Totale Macht über den Menschen

Ernst Köhler

Über den Gefängnisbericht des chinesischen Schriftstellers Liao Yiwu.

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Liao Yiwu: Für ein Lied und hundert Lieder. Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann, Frankfurt am Main 2011 (S. Fischer Verlag), gebunden, 592 Seiten, 24,95 €

„Ehrlich gesagt, bevor ich im Knast gewesen bin, hatte ich im Grunde keine Ahnung von Politik, bis heute habe ich keine nennenswerten reiferen politischen Ansichten. Ich bin Individualist, das Vagabundentum steckt mir noch im Blut, und nur als es zu einer dramatischen Kollision zwischen der Staatsideologie und meiner Eigenart als Dichter gekommen ist, blieb mir nichts anderes übrig, als mich zu wehren und sogar bis zur Selbstzerstörung Widerstand zu leisten. Ich kann keine Regierung akzeptieren, die aus Henkern besteht … Ich bin jemand, der sich an seine Todfeinde erinnert …“. Das sagt Liao Yiwu im Gefängnis einmal zu einem anderen politischen Gefangenen.

Der Leser dieses Erfahrungsberichts aus chinesischen Gefängnisses in den 90er Jahren – in der Phase unmittelbar nach dem Massaker vom 4.Juni 1989 in Peking – kann es nur als Glücksfall empfinden, dass der Autor so bei sich selbst bleibt. Die hier vorgelegten Erinnerungen werden so zu einem persönlichen, intimen Zeugnis jenseits bloßer politischer Analyse und Aufklärungsabsicht. Es ist die reine Defensive gegen das Vergessen. Man kann dieses Werk nicht in einem Zug lesen. Was dieses Regime mit seinen Gefangenen macht, und was die Gefangenen mit sich selber machen, tritt hier in einer imaginativen Sprache vor uns. Sie arbeitet immer wieder mit einer expressiven oder visionären Bildhaftigkeit. Es ist die Verfremdung und Destruktion der gewohnten sachlichen Darstellung im Interesse der Annäherung an eine kaum vorstellbare Wirklichkeit.

Liao Yiwu hat nicht aufgehört ein Dichter zu sein, als er nach der militärischen Repression der Studentenbewegung glaubt, künftig keine Gedichte mehr schreiben können. Wenn die Willkür der Staatsmacht, die Ungerechtigkeit der politischen Ordnung so heillos ist wie im China dieser Jahre, dann gerät für diese Sprachkunst auch der Kosmos aus den Fugen. Alles ist dann verkehrt, alles pervers. Der Himmel selbst driftet in ein unkontrollierbares Chaos ab. Für einen chinesischen Leser dürfte die übergreifende Verknüpfung der Unordnung auf der Erde und im Weltall vertrauter sein als für uns.

Dabei ist es das China Deng Xiaopings und seiner im Westen bis heute hochgeschätzten Wirtschaftsreformen. Das jetzt in der literarisch kongenialen Übersetzung von Hans Peter Hoffmann vorliegende Buch von Liao Yiwu stößt uns auf die Gleichzeitigkeit von kapitalistischer Reform und totalitärer Machtsicherung der kommunistischen Partei. Dass der Text überhaupt zu uns gelangt ist – von seinem Autor immer wieder versteckt, dreimal neu geschrieben, schließlich zuletzt nach Deutschland hinausgeschmuggelt, ist fast ein Wunder. Das Nebeneinander, die funktionale Verklammerung der beiden kommunistischen Strategien – Entfesselung der Wirtschaftskräfte, Abwürgen jeder Demokratisierung – war im Prinzip bekannt. Aber nur in der abstrakten, klischeehaften Form, wie sie uns schon unsere Interessenlage nahe legte. So ist etwa die bei Liao Yiwu dokumentierte tiefe Resonanz der protestierenden Studenten in der breiteren Bevölkerung bei uns kaum zur Kenntnis genommen worden. Es gab und gibt auch eine chinesische Spielart dieser Halbverdrängung und Gleichgültigkeit. Bei Liao Yiwu nimmt sie sich so aus: „Elf Jahre, eine Demokratiebewegung von gewaltigen Dimensionen hat sich in nichts aufgelöst, eine Seifenblase, die politischen Gefangenen … bilden ein nicht gerade glorreiches Erbe der Gesellschaft und werden von der überwiegenden Mehrheit der Menschen, die dafür gelobt werden, ‚nicht zu viel nach Politik zu fragen’, abgelehnt – von denselben, die sich einmal in Massen und begeistert in die Politik der Straße gestürzt haben!“

