Über die Lage in der Ukraine seit Anfang 2014 sind wir gut informiert. Wir haben hier einen Ausnahmejournalisten wie Konrad Schuller von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der immer wieder aus dem Land berichtet – auch über die Lage in den von Russland besetzten Gebieten berichtet. Hautnah, imaginativ, unbestechlich. Über die vom Kreml gesteuerten Kräfte an der Macht wie über ihre rechtlosen Untertanen. Ebenso aber auch über die Ausgrenzungsstrategie Kiews, die vor allem die Rentner in den „Volksrepubliken“ von Donezk und Luhansk trifft. Wir haben hier Lektoren und Herausgeber vom Format Katharina Raabes beim Suhrkamp Verlag und Manfred Sappers von der Zeitschrift „Osteuropa“, denen wir unverzichtbare Textsammlungen wie „Euromaidan“ (2014), „Testfall Ukraine“(2015), „Gefährdete Nachbarschaften – Ukraine, Russland, Europäische Union“ (2015) verdanken. Es erreichen uns authentischen Stimmen aus der Ukraine selbst und unabhängige Beiträge aus anderen Ländern der Region wie Litauen, aber auch aus Russland. Kurz, wir haben alles, was wir als Zeitgenossen, Nichtfachleute, als normale deutsche Bürger zu unserer Orientierung brauchen. Nicht zuletzt die Analysen von Osteuropa-Historikern – darunter auch deutscher, die sich der lange Zeit vorherrschenden, die Ukraine und ihre Geschichte weitgehend ausblendenden Fokussierung der einschlägigen bundesdeutschen Historiographie auf Russland von vornherein entzogen haben wie etwa Andreas Kappeler oder Wilfried Jilge. Oder die sich diesem alten Trend unter dem Eindruck des von Moskau bedrohten und beschädigten Umbruchs in der Ukraine doch heute entziehen wie Karl Schlögel oder Bianka Pietrow-Ennker und Benno Ennker. Inmitten unserer ganzen Aufgeklärtheit sind wir aber selber ein Problem. Wir selbst in unserer Gleichgültigkeit gegenüber dem im Innern nach wie vor umkämpften und von außen, von einer Großmacht mit Gewalt und Krieg überzogenen Demokratieversuch in einem Nachbarland.
I.
Es ist mir bewusst, dass das etwas anderes ist als eine Auseinandersetzung mit der offiziellen deutschen Außenpolitik in der Ukrainefrage – also mit den maßgeblich von Deutschland gestalteten Abkommen von Minsk und ihren Auflagen an beide Seiten: in schöner Äquidistanz an den Aggressor wie an sein Opfer; mit dem hilflosen oder auch opportunistischen Festhalten an „Minsk“ – ungeachtet des offenkundigen Scheiterns dieser Politik der Deeskalation. Es ist schwieriger, empirisch weniger plausibel, methodisch gewagter, spekulativer, sich mit sich selber zu befassen als mit der Regierung oder den außenpolitischen Vorstellungen der politischen Parteien. Wer ist denn dieses diffuse, schwammige „Wir“, das ich da bemühe? Jedermann weiß, wie komplex, vielschichtig, segmentiert, gespalten die bundesdeutsche Gesellschaft ist – wie jede vergleichbare andere europäische Gesellschaft auch. Ich wage mich auf den fragwürdigen Pfad derartig summarischer, pauschalisierender Aussagen über die Deutschen auch nur deshalb, weil das unbeirrbare Desinteresse der großen Mehrheit der deutschen Demokraten an der Demokratie der Ukrainer für mich eine Tatsache ist. (Ein Gegenstand verschwindet nicht schon deshalb, weil man keine rechte Methode hat, ihn zu packen.) Und weil diese Haltung der Abwendung von anderer Leute Freiheitskampf unsere politische Kultur wesentlich bestimmt, sie herabsetzt und deformiert. Vorsichtig gesagt; denn man kann auch von bodenlosem Misstrauen und von bösartiger Verleumdung sprechen. Es gibt konkrete Ansatzpunkte, Belege und Beobachtungen, die den hier vorgeschlagenen Zugriff nicht abwegig oder nassforsch erscheinen lassen. Freilich scheint man sie uns in der Regel von außen aufzeigen und verdeutlichen zu müssen:
