenden ist immer daneben. Aber ich muss mich auch nicht moralisierend überheben. Ich könnte vielmehr erst einmal versuchen, mir den Kontext dieser fragwürdigen Entscheidung zu vergegenwärtigen. Was für eine politische Situation war das überhaupt? Welche Figur gibt Djindjić hier ab? Sollte ich bei diesem Nachforschen in Schwierigkeiten geraten oder gar in ein moralisches Dilemma, arbeite ich richtig.

Selbstvergessener Reformer ohne Zeit

Zoran hat mir diesen Rückzug und meine Abwendung von ihm mitnichten vergolten. Er hat mich 2002 in Belgrad in alter Herzlichkeit empfangen. Als sei ich treu wie Gold. Ich war schon 2001 einmal dort, aber da war ich nicht zum Regierungschef vorgedrungen. Dabei hatte ich mich höchst schlau als Mitarbeiter der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ausgegeben. Djindjić hat mir dann in einem Brief nach Konstanz versichert, das sei eine Dummheit gewesen – hätte ich mich schlicht als Freund angemeldet, hätte es gleich geklappt. Anfang 2004 war ich zusammen mit meinem alten Reisegenossen Ivan Glaser wieder in Belgrad, um mich auf meinen Redebeitrag zur Gedenkfeier der Stadt Konstanz für Zoran Djindjić im März des gleichen Jahres vorzubereiten. Der Text der Rede liegt Ihnen vor (in englischer Sprache; auch ins Serbische ist er übersetzt worden, siehe: Ekonomist, 29.März 2004). Er versucht festzuhalten, was der frühe, gewaltsame Tod dieses außerordentlich weitsichtigen und mutigen Politikers für unsere Gesprächspartner vor Ort, vor allem für Cedomir Jovanovic, bedeutet hat: einen unfassbaren Verlust für das Land und seine Entwicklung.

Mein eigenes, sehr fragmentarisches Bild von Zoran Djindjić an der Macht habe ich hier und dann auch in meiner Rede auf der Gedenkveranstaltung der Universität Konstanz 2013 umrissen. Letztere liegt Ihnen ebenfalls vor. Dem möchte ich hier nichts hinzufügen.

PS

Oder höchstens eine kurze Bemerkung zur Kosovo-Frage, die anscheinend in Serbien unsterblich ist und heute die EU wieder akut unter Druck setzt. Djindjić war hier für mich – das heißt: seitdem ich selbst überhaupt eine Ahnung von dieser späten, massiv erschwerten, aber unaufhaltsamen Nationalstaatsbildung hatte – immer auf der radikal und aussichtslos falschen Seite. Auch kurz vor seiner Ermordung noch – als er der Internationalen Gemeinschaft entgegenschleuderte, dass sich im Kosovo ein regelrechter, ausgewachsener Nationalstaat formiere. Ja, und? Aber wenn man sich vorstellt, dass heute Zoran Djindjić in Belgrad der Gegenspieler von Albin Kurti in Prishtina wäre – und nicht Aleksandar Vučić, der, wie Oliver Jens Schmitt es kürzlich formuliert hat, immer noch derselbe ist, der er als Propagandaminister von Milosevic war! Dann stünden sich hier, nicht zu glauben, keine Welten gegenüber. Sondern lediglich zwei demokratische Vollblutpolitiker, die beide nichts als die Wohlfahrt und Weiterentwicklung ihres Landes im Auge haben.

Vielleicht die beiden einzigen unzweifelhaft demokratischen Regierungschefs, die der Balkan in den letzten Jahrzehnten überhaupt hervorgebracht hat.

Ernst Köhler
Konstanz, März 2023
Notizen für Radio Free Europe, Prag
Zum 20. Todestag von Zoran Djindjić

Schamlose Vertauschung

In Gesprächen, die inzwischen das lange Schweigen abzulösen scheinen, trifft man bei uns schnell auf den Gedanken der Verhandlung zwischen der Ukraine und Russland. Mit den „offenen Briefen“ aus der Anfangsphase des Krieges hat das nicht unbedingt etwas zu tun. Es sind jetzt andere Leute – mit anderen Beweggründen, die sich so äußern. Angesichts des infamen Dauerbeschusses auf die ukrainische Zivilbevölkerung und ihre Versorgungssysteme für Licht, Wärme und Wasser erscheinen Verhandlungen zwischen den beiden Feinden nicht wenigen deutschen Bürgern als eine gebieterische Notwendigkeit, als die letzte Rettung vor einer ungeheuerlichen Barbarei.