Das erste Kapitel des Buches („Es geschah am Ostfenster“) ist noch in einem anderen Ton gehalten. Das Volk in seiner Vielstimmigkeit ist hier noch präsent. Es ist noch nicht eine zynische, entpolitisierte Masse. Der Autor ist (formell) damals noch in Freiheit, wenn er sich wegen seiner im Land bald berühmten großen Gedichte „Massaker“ und „Requiem“ – beide im Text dokumentiert – auch schon intensiv verfolgt sieht. Man bedauert etwas, dass die Einschübe über das jahrelange, schubhafte Schreiben an diesem Zeitdokument eher selten bleiben und in der Regel knapp ausfallen. Die mit dem zweiten Kapitel einsetzende dichte, sinnlich detaillierte Beschreibung der Qual der auf engstem Raum zusammengedrängten und oft zur Strafe auch noch an ihren Gliedmaßen gefesselten Gefangenen erdrückt diese Reflexion dann fast ganz. Erst im letzten Kapitel („Zur Umerziehung durch Arbeit“) öffnet sich der Text wieder dafür.

Die Methodik der Entmenschung von Menschen, deren sich die chinesischen Kommunisten bedienen, ist aber auch unfassbar. Sie lassen die Gefangenen auf weite Strecken hin von Gefangenen verwalten, beherrschen, unterdrücken, foltern, fertig machen. Die eigentliche Macht über dieser „Selbstverwaltung“, über den Marionetten-Despotien in jeder einzelnen Zelle, bleibt in der Hinterhand. Abgesehen von den unvermeidlichen Großinszenierungen des totalen Machtanspruchs über den Menschen, greift „die Regierung“, wie die Gefangenen das Gefängnisestablishment nennen, mit ihren Elektroknüppeln oder ihren unsäglichen anderen Disziplinierungsverfahren meist nur im Fall des Konflikts oder Aufruhrs ein.

Indirekte Verfahren der Herrschaftsausübung waren bekanntlich auch bei den Nazis in Gebrauch. Die chinesischen Machthaber können den Nazis durchaus das Wasser reichen. Sie sorgen dafür, dass in ihren Gefängnissen alles Böse, alle Verkommenheit, alle Infamie, das abgründige Rachebedürfnis einer uralten und niemals freien Gesellschaft zum Einsatz kommt. Es gibt trotz allem eine Grenze für diese von oben gesteuerte Selbstzerstörung. Das sind die „Toten“, wie im Jargon des Gefängnisses die zum Tode verurteilten Gefangenen bezeichnet werden. Wenn sie sich auf ihre Hinrichtung vorbereiten, können die Mechanismen des Kapo-Systems in der Zelle aussetzen und schweigen. Egal, wer dieser Todeskandidat ist und was er in seinem Leben getan hat – und sei er auch ein brutaler Frauenmörder gewesen: jetzt hört man ihm zu, jetzt übernimmt man seine Arbeitsleistung, jetzt hilft man ihm beim Essen, wenn es sein muss.

Über Abraham Sutzkever (1913 – 2010)

Ernst Köhler

„Wie hilflos bewegt sich ein Fremder in der unversehrten Stadt, die dennoch ausgelöscht wurde! Kaum einer vermag ihm Auskunft zu geben, wo er eine Spur finden könnte. Wilnas Bevölkerung scheint ausgewechselt nach dem Krieg … Den einzigen Hinweis, wo die alte Hauptsynagoge gestanden hat, erhält er von einem alten Juden, der Deutsch spricht und das Lager von Schiaulen überlebt hat.“ Das hatte Karl Schlögel 1986 über einen Besuch in Vilnius geschrieben.

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Abraham Sutzkever: Wilner Getto 1941 – 1944. Aus dem Jiddischen übertragen von Hubert Witt, Ammann Verlag, Zürich 2009, 22,95 €

Mit der Veröffentlichung zweier Bände mit Werken des jiddischen Dichters Abraham Sutzkever aus Wilna gibt uns der Züricher Ammann Verlag eine unvergleichliche Chance der Erinnerung. Es handelt sich um den Bericht „Wilner Getto 1941-1944“ und um eine Auswahl von Gedichten („Gesänge vom Meer des Todes“). Bericht und Gedichte sind von Hubert Witt, einem ausgewiesenen Kenner und Übersetzer jiddischer Literatur, erstmals ins Deutsche übertragen worden. Die vom Verlag vorgegebene und dann gemeinsam mit dem Übersetzer erweiterte Idee, dem Erfahrungsbericht Lyrik an die Seite zu stellen – lyrische Texte aus der Zeit der Katastrophe selbst, aber auch aus späteren Phasen dieses Schriftstellerlebens – kann man nur als glücklich bezeichnen. Die Gedichte hindern den Leser daran, den Bericht über die Verfolgung und Ermordung der Wilnaer Juden durch die Nazis und ihre litauischen Helfer einfach nur seinem gesammelten Wissen über den Holocaust zuzuschlagen. Sie verweisen, sie stoßen ihn auf etwas, was ihm beim Abheften als Erstes verloren ginge: auf die „Fassungslosigkeit“ der Erzählung, um mit Saul Friedländer zu sprechen. Der Erfahrungsbericht ist kein Tagebuch. Er ist im Nachhinein niedergeschrieben worden – am Ende des Krieges in Moskau, wohin man den bereits anerkannten Dichter aus den Wäldern um Wilna mit einem kleinen Flugzeug ausgeflogen und gerettet hatte. Aber der Text wählt die Form des Tagebuchs. Und umgekehrt eröffnet das Zeugnis auch dem durchschnittlichen Leser einen Zugang zu den Gedichten, die zur experimentellen, avantgardistischen Dichtung dieser Zeit und dieses Raumes gehören und sonst hermetisch bleiben könnten.