„In Deutschland, dessen letzte Revolution, der Fall der DDR und die Wiedervereinigung, unter ganz anderen Prämissen verlief, stellt man sich etwas völlig anderes vor als das, was wir in der Ukraine erleben. Das hat mangelnde Empathie zur Folge, Empathie, die wir derzeit viel stärker von Polen, Litauern oder Georgiern erfahren…Viele von uns sind enthusiastisch, sie leben in der Überzeugung, die Verwirklichung der europäischen Idee findet gerade hier statt, wir sind es, die einen prometheischen Funken in das schläfrige, schlaffe, erschlaffte Europa bringen. Daher erwarten viele Lob und Anerkennung. Und sind sprachlos, wenn ihnen statt Begeisterung Vorsicht, statt Akzeptanz Argwohn, statt Annäherung Misstrauen begegnet… Der politische Kurs der europäischen Regierungen ist ausgesprochen proukrainisch und prorevolutionär. Die Statistiken belegen, dass die Mehrheit der EU-Bürger in dieser Frage hinter der ukrainischen Revolution und hinter ihren Regierungen stehen. Das gilt auch für die Reaktionen auf das Verhalten Russlands. Der Tenor in den Printmedien ist ähnlich.
Liest man dagegen die Postings im Internet, die Flut an Kommentaren, die aggressiven, enthemmten Diskussionen in den Foren, gewinnt man einen anderen Eindruck: auf ein proukrainische Äußerung kommen mindestens zwanzig krass antiukrainische, antiamerikanische, antieuropäische, prorussische…Zusammengefasst lauten die Behauptung wie folgt: Die Revolution kam nicht aus dem spontanen inneren Impuls der ukrainischen Bürgergesellschaft, sondern wurde von außen finanziert und gesteuert. ‚Außen’ – das ist ‚der Westen’, konkret ‚die USA’. – Die Hypothese steht in einer alten Tradition und reproduziert verdrängte, eigene koloniale Reflexe. Antiamerikanismus liiert sich mit schlecht versteckter Arroganz: Länder wie die Ukraine sind nicht in der Lage, etwas eigenes hervorzubringen, weder einen Staat noch vernünftige Politik, noch ein solide Wirtschaft, nicht einmal eine akzeptable Revolution. Wenn es dennoch passiert, waren ‚richtige Mächte, richtige Mächtige’ (also auch wir) am Werk. Diese Behauptung tarnt sich als antikapitalistische. Daher sind wir es auch, die ‚sowieso alles besser wissen, verstehen, beurteilen…und voraussagen können’. Diese kryptohegemoniale Einstellung erkennt bestenfalls die vermeintlich Ebenbürtigen an.
In diesem Fall: die Propagandamacht Putins.“
Das sind ein paar Sätze aus einem Text des Lemberger Germanisten und Psychoanalytikers Jurko Prochasko (Kleine Europäische Revolution, März 2014,in: Euromaidan. Hrsg. von Juri Andruchowytsch, Berlin 2014). Sind sie differenziert und ausgewogen genug? Man lese den ganzen Text und frage sich ehrlich, ob man sich, ob man uns darin wiedererkennt. Ob es ein Spiegel ist, den man uns da vorhält. Bei aller Kritik trifft man hier auf ein Verständnis für Europa, für die EU und ihren gegenwärtigen Verlust an Zusammenhalt und Perspektive, das bei uns schon Seltenheitswert hat. Und – bei entschiedenster Parteinahme für den demokratischen Bruch der ukrainischen Bürger mit den sowjetisch- postsowjetischen Machtverhältnissen in ihrem Land – auf die klare Ablehnung jeglicher Schönfärberei, jeder Glorifizierung des „Majdan“. Aus der Sicht des Autors ist es unbezweifelbar eine Revolution, was sich in der Ukraine abspielt – aber eine unvollendete; eine, die sehr wohl auch noch scheitern kann; eine, die unter Umständen auch zu noch schlimmeren Zuständen als vorher führen kann. Ein Text, der in seiner Hellsicht seinesgleichen sucht – hierzulande ohnehin.
