Gedenken gegen Erinnerung

Was man etwas vorschnell unsere „Zeitenwende“ genannt hat, in der wir auf einmal aus einer jahrzehntelangen bundesdeutschen Selbstbezogenheit „aufgewacht“ seien – einfacher gesagt: der russische Vernichtungskrieg gegen die Ukraine – zwingt uns zumindest eine geschichtliche Horizonterweiterung auf. Und konfrontiert uns so auch mit politischen Verhältnissen, in denen das Gedenken die Erinnerung nicht anregt, stützt und fördert, sondern sie im Gegenteil verschüttet und vernichtet. Einen exemplarischen Fall dafür bietet der amerikanische Historiker Charles King in seiner subtilen, auch literarisch herausragenden Geschichte der Stadt Odessa, die jetzt auch auf Deutsch vorliegt. (Odessa. Leben und Tod in eine Stadt der Träume, 2023, Edition Tiamat). Auf Grund ihrer für den Handel und Fernhandel günstigen geografischen Lage, ihrer multiethnischen Zugänglichkeit und soziökonomischen wie kulturellen Liberalität entwickelte sich die Stadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Metropole des regionalen und gesamtrussischen jüdischen Bürgertums und Großbürgertums. Das sich hier einmal nicht nur geduldet sah, sondern auch politisch präsent war, das heißt: über Einfluss und Macht verfügte und in mancher Hinsicht das letzte Wort hatte.

Wer sich in den Untergang dieser einzigartigen jüdischen Prominenz und Dominanz im frühen 20. Jahrhundert einfühlen möchte, kommt nicht an einem ihrer großen Schriftsteller vorbei: an dem Vordenker des Zionismus Vladimir Jabotinsky und seinem autobiografisch grundierten Roman „Die Fünf“ (1935, auf Deutsch 2012, Die Andere Bibliothek) Das Werk mag hierzulande nicht zum Kanon der Großen Literatur zählen, es ist ein Meisterwerk der modernen Weltliteratur.

Aber hier geht es schon nicht mehr um Niedergang, Abstieg und Zerfall zwischen Spätzarismus, Erstem Weltkrieg und bolschewistischer Revolution. Sondern bereits um Ausrottung. Um die systematische Verfolgung, Vertreibung, Deportation und Ermordung der jüdischen Bürger von Odessa im Zweiten Weltkrieg. Wie sie in diesem Fall nicht direkt von den Nazis, sondern in Übereinstimmung mit Hitler-Deutschland von der rumänischen Besatzungsmacht durchgeführt worden ist. Und wie sie dann nach dem Zweiten Weltkrieg von den Entscheidungsträgern der siegreichen Sowjetunion im Interesse und im Zuge propagandistischer Systemstabilisierung und politisch- ideologischer Selbstverherrlichung so gut wie wegmanipuliert wird. Charles King zeigt in großer Dichte, Quellennähe und begrifflicher Feinheit auf, wie aus der realen Stadt, die unter dem Druck totalitärer Gewaltherrschaft stand, jetzt eine strahlende sowjetische „Heldenstadt“ gemacht wird.

Zum Beispiel in erbaulichen, amüsanten und sentimentalen Kriegsfilmen – mit so tapferen wie treuherzigen und gemütsvollen jungen Soldaten in den Hauptrollen, an denen sich ganz Russland erfreut und erwärmt – verschwindet die Stadt, die sich angstvoll anpasst; die sich notgedrungen unterwirft; die mit der faschistischen Macht in allen möglichen Varianten kollaboriert; die sich im durchaus typischen und massenhaften Phänomen der Denunziation kompromittiert. „Aber ‚Odessa-Mama’ – die verheißungsvolle und herzliche Mutterstadt, die von sowjetischen Schlagersängern und Schriftstellern gepriesen wurde – diente nun dazu, die schwierigen Realitäten, die den Ort in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts geprägt hatten, auszublenden. Die sowjetische Version des Odessa-Patriotismus überdeckte eine dunkle Vergangenheit: die unausweichliche Tatsache, dass das jüdische Erbe, das nun zumeist in verschlüsselter Form zelebriert wurde – in zahllosen Geschichten, Romanen, Theaterstücken, Filmen, Witzbüchern, Konzerten, Musicals und anderen Schmähungen – im Gedächtnis derer, die es wiederherstellen wollten, ausgelöscht worden war.“

Das Gedenken ist hier nur Kitsch, Nostalgie, Lüge. Wir hatten nach dem Krieg entschieden mehr Glück als unsere sowjetischen Zeitgenossen. Anders als sie hatten wir die Chance, eine vertretbare, eine im Ansatz um Aufklärung bemühte Erinnerungskultur aufzubauen. Wenn wir auch Jahrzehnte gebraucht haben, eher wir uns in unserem Denken und Lernen an die realen Orte der deutschen Verbrechen in Osteuropa begeben haben. In Westdeutschland jedenfalls. Auch für die von sich selbst so überzeugten „68er“ war die Frage lange Jahre immer nur gewesen: Warum hatte der Nationalsozialismus in Deutschland an die Macht kommen können? „Auschwitz“ war eine Chiffre, ein Symbol, keine konkrete Wirklichkeit.

Inzwischen, mit der Invasion Russland in die Ukraine, ist dieser Standardblick auf unsere Zeitgeschichte fragwürdig geworden. Er ist besser gesagt erschüttert worden. Heute wird sich kaum mehr jemand bei uns etwas auf unsere „Vergangenheitsbewältigung“ einbilden – so viel ernstgemeinte internationale Anerkennung sie auch gefunden hat. Was selbst die ukrainischen Großstädte betrifft – abgesehen vielleicht nur von Kiew-, sind die deutschen Verbrechen vor Ort hierzulande bis heute Neuland unserer Erinnerung. Auch für viele historisch interessierte und verantwortungsbewusste deutsche Bürger. Es handelt sich um eine tief verankerte, in unserem Horizont, in unserer halbierten Integrität, in unserem Bild von der Welt, in unserem Begriff von Europa angelegte Ignoranz. Unser eingeübtes, etabliertes Gedenken an die Deutschen den Zweiten Weltkrieg war und ist kein Lug und Trug. Aber es war und ist doch selektiv, und zwar verbohrt selektiv. Es war und ist verkrüppelt. So, wie es ist, kann es keinesfalls Bestand haben. Es für die erreichbare, unerschlossene, gleichsam brachliegende, wartende Erinnerung aufzuschließen, bleibt die Aufgabe.