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Abraham Sutzkever: Gesänge vom Meer des Todes. Ausgewählt und aus dem Jiddischen übertragen von Hubert Witt, Ammann Verlag, Zürich 2009, 22,95 €

Vor allem in ihrem ersten Teil – „In den Klauen der Deutschen“ – sind diese Aufzeichnungen über die Auslöschung der Juden von Wilna große dokumentarische Literatur. Sie stellen die bereits vernichtenden Maßnahmen der Deutschen unmittelbar nach der Okkupation im Juni 1941 dar. Wiedergeben lassen sie sich nicht. Sie zeigen den verfolgten Menschen in seiner ganzen Ausgesetztheit. Und sie zeigen den Verfolger in seiner bestialischen Menschlichkeit. Es ist ein Massenmörder von Geist, mit einer raffinierten Seele; die historische Forschung wird dann Jahrzehnte brauchen, bevor sie zu ihm aufschließt. Der nationalsozialistische Massenmörder ist ein Initiant, ein Neuerer. Er bedarf keiner Anweisungen von oben. Auch zum Völkermord braucht er keinen Befehl, wie er nach dem Krieg behaupten wird. Der zweite Teil ist dem Ghetto gewidmet. Er ist in einem verhalteneren Stil geschrieben und zeichnet sehr genau die auf Desinformation und Verwirrung der Insassen abzielenden Herrschaftstechnik der Besatzer nach: mit dem gewollten Chaos von dauernd wieder veränderten Spezialausweisen und Berechtigungszetteln, die den Menschen immer wieder die Hoffnung auf eine Überlebensmöglichkeit machen und sie ihnen gleich wieder nehmen. Vor den schubweisen Deportationen aus dem Ghetto in den Tod versuchen sich die Menschen in die ausgeklügeltsten Verstecke zu retten, die sie mit der Zeit zu einer „unterirdischen Stadt“ ausbauen. Aber sie bauen sich auch über der Erde eine heimliche „Stadt“, eine vor der Macht verborgene Parallelwelt auf: mit einer Lebensmittelwirtschaft, mit einem Gesundheitswesen, mit sozialen Transferleistungen, Schulen und einem intensiven kulturellen Leben. Und da Abraham Sutzkever hier keineswegs nur Beobachter bleibt, sondern sich als Künstler, Mentor, Aktivist praktisch und höchst riskant engagiert, gehören die Passagen über zivile Selbstbehauptung unter den Bedingungen der Barbarei zu den schönsten des ganzen Buches. Ein dritter Teil ist schließlich dem bewaffneten Widerstand vorbehalten, dem sich auch Sutzkever anschließt. „Lasst uns nicht wie Schafe zur Schlachtbank gehen!“ Der berühmte, aber oft isoliert zitierte und fälschlich heroisierte erste Satz aus dem von Aba Kowner formulierten ersten Aufruf der Wilnaer Untergrundkämpfer (vom 1.Januar 1942) sieht sich hier in den Kontext gestellt, in den er gehört. Es ist der Bruch mit dem Illusionismus der Verzweifelten. Es ist die Erkenntnis, dass die Nazis die physische Vernichtung ausnahmslos aller Juden planen. Die unfassbare Wahrheit ist im jüdischen Wilna früher erfasst worden als anderswo in Osteuropa, früher als in Warschau etwa.

In einem Gedicht, das Abraham Sutzkever nach seiner Zeugenaussage vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg im Februar 1946 schreibt, wird es dann heißen: „Mein Volk, du musst dich für dein Schwert entscheiden, wenn Gott zu schwach ist für Gerechtigkeit.“ Aber die Verbindung dieses Dichters mit seinem Volk geht sehr viel weiter als bis zur Auseinandersetzung mit einem Gott, der ausfällt, wenn man ihn braucht. „Ich bin das Kind, das einen Grashalm trägt, während man es zur Erschießung führt“ („Abschied“, Wilner Getto – Narotscher Wälder, 1943-1944). Er trauert in diesen Texten nicht nur um Menschen, die er kennt, die ihm nahe stehen – wie seine Mutter, deren Festtagsschuhe er zufällig auf einem für den Transport nach Deutschland bestimmten Wagen voller Schuhe entdecken muss. Die fast mystisch anmutende Radikalität dieser Vereinigung mit dem unbekannten Anderen erschließt sich vielleicht am klarsten in dem kleinen Gedicht „Abend“ (Wilner Getto, 10. Januar 1943). Die Schlusszeile lautet: „ Es offenbart sich im Licht meiner Blindheit: Aus wie vielen Seelen besteht mein Ich…“.