II.
Man kann sich fragen, ob ein Jurko Prochasko auch 2017 noch so schreiben würde wie im Frühjahr 2014. Was ist mit der Annexion der Krim? Wird sie vom „Westen“ vielleicht langsam, stillschweigend geschluckt? Oder auch nicht so stillschweigend: Christian Lindner, Hoffnungsträger der FDP, hat kürzlich vorgeschlagen, sie als Problem „einzukapseln“ und als ein „dauerhaftes Provisorium“ zu betrachten. Und ist damit immerhin auf die Zustimmung von Sahra Wagenknecht und der AfD gestoßen. Wie tief lassen solche Profilierungsspiele blicken? Gesellt sich da im Appeasement gegenüber Putin-Russland auf Kosten der Ukraine jetzt auch die freiheitsstolze Mitte zu der obszönen Allianz von ganz links und ganz rechts? Wäre das öffentlich demonstrierte Erschrecken, Entsetzen über die Verstümmelung eines Landes durch ein anderes, stärkeres inzwischen in Deutschland nur noch ein lästiges und bereits fadenscheiniges „Tabu“? Das ist hoffentlich überzogen. Auch mit deutschem Nachdruck hält die EU ihre Sanktionen gegen Russland bisher aufrecht – wenn auch offen ist, wie lange noch. Inzwischen ist in den USA mit Donald Trump die personifizierte Unberechenbarkeit – oder besser: Haltlosigkeit, politische Leere – Präsident. Ob auch an der Macht, ist nicht so klar. Und wie sich diese Fehlbesetzung des höchsten Amtes in den Vereinigen Staaten auf die Russlandpolitik Deutschlands und der EU auswirkt, auch nicht. Aber wir suchen hier nach deutlicheren, repräsentativeren Spuren und Symptomen für den tief im Geist, im Selbstverständnis der allermeisten Deutschen verankerten Mangel an Anteilnahme und Loyalität gegenüber dem erklärten Reformwillen der ukrainischen Zivilgesellschaft. Anders als der noble ukrainische Denker zu glauben scheint, muss man dafür nicht die Müllhalden des Internets aufsuchen.
Das klassische Dokument des Verrats an der Ukraine in der Bundesrepublik ist ein Aufruf an die deutsche Öffentlichkeit mit dem Titel: „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“ – zugleich auch ein offener Brief die Bundesregierung und die Parlamentabgeordneten, initiiert von Horst Teltschik (einem früheren Kanzlerberater, CDU), Walther Stützle (einem ehemaligen Verteidigungsstaatssekretär, SPD) und Antje Vollmer (ehemalige Bundestagsvizepräsidentin, Grüne); erschienen im Dezember 2014 in Die Zeit; unterschrieben bekanntlich von mehr als 60 Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kultur, Kirchen und Medien. Geballte Prominenz. Alles bekannte Namen, darunter auch große, Elite quer Beet. Keine anonymen Schmierfinken. Eine Kernpassage des Textes lautet:
„Der Ukraine-Konflikt zeigt: Die Sucht nach Macht und Vorherrschaft ist nicht überwunden. 1990, am Ende des Kalten Krieges, durften wir alle darauf hoffen. Aber die Erfolge der Entspannungspolitik und der friedlichen Revolutionen haben schläfrig und unvorsichtig gemacht. In Ost und West gleichermaßen. Bei Amerikanern, Europäern und Russen ist der Leitgedanke, Krieg aus ihrem Verhältnis dauerhaft zu verbannen, verloren gegangen. Anders ist die für Russland bedrohlich wirkende Ausdehnung des Westens nach Osten ohne gleichzeitige Vertiefung der Zusammenarbeit mit Moskau, wie auch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Putin, nicht zu erklären.
