Schamlose Vertauschung

In Gesprächen, die inzwischen das lange Schweigen abzulösen scheinen, trifft man bei uns schnell auf den Gedanken der Verhandlung zwischen der Ukraine und Russland. Mit den „offenen Briefen“ aus der Anfangsphase des Krieges hat das nicht unbedingt etwas zu tun. Es sind jetzt andere Leute – mit anderen Beweggründen, die sich so äußern. Angesichts des infamen Dauerbeschusses auf die ukrainische Zivilbevölkerung und ihre Versorgungssysteme für Licht, Wärme und Wasser erscheinen Verhandlungen zwischen den beiden Feinden nicht wenigen deutschen Bürgern als eine gebieterische Notwendigkeit, als die letzte Rettung vor einer ungeheuerlichen Barbarei.

Aber auch wenn er aus der Anteilnahme und Menschlichkeit kommt (statt aus einer bloß eingebildeten Weitsicht): der Gedanke an baldige Verhandlungen bleibt haltlos. Schon das Bild von den zwei ineinander verbissenen Kriegsparteien ist irreführend. Es gibt hier einen Aggressor, und es gibt sein Opfer. Sie haben nichts gemeinsam, und wir sollten sie auch nicht künstlich auf eine Stufe stellen. Wo böte sich in dieser katastrophal ungleichen Konstellation die Chance für ein bilaterales Zusammenkommen? Wenn der eine nur die endgültige Ausrottung des anderen will.

Und wenn man dem möglicherweise bereits mit dem Rücken an der Wand stehenden Putin die eroberten Teile des Donbass überließe? Damit er „sein Gesicht wahren“ und sich dem heimischen Publikum und der beunruhigten Machtelite gegenüber als so etwas wie ein Sieger ausgeben könnte? Wer so argumentiert – und das reicht durchaus bis in die Führungsspitzen der westeuropäischen Staaten -, offenbart damit nur, dass er nicht weiß – oder nicht wissen will -, wer Putin ist. Dass er lieber ausklammert, was seit 2014 in der Ukraine geschehen ist. Lieber beiseite schiebt, dass der begrenzte Krieg im Donbass Putin zu wenig war und er ihm den großen folgen ließ. Mehr noch, unser wendiger Diplomat ist bereit, die russische Kriegsführung seit Februar 2022 – zumindest für das Schicksal von Mariupol muss von Völkermord gesprochen werden – realpolitisch zu neutralisieren, gleichsam zu waschen. Was nur gegen den Willen der hier geschlossenen ukrainischen Bevölkerung geht. Was Verrat ist.

Wie kann man für Putin und seine Helfer neue „Nürnberger Prozesse“ ins Auge fassen und sie zugleich als tragende Figuren in eine Friedensregelung einbeziehen wollen? Als seien es nicht Verbrecher, wie die Welt sie nicht tragen kann – wie Hannah Arendt es einmal von Eichmann gesagt hat. Sondern Staatsmänner unter Staatsmännern. Eine Vertauschung, die vielleicht der am wenigsten hinterfragte Zynismus in unserem politischen Common Sense ist.

Aus der Nachkriegszeit: Stolberger Notizen.

Buchcover

Gerade erschienen: Aus der Nachkriegszeit meint die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland. Es sind Jugenderinnerungen aus einer kleinen Industriestadt im katholischen Rheinland. Frei, assoziativ geschrieben, aber sorgfältig, behutsam und einfühlend in der Darstellung der beteiligten Menschen und ihrer Lebensentwürfe. Alles war damals anders als heute. Es sind alltägliche, unscheinbare Geschichten. Aber wie sie hier erzählt werden – lakonisch, fast wegwerfend, in kleinen, dichten Stücken – macht ihren literarischen Reiz aus.

E. Köhler 2018, ISBN-13: 978-1790122547, Taschenbuch und eBook, z.B. bei Amazon.

Wie wir die Ukraine verraten. (Kleine Dokumentation zur Erinnerung)