Unvergessen. Über den Reformer Zoran Djindjic

Ernst Köhler

(zum Gedenktag in Konstanz am 20. März 2013)

Die jungen Leute, die dieses Gedenken hier initiiert und gestaltet haben – alle aus Serbien, haben ein Stichwort ausgegeben: keine „Idolatrie“, kein Kult. Erinnerung an den Mann, aber mit Blick auf das Land. Die politische Leistung Zoran Djindjics erschließt sich auch nur, wenn man sie in den Kontext der jüngsten Zeitgeschichte Serbiens stellt, nicht darin versenkt und verschwinden lässt, wie es Holm Sundhaussen, der Doyen der Serbien- Historiografie in Deutschland, in seinem an sich großartigen neuen Buch über „Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943 – 2011“ (2012) leider tut. Über Djindjic und sein Wirken finden sich hier nur ein paar flache Sätzchen. Aber auch nicht darüber stellt und den visionären, mutigen Politiker irgendwie idealisiert, zum Idol macht oder ins Monumentale oder Messianische emporhebt. Etwa dem heutigen Anlass zuliebe oder auch um der Freundschaft willen.

1.
Ich habe für diesen Beitrag den Band mit Interviews und politischen Texten aus den Jahren 2000 – 2003 wieder gelesen: „Serbien in Europa“ (Tanjug 2004). Sie sind eine wertvolle Quelle für die nüchterne, gleichwohl nicht nivellierende Würdigung des handelnden Politikers Zoran Djindjic. 1999/2000 war er aus meiner Sicht ganz bestimmt unersetzlich für sein Land. Es gab in Serbien keinen anderen Politiker von dieser Risiko- und Handlungsbereitschaft. Aber dann auch an der Regierung – nur gut zwei Jahre! Das muss ich mir selbst immer wieder vorhalten – hatte seine Entschlossenheit, das Land aus der Isolierung herauszuholen, nicht ihresgleichen in Serbien. Seine politische Führung war nach Konsequenz und Zielbewusstsein ein historischer Glückfall – wenn auch ein von vielen im Land unverstandener oder zu spät verstandener. Wer sonst hätte so zu den eigenen Leuten gesprochen – ohne Arroganz, aber auch ohne Schonung und Schönfärberei in die eigene zerrissene, verwirrte, paralysierte Gesellschaft hinein?

Etwas anderes ist das Bild von der serbischen Geschichte, das Djindjic im Kopf hatte. Auch hier der Topos von „den Kriegen, die wir gewinnen und dem Frieden, den wir verlieren“. Auch das Gesamtbild von den Kriegen der 90er Jahre ist bestenfalls schwankend. Es gibt hier luzide Einsichten wie die etwa, dass es ohne Milosevic wohl auch keinen Tudjman gegeben hätte. Aber es gibt auch die apologetische Neigung, die Verantwortung für diese Kriege gleichmäßig auf alle beteiligten Akteure umzuverteilen. Und ob Djindjic in der Kosovofrage über sich selbst und das politische Paradigma der serbischen Elite hinausgewachsen wäre, wenn er am Leben geblieben wäre, steht dahin. Es deutet nichts direkt darauf hin. Es sei denn, man berücksichtigt die grundlegende Tatsache, dass Zoran Djindjic für sein Land eine Politik der realen ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung entworfen und begonnen hat – das heißt: eine Politik jenseits der friedensvernichtenden, selbstzerstörerischen Obsession von der „nationalen Frage“.