In diesem Moment großer Gefahr für den Kontinent trägt Deutschland besondere Verantwortung für die Bewahrung des Friedens. Ohne die Versöhnungsbereitschaft der Menschen Russlands, ohne die Weitsicht von Michael Gorbatschow, ohne die Unterstützung unserer westlichen Verbündeten und ohne das umsichtige Handeln der damaligen Bundesregierung wäre die Spaltung Europas nicht überwunden worden. Die deutsche Einheit friedlich zu ermöglichen, war eine große, von Vernunft geprägte Geste der Siegermächte. Eine Entscheidung von historischer Dimension. Aus der überwundenen Teilung sollte eine tragfähige europäische Friedens- und Sicherheitsordnung von Vancouver bis Wladiwostok erwachsen…Auf der Grundlage gemeinsam festgelegter Prinzipien und erster konkreter Schritte sollte ein ‚Gemeinsames Europäisches Haus’ errichtet werden, in dem alle beteiligten Staaten gleiche Sicherheit erfahren sollten. Dieses Ziel ist bis heute nicht eingelöst. Die Menschen in Europa müssen wieder Angst haben.“
Gewählte Sprache, gehobener Tonfall. Eine Getragenheit, Feierlichkeit, die sich spürbar an sich selber erbaut. Aber lassen wir das. Der Einspruch gegen ein Manifest dieses Gewichts oder doch dieses Anspruchs muss sofort kommen oder gar nicht. Nehmen wir hier lieber zur Kenntnis, was Wladimir Jasskow zu sagen hat: Lyriker, Übersetzer und Essayist in Charkiv, 1957 in der Ukraine geboren und im Ural aufgewachsen. Er hat umgehend auf den Aufruf geantwortet – in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Wer solche Feinde hat, braucht keine Freunde mehr“. (14. Januar 2015) Der Autor kennt nur einen von den Unterzeichnern des Aufrufs: Wim Wenders. Und den spricht er auch direkt an :
„Herr Wenders, ich wende mich an Sie, weil Sie von allen, die diesen unsäglichen Brief unterzeichnet haben, der Einzige sind, den ich sozusagen kenne: Darin liegt die Kraft der Kunst, dass sie den Künstler seinem Publikum bekannt macht. Nie werde ich vergessen, wie bezaubert ich von Ihrem Film ‚Alice in den Städten’ war. Diese Bezauberung ist bis heute nicht verrauscht, für mich ist dieses meditative Kammerstück ein Meisterwerk, das seinen Platz in der Geschichte des Weltkinos sicher hat. Dieser Film lebt, weil er das Wichtigste in der Seele jedes Menschen anspricht, das Mitgefühl. Und Mitgefühl ist genau das, was dem von Ihnen unterzeichneten Brief fehlt.
Dort findet man alles Mögliche: tiefschürfende Feststellungen, dass der Frieden gut sei und der Krieg schlecht; die kaum verhohlene Sorge um Sicherheit, also die europäische, deutsche und anscheinend Ihre eigene; Angst vor Putin und Unzufriedenheit mit Frau Merkel, die zu wenig Feingefühl für die Unzufriedenheit Russlands zeige…Nur eines fehlt: das Mitleid mit jenen friedlichen Menschen, die seit über einem halben Jahr getötet werden – von der regulären russischen Armee und ihren Sondereinheiten für Aufklärung und Sabotage sowie Söldnern, die zwar formal ‚unabhängig’ sind, aber vom Kreml versorgt und geführt werden.