Über die Lage in der Ukraine seit Anfang 2014 sind wir gut informiert. Wir haben hier einen Ausnahmejournalisten wie Konrad Schuller von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der immer wieder aus dem Land berichtet – auch über die Lage in den von Russland besetzten Gebieten berichtet. Hautnah, imaginativ, unbestechlich. Über die vom Kreml gesteuerten Kräfte an der Macht wie über ihre rechtlosen Untertanen. Ebenso aber auch über die Ausgrenzungsstrategie Kiews, die vor allem die Rentner in den „Volksrepubliken“ von Donezk und Luhansk trifft. Wir haben hier Lektoren und Herausgeber vom Format Katharina Raabes beim Suhrkamp Verlag und Manfred Sappers von der Zeitschrift „Osteuropa“, denen wir unverzichtbare Textsammlungen wie „Euromaidan“ (2014), „Testfall Ukraine“(2015), „Gefährdete Nachbarschaften – Ukraine, Russland, Europäische Union“ (2015) verdanken. Es erreichen uns authentischen Stimmen aus der Ukraine selbst und unabhängige Beiträge aus anderen Ländern der Region wie Litauen, aber auch aus Russland. Kurz, wir haben alles, was wir als Zeitgenossen, Nichtfachleute, als normale deutsche Bürger zu unserer Orientierung brauchen. Nicht zuletzt die Analysen von Osteuropa-Historikern – darunter auch deutscher, die sich der lange Zeit vorherrschenden, die Ukraine und ihre Geschichte weitgehend ausblendenden Fokussierung der einschlägigen bundesdeutschen Historiographie auf Russland von vornherein entzogen haben wie etwa Andreas Kappeler oder Wilfried Jilge. Oder die sich diesem alten Trend unter dem Eindruck des von Moskau bedrohten und beschädigten Umbruchs in der Ukraine doch heute entziehen wie Karl Schlögel oder Bianka Pietrow-Ennker und Benno Ennker. Inmitten unserer ganzen Aufgeklärtheit sind wir aber selber ein Problem. Wir selbst in unserer Gleichgültigkeit gegenüber dem im Innern nach wie vor umkämpften und von außen, von einer Großmacht mit Gewalt und Krieg überzogenen Demokratieversuch in einem Nachbarland. „Wie wir die Ukraine verraten. (Kleine Dokumentation zur Erinnerung)“ weiterlesen

Widerstand ist immer persönlich

Cover "Widerstand ist immer persönlich"

Neu aufgelegt: Widerstand ist immer persönlich: Gedankenspiele aus der alten Bundesrepublik.

Essays, Vignetten und Gedichte aus den 1980er Jahren – beispielsweise zur Psychiatriereform, RAF, Antifaschismus… und eine damals wie heute schmerzhafte Hinterfragung der linken Identität.

Edition Kritische Wälder, 2017, ISBN 3744896994, Paperback & Ebook (zB bei Amazon)

Erstveröffentlichungen u.a. im „Freibeuter“ (Wagenbach-Verlag), 1979-1989

Primo Levi über die Erinnerung

Ernst Köhler

1.

„Die ersten Berichte über die nationalsozialistischen Vernichtungslager begannen sich im Entscheidungsjahr 1942 zu verbreiten. Sie waren vage, stimmten aber untereinander überein: Sie ließen eine Massenvernichtung von einem derartig großen Ausmaß, von einer so unvorstellbaren Grausamkeit, mit so verworrenen Motivationen deutlich werden, dass die Öffentlichkeit, gerade wegen ihrer Ungeheuerlichkeit, dazu neigte, sie nicht zu glauben. Es ist bezeichnend, dass diese Ungläubigkeit von den Schuldigen selbst lange vorausgesagt wurde. Viele Überlebende erinnern sich daran…, was für ein Vergnügen es den SS-Leuten bereitete, den Häftlingen zynisch vor Augen zu halten: ‚Stellen Sie sich nur vor, Sie kommen in New York an, und die Leute fragen Sie: Wie war es in den deutschen Konzentrationslagern? Was haben sie da mit euch gemacht? Sie würden den Leuten in Amerika die Wahrheit erzählen. Und wissen Sie, was dann geschehen würde? Sie würden Ihnen nicht glauben, würden Sie für wahnsinnig halten, vielleicht sogar in eine Irrenanstalt stecken… Sonderbarerweise taucht dieser Gedanke…in Gestalt nächtlicher Träume aus der Verzweiflung der Häftlinge auf. Beinahe alle erinnern sich, entweder im Gespräch oder in ihren Aufzeichnungen, an einen Traum, der sich in den Nächten der Gefangenschaft häufig einstellte, unterschiedlich in den Einzelheiten, aber im Wesentlichen immer gleichbleibend: Sie waren nach Hause zurückgekehrt, erzählten mit Leidenschaft und Erleichterung einer ihnen nahestehenden Person von den vergangenen Leiden und sähen, dass ihnen nicht geglaubt, ja nicht einmal zugehört würde. In der typischsten (und grausamsten) Version wandte sich der Angesprochene ab und ging schweigend weg.“

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