Kritikpunkte gibt es also genug. Das ist auch nicht weiter überraschend. Kritikpunkte gibt es immer genug. Zoran Djindjic war nicht ganz frei von gelegentlichen Anwandlungen der Selbstüberschätzung wie nach der Bambi-Preisverleihung in Berlin. Er selbst nennt es „Euporie“. Aber das sind nur Momente der Schwäche und der Unausgeglichenheit. Immer wieder spricht er die Grenzen und die Ungewissheit seiner Politik und seines persönlichen Einsatzes ätzend scharf aus. Der Tonfall seiner öffentlichen Stellungnahmen wird immer angespannter, gereizter. Nicht selten scheint er sich am Rande der Müdigkeit, der Erbitterung, der Depressivität zu bewegen. Aber die Tatkraft, der Gestaltungswille überwiegt diese persönlichen Schwankungen. Boris Tadic hat Karadzic und Mladic ausgeliefert. Aber viel zu spät. Die Auslieferung Milosevics 2001 ist damit in ihrer aktuellen Tragweite nicht vergleichbar. Es war ein Durchbruch. Djindjic hat Milosevic, wie er gesagt hat, nicht gegen Geld eingetauscht, gegen Kredite (wie es unsere neunmalklugen Kommentatoren unterstellten), sondern gegen „Glaubwürdigkeit“. Die ungerührte Verteidigung der unvermeidlichen Zusammenarbeit mit den großen Finanzinstitutionen der Welt, mit der Djindjic sich gegen die in Serbien wuchernde, abartige Mischung von ethnozentrischer Wehleidigkeit und Verschwörungstheorie stellt – öffentlich, konfrontativ stellt, ist eine Leistung ersten Ranges. Wenn die Tranchen der in Brüssel bereits fest zugesagten Mittel ausblieben – im byzantinischen Bürokratismus der EU hängen blieben, konnte Djindjic sehr scharf werden. Man denke an das berühmte Spiegel-Interview. Aber bei der Auslieferung des abgesetzten Despoten an das Straftribunal in Den Haag ging es um mehr als Geld. Es ging um das wichtigste politische Kapital, über das diese serbische Regierung verfügte: die Anerkennung, das Vertrauen, den Respekt seitens der maßgeblichen Machtzentren des Westens

2.
Aber lassen Sie mich diesen Lektüreeindruck durch zwei, drei Fragen konkretisieren. Die erste wäre schon: Wie ist der junge Zoran Djindjic überhaupt aus der Gedankenwelt von „1968“, aus der er kam, in die von „1989“ gelangt – also von den hochfliegenden emanzipatorischen Utopien der internationalen Studentenbewegung, speziell in ihrer Belgrader Variante, zur ordinären kapitalistischen Demokratie westlichen Zuschnitts – mit ihren brutalen Schocks und verstörenden Anforderungen, mit ihren neuen Chancen und mit ihren vielen Verlierern? Wie sie überall in Ostmitteleuropa das kommunistische System abschaffte und wie sie Slobodan Milosevic für Serbien um jeden Preis, mit Gewalt und Krieg verhindern wollte. Für diese erst einmal noch theoretische Neuorientierung müssen die Jahre in Frankfurt am Main entscheidend gewesen. Ich erinnere mich an eine nächtliche Diskussion dort über die Soziologie von Niklas Luhmann. Zoran Djindjic war offenkundig fasziniert von diesen Texten. Für mich war Luhmann damals noch ein anmaßender Bürokrat, der sich auf alle soziale Bewegungen draufsetzte und sich über jedes Gerechtigkeitsverlangen zynisch mokierte. Für Djindjic war er ein kreativer Denker moderner gesellschaftlicher Komplexität.

Meine zweite Frage lautet: Wie konnte ein Intellektueller wie Zoran Djindjic, zuerst in Belgrad, dann in Deutschland fein gebildet, in einem nach Kommunismus und Krieg so pauperisierten, politisch deformierten und ideologisch verwüsteten Land wie Serbien nach oben, an die Macht kommen? Aber das ist schon eine Forschungsfrage, die mich überfordert. Pedja Obradovic vom Belgrader Fernsehsender B 92 hat mich kürzlich für seine Dokumentation zum 10. Todestag Zoran Djindjics gefragt, ob ich denn etwas vom politischen Talent und von der späteren politischen Karriere meines jungen Freundes vorausgeahnt hätte? Nein, Fehlanzeige, nichts, ich habe nichts geahnt, nichts gespürt, nichts vorausgesehen. Auch später blieb das so: 1988 oder 1989 bei einem Besuch in Belgrad hatte ich das unbehagliche Gefühl, Zoran habe seinen Kompass verloren. Für uns war damals Ljubljana der Hauptort der genuinen Demokratisierung im zerfallenden Jugoslawien. Belgrad war das Gegenzentrum einer manipulativen, antidemokratischen Massenmobilisierung. Sie beutete nur die nationalistische Umdeutung, Mystifikation der bedrohlichen wirtschaftlichen Rezession in Jugoslawien seit Mitte der 80er Jahre zur existenziellen Gefährdung und Entrechtung der serbischen Nation als Nation aus. Was hingegen Djindjic über die slowenischen Ambitionen sagte, wirkte auf mich eigenartig ressentimentgeladen und feindselig. Bei ihm zuhause tauchten obskure Intellektuelle und Journalisten von der Milosevic-Richtung auf. Wo stand er eigentlich? Kurze Zeit darauf gründete Djindjic zusammen mit anderen dann bekanntlich die Demokratische Partei – damals noch eine andere Partei als heute. Aber das habe ich schon nicht mehr aus der Nähe verfolgt. Erst später hat mir das klassische Buch von Robert Thomas „Serbia under Milosevic“(1999) die Augen geöffnet für den Weg Djindjics durch das steinige Gelände einer fast hoffnungslos zersplitterten Opposition. Es war freilich zugleich das Szenarium eines abbröckelnden, zunehmend delegitimierten Herrschaftssystems. Man versteht den Aufstieg Zoran Djindjics nicht, wenn man den Niedergang Milosevics ausblendet und sein Regime zum übermächtigen, unerschöpflichen Leviathan stilisiert. Mit mindestens totalitärem Zugriff auf die überwältigende Mehrheit der Serben. Das war es nicht einmal bei seinem triumphalen Wahlerfolg von 1990, wie Sundhaussen schön herausarbeitet.