Aber auch wenn er aus der Anteilnahme und Menschlichkeit kommt (statt aus einer bloß eingebildeten Weitsicht): der Gedanke an baldige Verhandlungen bleibt haltlos. Schon das Bild von den zwei ineinander verbissenen Kriegsparteien ist irreführend. Es gibt hier einen Aggressor, und es gibt sein Opfer. Sie haben nichts gemeinsam, und wir sollten sie auch nicht künstlich auf eine Stufe stellen. Wo böte sich in dieser katastrophal ungleichen Konstellation die Chance für ein bilaterales Zusammenkommen? Wenn der eine nur die endgültige Ausrottung des anderen will.

Und wenn man dem möglicherweise bereits mit dem Rücken an der Wand stehenden Putin die eroberten Teile des Donbass überließe? Damit er „sein Gesicht wahren“ und sich dem heimischen Publikum und der beunruhigten Machtelite gegenüber als so etwas wie ein Sieger ausgeben könnte? Wer so argumentiert – und das reicht durchaus bis in die Führungsspitzen der westeuropäischen Staaten -, offenbart damit nur, dass er nicht weiß – oder nicht wissen will -, wer Putin ist. Dass er lieber ausklammert, was seit 2014 in der Ukraine geschehen ist. Lieber beiseite schiebt, dass der begrenzte Krieg im Donbass Putin zu wenig war und er ihm den großen folgen ließ. Mehr noch, unser wendiger Diplomat ist bereit, die russische Kriegsführung seit Februar 2022 – zumindest für das Schicksal von Mariupol muss von Völkermord gesprochen werden – realpolitisch zu neutralisieren, gleichsam zu waschen. Was nur gegen den Willen der hier geschlossenen ukrainischen Bevölkerung geht. Was Verrat ist.

Wie kann man für Putin und seine Helfer neue „Nürnberger Prozesse“ ins Auge fassen und sie zugleich als tragende Figuren in eine Friedensregelung einbeziehen wollen? Als seien es nicht Verbrecher, wie die Welt sie nicht tragen kann – wie Hannah Arendt es einmal von Eichmann gesagt hat. Sondern Staatsmänner unter Staatsmännern. Eine Vertauschung, die vielleicht der am wenigsten hinterfragte Zynismus in unserem politischen Common Sense ist.

Über den ukrainischen Jedermann

Ernst Köhler

Woher nehmen die Ukrainer die Kraft dafür, diese Entschlossenheit zum Widerstand? Es ist ein großes, unvergleichliches Ereignis der Gegenwart. Aber ist es nicht auch ein unfassbares? Mehr als 90 Prozent der Zivilisten des Landes wollen, dass die ukrainische Armee bis zu vollen Befreiung ihres Landes kämpft – was auch immer sie durchmachen und noch durchmachen müssen. In Deutschland bewundern wir diese Menschen dafür und stehen hinter ihnen. Heute nicht mehr die Mehrheit von uns. Aber ob es nun, sagen wir, 60 Prozent oder nur noch 40 Prozent sind, ist zweitrangig. Es sind nach wie vor sehr viele von uns. Ungeachtet aller Probleme, die der Krieg auch uns selbst auferlegt. Das ist ausschlaggebend. Es ist immer noch ein massives Votum, eine gesellschaftliche Wucht, eine kritische Masse.