Der von Ihnen mitunterzeichnete Brief ist erstaunlich oberflächlich und voller Allgemeinplätze. Jene, die ihn geschrieben haben, scheinen es gewohnt, viel zu reden, ohne dafür haftbar gemacht zu werden, das, was man bei Ihnen in Deutschland ‚Blabla’ nennt…
Ich würde mich an Ihrer Stelle fragen, ob es richtig ist, das Grauen, das sich 250 Kilometer von meinem Wohnort abspielt, als ‚Ukraine-Konflikt’ zu bezeichnen. Es ist kein Konflikt, sondern ein Krieg, vom Aggressor zynisch nicht als solcher benannt und nicht minder zynisch geleugnet. Dieser Krieg kann nur insofern noch nicht als Krieg im vollen Sinne bezeichnet werden, weil Russland ukrainisches Territorium bislang nicht aus der Luft bombardiert. Alles andere – von Raketenwerfern bis hin zu Boden-Luft-Raketen (der berüchtigten ‚Buk’) – wird eingesetzt und hat bereits Tausende Menschenleben gekostet. Nicht die Vereinigten Staaten und nicht Deutschland waren es, die am Himmel über der Ukraine dreihundert Menschenleben ausgelöscht haben. Das hat sehr fachmännisch (und man benötigt dafür eine hohe Qualifikation) Russland im Zuge des unerklärten russisch-ukrainischen Krieges besorgt, den Sie als ‚ukrainischen Konflikt’ bezeichnen…Herr Wenders, Sie als Künstler wissen, dass das Verschweigen eine unangenehme Eigenschaft besitzt. Es wird bisweilen, meist zur unpassenden Zeit, beredt oder gar schreiend laut. Nur scheinbar bringen Sie es nicht über die Lippen, den wahren Verursacher dieser geopolitischen Katastrophe, in die wir alle mit hineingerissen werden, beim Namen zu nennen. In Wirklichkeit unterstreichen Sie mit diesem Brief wiederholt, dass Sie sich weigern, einen Unterschied zwischen dem Angreifer und dem sich Verteidigenden, zwischen Vergewaltiger und Vergewaltigtem, zu sehen. So wird schöngeistiger Humanismus zum inhumanen Relativismus. Indem Sie, die Wahrheit verwischend, die Verantwortung auf alle gleichmäßig verteilen, spielen Sie de facto den Advocatus Diaboli. Die erhabenen Worte vom Frieden durchdringt zuweilen das schrille Falsett des Zynismus.“
Auch ich kenne nur einen der Unterzeichner: Georg Schramm. Was heißt hier kennen, wir sind seit Jahrzehnten miteinander befreundet. Die fundamentale Kritik meines Freundes an unserem Staat teile ich nicht, sie hatte in meinen Augen immer eine populistische Schlagseite. Aber ich verehre Georg Schramm als Künstler. Die Texte und die Auftritte Georg Schramms auf der Bühne – der kleinen wie der großen – sind mir unvergesslich. Vor allem die leiseren. Wie die Figur des alten Sozialdemokraten, der nicht mehr weiß, wo er als Arbeiter, als Mensch da gelandet ist. Oder – im letzten Solo-Programm – der Monolog über Demenz. Über unsere tierische Angst davor. Ein Text, den manche für Kitsch halten, ich nicht, für mich ist es Literatur. Warum habe ich es also nicht so gemacht wie Jasskow? Warum habe ich Georg Schramm nicht ins Gesicht gesagt: Warum unterschreibst Du diese aalglatte, eisige, selbstgerechte, selbstverliebte, verlogene Suada über den Frieden? Zusammen mit Gerhard Schröder. Dein eigener ruppiger, altpreußischer Dombrowski mit seiner unvergleichlichen Wachheit für Lug und Trug in Deutschland dreht sich da doch im Grabe herum. Aber Verzeihung, der ist ja noch gar nicht gestorben. Es hätte Stil gehabt.
III.
