Das Existenzrecht der Ukraine ist nicht verhandelbar. Oder gilt das etwa nur für das Existenzrecht Israels, das in Deutschland nur Antisemiten in Frage stellen? Wenn wir es nur für Israel gelten lassen wollten, blieben wir dann nicht im Bann einer fragwürdigen deutschen Erinnerungskultur? Wir würden uns nicht vom Recht, nicht vom Völkerrecht leiten lassen, sondern von einer speziellen, hierzulande für Jahrzehnte etablierten, erinnerungspolitischen Orientierung: von unserem Gedenken an den Holocaust. „Erinnerung“ sollte man dieses besondere Schuldbewusstsein besser nicht nennen, es wäre zu hoch gegriffen. Timothy Snyder hätte sein klassisches Buch „Bloodlands“ für uns umsonst geschrieben: das in Deutschland lange Zeit unbekannte, richtiger: ausgeblendete Schicksal der Ukraine unter der Herrschaft NS-Deutschlands wäre uns vergeblich aufgezeigt worden.
Die Ukraine schaffe es aber erkennbar nicht, so wird immer wieder argumentiert. Sie müsse zumindest die Krim an Russland abtreten. Vielleicht auch die anderen besetzten (und bereits von Russland offiziell annektierten) Gebiete im Süden und Osten des Landes. Um endlich den verbrecherischen Krieg gegen sich: gegen die ukrainische Zivilbevölkerung und ihre Lebensgrundlagen zu stoppen. Es ist dies eine Position, die Anteilnahme und Menschlichkeit für sich beansprucht und auch beanspruchen kann. Wenn sie auch maßgebliche Elemente der amerikanischen und europäischen Ukrainepolitik unterschlägt: wie die gezielte Verschleppung in der Lieferung bestimmter weittragender Waffen an das bedrohte Land. Wie das dem Opfer auferlegte Verbot, die westlichen Waffen in Russland selbst einzusetzen. Es wäre bei aller Empathie für das unerhörte Leid der Menschen in der Ukraine ein Humanismus, der seinen politischen Kontext verschweigt und verleugnet. Es wären mit Sicherheit weniger ukrainische Zivilisten gestorben und verletzt worden, wenn das ukrainische Militär den Krieg wie einen Krieg hätte führen können und die logistischen Zentren des russischen Aggressors hätte angreifen dürfen.
Bisher hält man freilich noch daran fest – auch in Berlin, wenn auch nicht, jedenfalls nicht verlässlich, in der SPD, dass die letzte Entscheidung bei der der Ukraine bleiben müsse. Sie dürfe ihr nicht abgenommen, nicht aufgezwungen werden.
Es wäre eine Katastrophe, wenn sich das Land in der übergroßen, nicht länger zu ertragenden Not dazu gezwungen sähe, sich amputieren, sich aufteilen zu lassen. Etwa, wie Selenskyi es gesagt hat: nach einem Referendum des ganzen Volkes; der Präsident, die Regierung allein könne es keinesfalls entscheiden. Es würde zunächst einmal Millionen von Menschen einem Terrorstaat überantworten. Einem Staat, der ihre nationale und kulturelle Identität nicht anerkennt. Es würde diese Menschen diesem System definitiv ausliefern. Für eine unabsehbare Epoche. Solange die russische Gewaltherrschaft existiert. Aber auch die freien Gebiete der Ukraine blieben weiterhin fundamental gefährdet. Es wäre nach allem, was das Putin-Regime kennzeichnet und ausmacht, nur eine zutiefst prekäre, wenn nicht überhaupt unhaltbare und zukunftslose Zwischenlösung. Der Vergleich Putins mit Hitler kann historisch betrachtet immer nur eine Annäherung sein. Hier trifft er dennoch ins Schwarze. Um noch einmal mit Timothy Snyder zu sprechen: Jener Kompromiss „Land gegen Frieden“ wäre der Versuch, die Ukraine auf Dauer in einer Situation zu erhalten, zu schützen und zu sichern, wie sie 1938 für die von Hitler überfallene Tschechoslowakei nur für eine kurze Frist Bestand hatte.