In den Jahren der Kriege habe ich den Kontakt ganz abreißen lassen. Als nichts von ihm kam, kein Laut, kein Protest gegen diese verbrecherischen Kriege, habe ich Zoran Djindjic sogar für mich selbst fallengelassen. Erst 2000/2001, angesichts der jetzt unübersehbaren herausragenden Leistungen, die ja irgendwoher kommen mussten – aus irgendeiner zähen Vorarbeit, aus einem überlegenen politischen Realismus, aus einer großen Idee, ist mir meine mangelnde politische Vorstellungskraft und meine Selbstgerechtigkeit selber zum Problem geworden und ich habe wieder meine Fühler nach Belgrad ausgestreckt.

Man müsste hier zuerst vom 5. Oktober und seiner Vorbereitung sprechen. Das wäre eine dritte Frage. Nicht gleich davon sprechen, was diese Wende eigentlich war und was sie nicht war. Spätestens mit der Ermordung Zoran Djindjics sind die Illusionen darüber zerstoben, was sie war. Ohnehin ist dieser Illusionismus vor allem im Westen kultiviert worden, der gern nicht so genau hinschaut. Zoran Djindjic selbst hat ihn nicht geteilt. Er wusste, mit wem er in der Nacht zum 5.Oktober – im Auto, er allein, der andere in bewaffneter Begleitung – einen abgründig riskanten Deal zur Vermeidung eines Blutbades abgeschlossen hatte. Es musste alles versucht werden, damit der Auftritt der Hundertausenden in Belgrad nicht in einem Massaker durch die Sondereinheiten des Regimes enden würde. Zuallererst wäre vielmehr über etwas anderes zu sprechen – nämlich darüber, wie die Entmachtung Milosevics überhaupt möglich wurde. Hinterher sah es aus, als sei sie unvermeidlich gewesen, notwendig, wie selbstverständlich. Als sei dieser durchtriebene, aber verbrauchte, geistig leere Machthaber vom Baume Serbiens gefallen wie ein fauler Apfel. Aber die Vertreibung von der Macht musste erdacht werden, ehe sie umgesetzt werden konnte. Sie musste erst einmal für möglich gehalten werden, ehe sie wirklich werden konnte. Ein erfahrener, einflussreicher Politiker wie Vuk Draskovic scheint zum Beispiel ganz außerstande dazu gewesen zu sein. Er konnte die konkrete Chance, Milosevic loszuwerden, anscheinend nicht einmal denken: Einen derartigen qualitativen Sprung aus dem kreisenden Einerlei der serbischen Politik. Er konnte sich beim besten Willen nur ein Weiterwursteln unter Milosevic vorstellen. Das war sein Horizont. Eine Perspektive des Immer-Gleichen, aber das Beste daraus machen. Anders Zoran Djindjic, der den spezifischen Moment, den noch verdeckten, noch latenten Ausnahmezustand erfasste und ans Tageslicht zu ziehen wusste. Alles andere war da zweitrangig – auch der eigene Ehrgeiz, auch die Scheinhaftigkeit einer Figur wie der des vermeintlich untadeligen, rechtschaffenen, vertrauenswürdigen Vojislav Kostunica.