Aber verstehen wir die Ukrainer auch? Unsere Hochachtung hat etwas Empathisches, das heißt auch: etwas Labiles. Der Respekt ist ohne Zweifel authentisch, aber auch anfällig für gewisse Ermüdungserscheinungen. Nicht nur in Deutschland, sondern auch anderswo im Westen, nicht zuletzt in den USA. Aber bleiben wir bei uns. Man kann in niemanden hineinsehen. Aber das Thema Krieg – der ein Vernichtungskrieg gegen die ukrainische Zivilbevölkerung ist, so wie der serbische Krieg der 90er Jahre ein Vernichtungskrieg gegen die bosnische Zivilbevölkerung war – wird bei uns möglichst vermieden. Auch im engeren Bekanntenkreis, auch in der Familie. Das ist eine Form der Selbstvereinzelung, wie soll sich da politischer Zusammenhalt und kollektive Festigkeit entwickeln?

Vor der Klammer steht: Unserer Anteilnahme und Loyalität fehlt es hinten und vorn an historischem Wissen. Sie wären verlässlicher, wenn wir nicht so wenig wüssten über das unbeugsame Land. Hier der Versuch einer Annäherung in Stichworten: über drei Quellen geistiger Autonomie, ausgereifter nationaler Besonderheit oder Identität, aus denen die Selbstbehauptung der Ukraine gegen die Aggression Russlands schöpfen kann. Es sind zugleich aber auch drei Punkte, die uns eher fremd sind und in denen wir Mühe haben, den Bürgern der Ukraine zu folgen. Es sind drei Grundtatsachen der ukrainischen Geschichte und Zeitgeschichte, in die wir uns gerade einzuarbeiten begonnen haben. Ausgerechnet dort, wo sie handeln, wo sie sich zusammenschließen, wo wir sie über sich selbst hinauswachsen sehen, stoßen wir an die Grenzen unseres Erfahrungshorizonts.

Erstens wissen die Ukrainer, wer Putin ist. Und das nicht erst seit 2014. Wir nicht – oder erst seit gestern, soweit wir uns da überhaupt schon bewegt haben sollten, „Zeitenwende“ hin oder her. Als deutsche Durchschnittsbürger stehen wir freilich kaum vor der Frage, ob wir den russischen Präsidenten nicht doch langsam wieder mal anrufen sollten. Um ihn ordentlich zu ermahnen. So ganz isoliert sind Figuren wie Olaf Scholz oder Emmanuel Macron nun auch wieder nicht. Sie gehören mit ihrem absurden Phantasma von der Unsterblichkeit der Diplomatie zu unserer vertrauten politischen Vorstellungswelt. Es ist eine aus der Zeit gefallene Welt, in der Staatsmänner immer Staatsmänner bleiben, egal was für Verbrechen sie begehen.

In der Ukraine ist der Nationalismus dann zweitens die maßgebliche Schubkraft hinter der europäischen Orientierung des Landes. Er war es dort, wie man jetzt in einem Standardwerk zur Geschichte der Ukraine nachlesen kann (Serhii Plokhy, Das Tor Europas, 2022), immer wieder. Seitdem es in diesem Land überhaupt so etwas wie einen modernen Nationalgedanken gibt. In Deutschland hat der Nationalismus Hitler an die Macht gebracht, was hier zum Glück niemand von Anstand vergessen kann und will. Was hier andererseits aber auch gern und fast schon reflexartig verallgemeinert wird. So als ob der Nationalismus immer und überall, aus seinem eigentlichen Wesen heraus in eine völkische, rassistische, faschistische, genozidale Richtung abdrifte. Andere, entgegen gesetzte Erfahrungen vor der Haustür – wie etwa die im Kosovo der 80er und 90er Jahre kommen dagegen schlecht an. Auch hier war der Nationalismus, der Wille zu Sezession von Serbien, die Entscheidung für die staatliche Eigenständigkeit die entscheidende Kraft hinter Regimewechsel und Demokratisierungsprojekt. In der Literatur über die politische Entwicklung vor und nach der Unabhängigkeit der Ukraine ist die Rede von einem „liberalen Nationalismus“ oder „staatsbürgerlichen Nationalismus“. Gefeit gegen die angedeutete Entartung ist er freilich nie.

