Primo Levi über die Erinnerung

Ernst Köhler

1.

„Die ersten Berichte über die nationalsozialistischen Vernichtungslager begannen sich im Entscheidungsjahr 1942 zu verbreiten. Sie waren vage, stimmten aber untereinander überein: Sie ließen eine Massenvernichtung von einem derartig großen Ausmaß, von einer so unvorstellbaren Grausamkeit, mit so verworrenen Motivationen deutlich werden, dass die Öffentlichkeit, gerade wegen ihrer Ungeheuerlichkeit, dazu neigte, sie nicht zu glauben. Es ist bezeichnend, dass diese Ungläubigkeit von den Schuldigen selbst lange vorausgesagt wurde. Viele Überlebende erinnern sich daran…, was für ein Vergnügen es den SS-Leuten bereitete, den Häftlingen zynisch vor Augen zu halten: ‚Stellen Sie sich nur vor, Sie kommen in New York an, und die Leute fragen Sie: Wie war es in den deutschen Konzentrationslagern? Was haben sie da mit euch gemacht? Sie würden den Leuten in Amerika die Wahrheit erzählen. Und wissen Sie, was dann geschehen würde? Sie würden Ihnen nicht glauben, würden Sie für wahnsinnig halten, vielleicht sogar in eine Irrenanstalt stecken… Sonderbarerweise taucht dieser Gedanke…in Gestalt nächtlicher Träume aus der Verzweiflung der Häftlinge auf. Beinahe alle erinnern sich, entweder im Gespräch oder in ihren Aufzeichnungen, an einen Traum, der sich in den Nächten der Gefangenschaft häufig einstellte, unterschiedlich in den Einzelheiten, aber im Wesentlichen immer gleichbleibend: Sie waren nach Hause zurückgekehrt, erzählten mit Leidenschaft und Erleichterung einer ihnen nahestehenden Person von den vergangenen Leiden und sähen, dass ihnen nicht geglaubt, ja nicht einmal zugehört würde. In der typischsten (und grausamsten) Version wandte sich der Angesprochene ab und ging schweigend weg.“

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