3.
Was ist von diesem bedeutenden Mann ohne Zeit, von diesem authentischen Patrioten ohne tragfähige Anerkennung im eigenen Land heute noch übrig, noch präsent in Serbien? Das lässt sich von hier aus kaum angemessen beurteilen. Von hier aus ist aber immerhin zu sehen, dass heute auch noch die giftigsten Chauvinisten von gestern eine pro-europäische Politik machen. Nicht aus freien Stücken, sondern aus politischer Opportunität. Das serbische Wahlvolk hat sie zu der Kehrtwendung gezwungen. Die politische Elite kann auch in Serbien nicht mehr einfach machen, was sie will. Die alten Funktionäre des Milosevic-Regimes, die heute das Land wieder führen, haben es mit einer Gesellschaft zu tun, die nationalistische Sonderwege nicht mehr will und nicht mehr erträgt. Das sollte den Beobachter aus der Ferne veranlassen, sich dem realen, alltäglichen, arbeitenden und arbeitslosen Serbien zuzuwenden – statt immer nur auf die fragwürdigen Eliten des Landes zu starren. Es ist an der Zeit, die bengalische Beleuchtung über Land und Leuten auszuschalten. Und sie kritisch, aber unbefangen von ihren elementaren Problemen und Überlebensstrategien her zu sehen. Wie Zoran Djindjic es getan hat. Oder wie der scharfsichtige serbisch-ungarische Schriftsteller László Végel aus Novi Sad es tut. Ungeachtet aller Spezifik rückt Serbien dann in den weitergespannten Vergleichshorizont südosteuropäischer Transformationsgesellschaften – mitsamt seinen tiefen, hässlichen populistischen Strömungen, die ja übrigens auch in Westeuropa durchaus nichts Unbekanntes sind. Ich schließe mit einem Zitat aus dem erwähnten Band mit politischen Gebrauchstexten. In seinem „Vorschlag für ein Abkommen über das Staatsziel“ vom März 2001 schreibt Zoran Djindjic: „Wir müssen folgendermaßen vorgehen: zuerst müssen wir die internationalen Kanäle öffnen, über die wir Zugang zum internationalen Kapital- und Technologiemarkt haben und über die wir unsere Wirtschaft für den Weltmarkt öffnen können. Zweitens, wir müssen unsere Gesetze und Institutionen reformieren, um für größere Investitionen attraktiv zu sein. Drittens müssen wir unsere Unternehmen umstrukturieren. Gleichzeitig müssen wir den öffentlichen Dienst, d.h. die Staatsverwaltung, die Polizei, das Gesundheits- und Bildungswesen sowie die Fortbildungsmaßnahmen für eine Vielzahl von Beschäftigten, effizienter und leistungsfähiger machen. An erster Stelle steht jedoch ein neuer sozialer Konsens über unser Ziel, das nur durch gemeinsame Bemühungen und auch durch persönlichen Verzicht möglich ist … Die Zeit des Sparens und des Verzichts ist noch immer nicht vorbei. Nur dass wir dies heute für die Zukunft unserer Familien und unseres Landes tun, und nicht für eine krankhafte Politik und die Privilegien der Machthaber. Der Unterschied besteht auch darin, dass wir heute gute Chancen haben, durch unsere Bescheidenheit eine Gesellschaft entstehen zu lassen, in der niemand mehr auf seine grundlegenden menschlichen und zivilisatorischen Bedürfnisse wird verzichten müssen.“

Wir haben unseren tiefen Respekt, und wir haben unsere tiefe Unkenntnis

Ernst Köhler

Bei Ling: Der Freiheit geopfert. Die Biografie des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo.

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Bei Ling: Der Freiheit geopfert. Die Biografie des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo. Übersetzung aus dem Chinesischen von Martin Winter, Yin Yan und Günther Klotz, München 2011 ( riva Verlag), 19,95 €

Die Verleihung des Friedensnobelpreises 2010 an den chinesischen Dissidenten Liu Xiaobo hat uns mit ungetrübter Freude und Genugtuung erfüllt – wie die an Aung San Suu Kyi 1991 oder an Nelson Mandela 1993. Aber das heißt nicht, dass uns dieser ferne Mann im abstrakten Menschenmeer Chinas als Mensch, als konkrete Person auch näher gekommen und fasslich geworden wäre. Wir haben unseren tiefen Respekt, und wir haben unsere tiefe Unkenntnis, unsere westliche Provinzialität – zusammengenommen ergibt das eine Ikone, eine Lichtgestalt etwas oberhalb der Erde.

Jetzt hat der chinesische Untergrundschriftsteller Bei Ling eine Biografie über Liu Xiaobo geschrieben, die auch auf deutsch erschienen ist. Der Autor war mit seinem „Helden“ einmal eng befreundet. In New York waren die beiden unmittelbar vor Beginn der chinesischen Demokratiebewegung von 1989 eine Zeit lang unzertrennlich. Für einen Augenblick denken sie daran, in Amerika gemeinsam um politisches Asyl nachzusuchen. Aber dann trennen sich ihre Wege wieder. Xiaobo kehrt allein zurück nach China und wird der politische Mensch, der zivile Kämpfer, als den die Welt ihn kennt und ausgezeichnet hat. Das ist die Verbindung von Vertrautheit und Abstand, die diesen Text zu einer unsentimentalen, eindringenden, genauen Lebensbeschreibung werden lässt. Das Buch ist offenbar hastig geschrieben – unter dem Zugzwang des Preises, aber dafür auch schnörkellos und packend direkt. Von ganz wenigen leeren, pathetischen Stellen abgesehen, hält sich die Darstellung durchweg dicht an die Texte und Selbstzeugnisse Liu Xiaobos. Auch Andere kommen reichlich zu Wort – mit ihren Reaktionen auf diesen exzentrischen, schroffen, provozierenden, dann auch verzweifelten Mann. Darunter nicht zuletzt seine zweite Frau Liu Xia, die ihn wegen der übergroßen Risiken, die er eingeht, „meinen Dummkopf“ nennt. So entfaltet sich vor dem Leser das Bild eines bedrängten Milieus, eines Netzwerkes im Widerstand, einer vom Staat überfahrenen Liebe.