Und schließlich : Seit der Unabhängigkeit von 1991 ist die strukturell, sozioökonomisch in grundverschiedene Regionen geteilte, wenn man will: gespaltene Ukraine schrittweise zu einem Nationalstaat zusammengewachsen, der von einer klaren Mehrheit der Bevölkerung in allen Regionen getragen wird. Schon vor dem Krieg seit Februar 2022. Mehr noch: die in einer langen Geschichte ausgebildete regionale Zerrissenheit hat es dem Land – man möchte sagen: ironischerweise – ermöglicht, einen eigenständigen demokratischen Pluralismus hervorzubringen. Anders als in der postsowjetischen russischen Republik unter Jelzin, der Panzer auf das Parlament hat schießen lassen, hat sich das Parlament in Kiew von Anfang an nie zu einer Institution des bloßen Abnickens degradieren lassen. (Vgl. auch: Mykola Rjabtschuk, Die reale und die imaginierte Ukraine, 2013) Auch schon vor 2013/14 nicht, also vor der Revolution des „Maidan“, die nach mehr als zwei Jahrzehnten staatlicher Unabhängigkeit dann den Bruch auch mit dem autokratischen Herrschaftsmodell Moskaus brachte. „Bruch“ heißt hier auch: die Entfaltung einer kritischen politischen Öffentlichkeit: die für die Unabhängigkeit der Justiz kämpfen muss, weil sie in der Ukraine noch verweigert wird. Die gegen Korruption kämpfen muss, weil sie auch im neuen Staat noch das gesamte Leben beherrscht, und zwar von ganz oben nach ganz unten. Seit spätestens 2015 kommen auch bei uns die Stimmen dieser Reformforderungen zu Geltung. Wir müssen sie nur hören.

Es gibt da freilich eine besondere Schwerhörigkeit: Die regionalen Gegensätze in der Ukraine – zwischen Lwiw und Donezk, pointiert gesagt – scheint man hier vor allem als „ethnische“, „sprachliche“, „kulturelle“ verstehen zu wollen. So schreibt man sie aber über Gebühr fest und stilisiert sie zu einer kaum noch wandlungsfähigen Mentalität hoch. Statt sie eher politisch aus der jeweils spezifischen imperialen Geschichte der einzelnen Regionen herzuleiten: lange unter den Habsburgern oder endlos lange unter dem zaristischen russischen Reich. Wir haben es da in der deutschen Öffentlichkeit mit einer griffigen Sorte von Halbwissen und Klischeedenken zu tun. Anscheinend muss es heutzutage immer gleich “Kultur“ sein, eine Art zweiter Natur. Darunter tun wir es nicht. Dergleichen Vorurteil ist zählebig. Auch wenn die Propaganda des Kreml unser selbst geschaffenes Zerrbild nicht noch mit aller Macht unterstützte, wie er es seit Jahren tut.

Neuerscheinung

Seit vielen Jahren untersucht und beschreibt Ernst Köhler für verschiedene deutschsprachige Medien die Konflikte in den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien. Immer auch mit dem Fokus darauf, wie wir Deutschen sie wahrnehmen, wie wir uns positionieren. Wir stehen uns beim Blick nach Osten selbst im Wege, wir sehen vor allem uns selbst. Äquidistante, „westliche“ Erklärungsversuche und pseudoethnischen Vorstellungen verschleiern leicht die planvollen Urheber der mörderischen Konflikte.

Nun ist zu diesem Thema sein neues Buch erschienen:

Ernst Köhler (2022): Lernen, wer wir sind: Blick nach Osten in den Westen. Taschenbuch, 289 Seiten. ASIN B09QK358KX, ISBN ‎ 979-8403340472. Kostenlose Leseprobe

Ab sofort lieferbar als Taschenbuch oder als eBook.

In diesem Leseband hat Köhler eigene Beiträge aus den Jahren 1999 – 2017 zusammengestellt. Beruhend auf vielen Reisen und zahllosen Gesprächen mit Betroffenen entwickelt er eine antinationalistische, antipopulistische Position.