Auf festeren Boden gelange ich mit meinem methodologisch dubiosen „Wir“ wohl erst, wenn ich damit die Altachtundsechziger meine und umreiße. Das, was von uns politisch noch übrig ist. Mit Blick auf die Ukrainefrage sieht es ganz so aus, als sei es eher wenig. War unser Anliegen nicht einmal Demokratie? Nachholende Demokratisierung? Ulrich K. Preuß schreibt jetzt rückblickend dazu: „So kann man im Bezug auf die durch ´68 symbolisierten Ereignisse und Veränderungen von einer Transformationskrise der Demokratie sprechen. Denn die Zuspitzung der politischen und kulturellen Konflikte zwischen den in den Institutionen des 1949 neu begründeten Staates etablierten Kräften der Restauration und der Beharrung und vor allem in der Jugend vertretenen Protagonisten der geistigen Öffnung des Landes für neue Weltwahrnehmungen und Lebensformen hat nachhaltige Veränderungen der politischen Kultur und des demokratischen Systems der Bundesrepublik hervorgebracht. – Dazu gehören vor allem drei Elemente: die Überwindung eines staatsfixierten Begriffs politischer Öffentlichkeit, die Einforderung der Rechtfertigung öffentlich relevanten Handelns jenseits der formalen Verfahren staatsbezogener Legalität sowie die Etablierung neuer sozialer Bewegungen als Säule demokratischer Gesellschaftlichkeit.“ („When they go low, we go high“, in: Wetterbericht : 68 und die Krise der Demokratie. Hrsg. von Susanne Schüssler, Berlin 2017). Nicht zu wohlwollend, zu üppig? Halten wir neben diese Würdigung die bittere Frage Karl Schlögels – einst auch einer von uns – , warum sich diese Generation von früher einmal ziemlich feurigen Demokraten heute auch nicht mehr aus dem um sich selber kreisenden deutschen Einerlei heraushebt:
„Für all das, was sich zwischen November und März (2013/2014 in Kiew, E.K.) abgespielt hat, gibt es nur wenige Vergleichsbilder (es gab einmal eine Zeit, in der es noch keine Bilder gab von solchen Ereignissen) – die Pariser Commune, ja auch die Revolutionen in Russland, die Aufstände in Berlin 1953, in Posen und Budapest 1956, auch Prag 1968. Die Frage ist, warum die Generation, die sich durchaus an den Pariser Mai erinnert, zu Kiew weitgehend stumm blieb und warum es für die elementaren Befunde wie Zivilcourage, Mut, für die Tapferkeit, es mit der Gewalt eines korrupten Regimes aufzunehmen, keine Worte gab und warum selbst die spärlichen Sympathieerklärungen noch von reflexiven Hemmungen, Einschränkungen und Bedenken gedämpft waren. Wir wissen es: die Äußerungen von Victoria Nuland über Waffenlieferungen in die Ukraine, die Milliarden, die die USA in den Aufbau von NGOs gesteckt haben sollen, die Bandera-Plakate gleich neben der Bühne auf dem Majdan und vieles mehr. Aber all das – ob Gerücht oder der Wirklichkeit entsprechend – macht die Bilder von der ‚Revolution der Würde’ nicht ungeschehen. – Inzwischen ist mehr als ein Jahr vergangen, aber es nicht zu spät, sich noch einmal dem Majdan und vor allem unserer Haltung zu ihm zuzuwenden, nicht in der Absicht, ihn zu romantisieren oder revolutionstheoretisch zu überhöhen, sondern um Anschluss zu finden an eine Gegenwart, die hinterrücks über uns hereingebrochen ist.“ (Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen, München 2015,S.72 f.)