Was der Westen Osteuropa verdankt

Über Philippe Sands: Rückkehr nach Lemberg

Im Osten trifft man auf den Westen, und im Westen auf den Osten. Ersteres ist evident, schon ein fast Gemeinplatz. „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ (Philipp Ther, 2014) ist von Beginn an beobachtet und inzwischen vielfältig bearbeitet worden. Zunächst war sie ja auch so etwas wie ein Triumph für den Westen. Mit der Zeit haben wir auch einiges davon mitbekommen, was die Epochenzäsur von 1989 ff. für die nichtprivilegierten Menschen im Osten Europas bedeutet hat und bedeutet. Was der Umbruch sie an Lebensqualität, Muße, persönlichem Gleichgewicht, Lebensstandard, sozialer Sicherheit gekostet hat und kostet. Für die in Polen hat es uns etwa Andrzej Stasiuk vor Augen geführt, für die Menschen in Russland Swetlana Alexijewitsch. Gereist sind wir dann auch ein bisschen, mit Karl Schlögel als unserem unvergleichlichen Hermes. Aber es geht hier nicht nur um große Literatur, die unsere lebensweltlich verwurzelte und auch in unserem historischen Gedächtnis verankerte Provinzialität als Westeuropäer aufzubrechen vermag. „Was der Westen Osteuropa verdankt“ weiterlesen

Aus der Nachkriegszeit: Stolberger Notizen.

Buchcover

Gerade erschienen: Aus der Nachkriegszeit meint die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland. Es sind Jugenderinnerungen aus einer kleinen Industriestadt im katholischen Rheinland. Frei, assoziativ geschrieben, aber sorgfältig, behutsam und einfühlend in der Darstellung der beteiligten Menschen und ihrer Lebensentwürfe. Alles war damals anders als heute. Es sind alltägliche, unscheinbare Geschichten. Aber wie sie hier erzählt werden – lakonisch, fast wegwerfend, in kleinen, dichten Stücken – macht ihren literarischen Reiz aus.

E. Köhler 2018, ISBN-13: 978-1790122547, Taschenbuch und eBook, z.B. bei Amazon.

Wie wir die Ukraine verraten. (Kleine Dokumentation zur Erinnerung)

Über die Lage in der Ukraine seit Anfang 2014 sind wir gut informiert. Wir haben hier einen Ausnahmejournalisten wie Konrad Schuller von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der immer wieder aus dem Land berichtet – auch über die Lage in den von Russland besetzten Gebieten berichtet. Hautnah, imaginativ, unbestechlich. Über die vom Kreml gesteuerten Kräfte an der Macht wie über ihre rechtlosen Untertanen. Ebenso aber auch über die Ausgrenzungsstrategie Kiews, die vor allem die Rentner in den „Volksrepubliken“ von Donezk und Luhansk trifft. Wir haben hier Lektoren und Herausgeber vom Format Katharina Raabes beim Suhrkamp Verlag und Manfred Sappers von der Zeitschrift „Osteuropa“, denen wir unverzichtbare Textsammlungen wie „Euromaidan“ (2014), „Testfall Ukraine“(2015), „Gefährdete Nachbarschaften – Ukraine, Russland, Europäische Union“ (2015) verdanken. Es erreichen uns authentischen Stimmen aus der Ukraine selbst und unabhängige Beiträge aus anderen Ländern der Region wie Litauen, aber auch aus Russland. Kurz, wir haben alles, was wir als Zeitgenossen, Nichtfachleute, als normale deutsche Bürger zu unserer Orientierung brauchen. Nicht zuletzt die Analysen von Osteuropa-Historikern – darunter auch deutscher, die sich der lange Zeit vorherrschenden, die Ukraine und ihre Geschichte weitgehend ausblendenden Fokussierung der einschlägigen bundesdeutschen Historiographie auf Russland von vornherein entzogen haben wie etwa Andreas Kappeler oder Wilfried Jilge. Oder die sich diesem alten Trend unter dem Eindruck des von Moskau bedrohten und beschädigten Umbruchs in der Ukraine doch heute entziehen wie Karl Schlögel oder Bianka Pietrow-Ennker und Benno Ennker. Inmitten unserer ganzen Aufgeklärtheit sind wir aber selber ein Problem. Wir selbst in unserer Gleichgültigkeit gegenüber dem im Innern nach wie vor umkämpften und von außen, von einer Großmacht mit Gewalt und Krieg überzogenen Demokratieversuch in einem Nachbarland. „Wie wir die Ukraine verraten. (Kleine Dokumentation zur Erinnerung)“ weiterlesen