Doppelte Standards, verlorene Maßstäbe? Die Demokratie im postfaschistischen Deutschland verteidigen, erweitern, vertiefen; die Demokratie in der postsowjetischen Ukraine vergessen? Die Stimmen der Linksliberalen mit wie immer verblasstem 68er Hintergrund fehlen. Eine Kraft, die Deutschland aufrütteln könnte, ist nicht in Sicht. Die Linke um die Linkspartei fällt ganz aus. In Deutschland setzt sie sich für eine Demokratie der sozialen Gerechtigkeit ein – der korrupte, parasitäre, seit 1912 zunehmend diktatorische Charakter des Regimes in Russland ist hingegen kein Thema für sie. Dafür um so mehr und lauter der Umbruch in der Ukraine, der aus ihrer Sicht von Rechtsradikalen und Faschisten dominiert wird. Außenpolitisch geben in der Partei, mit der unvermeidlichen Wagenknecht vorneweg, die „Putin-Versteher“ den Ton an. Wo das Verständnis schwinden mag – wie in Syrien, verleugnet man es und hält sich eisern bedeckt. Die Sozialdemokratie wiederum mit ihrem Erbe der unbestritten einmal kreativen und erfolgreichen „Ostpolitik“ stellt das eigentliche politische Kraftzentrum der Denkblockade Richtung Russland dar. Putin ist für sie ein „Partner“, ohne den nichts geht. Er ist und er bleibt es – egal, was er macht. Wenn er seinem Krieg gegen die Ukraine eine militärische Intervention in Syrien hinzufügt – an der Seite Assads, des schlimmsten Schlächters der Gegenwart, dann gibt es ohne ihn keine „politische Lösung“ in Syrien. So wie es ohne ihn auch schon keine intakte und freie Ukraine gab. Ohne den Zerstörer keinen Wiederaufbau. Das war das Mantra von Frank-Walter Steinmeier, dem beliebtesten deutschen Außenminister seit Menschengedenken. Unsere eigene Bilanz ist ernüchternd. Manches an unserer Protestbewegung von damals erscheint im Nachhinein als Selbstüberschätzung und Realitätsverlust. Alles in allem sind wir auch auf dem Höhepunkt unserer öffentlichen Entfaltung ein Völkchen für sich geblieben. Aber gebraucht würden wir heute schon.
Oder muss man angesichts unseres Verstummens im Fall Ukraine eher von weganalysierten, wegtheoretisierten Maßstäben sprechen? Hätten wir unseren Demokratiebegriff, unseren Glauben an die Demokratie auch und gerade im Kapitalismus mittels Kapitalismuskritik im Laufe eines halben Jahrhundert selber ausgehöhlt, untergraben, ruiniert? Dann hätten wir uns als reaktionsfähige, handlungsbereite Demokraten selber neutralisiert und abgeschafft, weil wir die unaufhebbare, strukturbedingte Unvollkommenheit, Begrenztheit, die immer wieder neu durchschlagende Machtlosigkeit aller Demokratie im Kapitalismus nicht ausgehalten und verkraftet haben. Wir hätten verdrängt, dass wir gar nichts Anderes, Besseres haben und haben werden als die kapitalistische Demokratie. Oder andersherum: als den demokratisch gezügelten und gezähmten Kapitalismus. Wir wären eine Art bundesdeutscher „Intelligencija“ geworden: moralisch rigoros, aber politisch starr, elitär, hermetisch selbstbezogen, praxisfern bis zur Sterilität, wie Karl Schlögel es für das russische Original im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert dokumentiert hat. (Jenseits des Großen Oktober. Das Laboratorium der Moderne – Peterburg 1909-1921, Berlin 1988). Es war dann aber, peinlich es zu sagen, eine Intelligencija ohne Zarismus, ohne Verfolgung, ohne Verbannung, ohne Zwangsarbeit, ohne Not. Mit der Zeit hätten wir so erloschene politische Superskeptiker oder Zyniker oder Kannegießer aus uns gemacht. Das weitgespannte Werk des französischen Demokratieforschers Pierre Rosanvallon kann einen auf diesen Gedanken bringen. Es stellt sich dieser unweigerlich enttäuschenden, entmutigenden Crux der modernen westlichen Demokratie – und zwar gerade nicht, um sie zu entlarven, zu denunzieren, sondern ganz im Gegenteil: um sie zu rehabilitieren, um ihre keineswegs erschöpften, vitalen Entwicklungs- und Erneuerungsmöglichkeiten auszuloten, kurz: um sie vor den vulgären Kurzschlüssen und Vereinfachungen jeder Couleur zu retten. (Die Reihe der vier Demokratie-Studien von P. Rosanvallon ist im Verlag Hamburger Edition auf deutsch erschienen.)
IV.
Die Rede ist hier nicht von einer versteinerten Mentalität, sondern von laufender Geistesgeschichte. Die Dinge könnten auch in Fluss geraten. Die tragende geopolitische Konstruktion vom sich bedroht fühlenden, um die Wiederherstellung seiner Würde, um die Anerkennung seiner elementaren Interesse, um seinen legitimen Rang in der Welt ringenden Russland ist schwer unter Druck geraten. Sie begegnet einem immer noch in nahezu jedem politischen Gespräch über die Sicherheitslage in Europa. Sie ist dann immer noch sofort da, aber inzwischen eher reflexartig. Ist sie doch arg strapaziert worden. 2008, als Russland Georgien militärisch überwältigt und Südossetien und Abchasien besetzt. Dann kam der blutige Angriff auf die Ukraine, der unsere Sinnstiftung paradoxerweise wild gemacht hat, statt sie zu dämpfen und zu demoralisieren. Dann die Intervention in Syrien, die sich bereits wie Mehltau auf unser weltpolitisches Räsonnieren legte. Hätten die russischen Bomben tatsächlich dem IS und den anderen islamistischen Kampfverbänden in Syrien gegolten, hätten sie sich noch in die selbst schon genügend zweifelhafte, genügend perspektivlose Abwehrpolitik des Westens eingefügt. Aber das war eine Lüge, die russischen Angriffe galten den Rebellen gegen Assad. Lügen über Lügen, die Lügen im „hybriden“ Krieg gegen die Ukraine liegen längst nackt vor den Augen der Welt. Sie zerfressen, sie zersetzen die tragische Mär vom defensiven Putin. Dass jetzt auch in Washington ein notorischer Lügner sitzt, macht die Sache nicht besser. Die massive Erfahrung, dass der hemmungslose politische Nihilismus keine Spezialität des Kreml mehr ist, ist kaum ein Trost für unsere Putin-Apologeten. Sie könnte gut über uns allen zusammenschlagen und unser jeweiliges Weltbild unter sich begraben.
Die Doktrin von der primären Verantwortlichkeit der EU, der NATO, des Westens für die Katastrophe in der Ukraine mag sich hierzulande zäh halten. Aber sie ist nicht mehr in der Lage, die gesamte Innenpolitik Russlands außen vor zu halten. Was das Putin – Regime ist und wie es seine Macht über Russland sichert, wird der sperrigen deutschen Öffentlichkeit jede Woche in detaillierten, seriös recherchierten Informationen aufgenötigt und zugemutet. Da nützt auch keine Propaganda, und sei sie noch so raffiniert. Wer lesen will, kann mit den bahnbrechenden Büchern von Ulrich Schmid (Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der Gegenwartskultur, Berlin 2015) und Peter Pomerantsev (Nichts ist wahr und alles ist möglich, München 2015) einen intimen Einblick in die Funktionsweise dieses Herrschaftssystems gewinnen.
Schließlich ist dem realitätsblinden Paradigma von der exemplarischen Opferrolle Russlands seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion auch die erinnerungspolitische Unterfütterung abhanden gekommen. Dem geo-und sicherheitspolitischen Diskurs lag immer auch ein Geschichtsbild, ein Versuch der Erinnerung zugrunde. Die Deutschen von heute wollen bekunden, dass sie den rassistischen Vernichtungskrieg Deutschlands gegen die Sowjetunion niemals vergessen werden. Und hier ist das „Wir“ nun wirklich einmal ohne Abstriche adäquat. Wir haben fast alle immer nur von den Russen als den Leidtragenden dieses verbrecherischen Krieges gesprochen. Jahrzehntelang, ohne Bedenken, ohne Bewusstsein, ohne zu merken, dass wir dabei die Ukrainer als die Leidtragenden dieses Krieges übergehen. Die Wissenden und die freien Geister, die es immer und in jedem Land gibt, hatten keine Chance bei uns. Sie konnten einfach nicht zu uns durchdringen. Für eine ganze Epoche nicht. Es ist eine beschämend, ätzend verspätete Erkenntnis. Für eine Gesellschaft, die sich auf die kritische Aufarbeitung ihrer Geschichte doch Einiges zu gute hält. Es bedurfte dazu nicht weniger als der Erschütterung Europas und seiner Lebensordnung durch ein Russland, das wieder auf Nationalismus, Gewalt und Krieg setzt.