Der mit seinen häretischen Thesen über die Wertlosigkeit der gesamten chinesischen Gegenwartsliteratur (des Jahrzehnts nach der „Kulturrevolution“) und mit seinen noch viel radikaleren Attacken gegen die autoritäre konfuzianische Tradition seines Landes schnell berühmt gewordene junge Literaturwissenschaftler und Kulturkritiker (Jg. 1956) hatte bald seinen Spitznamen in einschlägigen Kreisen weg: „Schwarzes Pferd“ – eine unbekannte, aus dem Nichts (vermutlich aber von Westen) herangaloppierende Kreatur und Kraft, die da auf einmal die Gemeinde unsicher macht. Schon das vermittelt einen Eindruck von der überraschenden Neugier, Diskussionsbereitschaft und Toleranz der Intelligenz zumindest in Peking. Damals ist Liu Xiaobo noch kein Verfolgter. Er ist vielmehr ein Star, und er genießt es in vollen Zügen, um nicht zu sagen: zügellos. Der Bruch kommt mit dem Massenprotest der Studenten im Mai und Juni 1989, dem sich Liu Xiaobo zusammen mit drei Freunden nach anfänglichem Zögern anschließt. Die „Vier Ehrenmänner“ sind auch in der Nacht zum 4.Juni auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Und als die Armee dann heranrückt, tun sie alles, um die Studenten zum Abzug zu bewegen. Nach dramatischem Ringen um Vernunft und lebensrettende Gewaltlosigkeit: schließlich mit Erfolg. Zu einem Massaker an den Studenten auf dem Platz selbst kommt es nicht – entgegen der sich bis heute haltenden Weltlegende von diesen Ereignissen. Das Massaker fand an den umliegenden Straßenkreuzungen statt und traf vor allem einfache Pekinger Bürger, die sich mit den Studenten solidarisiert hatten. Während des anschließenden, zunächst knapp zweijährigen Gefängnisaufenthaltes entscheidet sich Liu Xiaobo schließlich zu einem Geständnis, d.h. zu einer „Selbstkritik“ im Sinne des kommunistischen Totalitarismus, was er sich später dann nie mehr verzeihen wird. Diese Abschnitte über die Selbstentwürdigung, über den Kotau eines integren und tapferen Menschen vor der Macht und über seine schmerzliche Selbsterforschung und politische Reifung nach diesem Zusammenbruch bis hin zur Autorenschaft an der „Charta 08“ muss man lesen. Sie zeigen, dass dieses Manifest für demokratische und rechtstaatliche Institutionen in China nicht von außen kommt. Es kennt Vorbilder – etwa die „Charta 77“ in der Tschechoslowakei. Aber es kommt von innen, aus der Leidens- und Lerngeschichte der chinesischen Demokraten selbst.

Zeichen der Zeit – Kosovo 2010

Ernst Köhler

1.
Das überdimensionale Foto ist immer noch da. Es bedeckt die ganze Hauswand. „Lider“ steht in großen Buchstaben auf dem Plakat. Es ist ein riesiges Portrait von Ramush Haradinaj an dem Gebäude, in dem sich das Büro des Chefs der AKK (Allianz für die Zukunft von Kosova) befindet. Es ist ein an sich sympathisches, durchaus ziviles Bild des Politikers – ohne Krampf, Stechblick und Herrschermiene, der inzwischen erneut verhaftet worden ist und wieder in Untersuchungshaft in den Den Haag sitzt. Es ist die Übergröße und der Ort seiner Ausstellung, die das Foto grotesk und abgeschmackt machen. Auch wenn man das Gebäude betritt, trifft man auf die Erscheinungsformen eines Stils, eines Modells politischer Führung, dessen Stunde längst abgelaufen ist. Im Eingangsbereich ein sehr junger, höflicher Mann mit Fremdsprachenkenntnissen, der den Besucher nicht warten lässt und sofort einen Höherrangigen informiert. Der dann auch gleich die Treppe herunter kommt, ein paar Fragen stellt und alles effizient arrangiert. Ein paar Tage später auf dem Weg zum Interview mit dem Boss durch ein, zwei Vorzimmer, in denen ältere Männer warten und achtungsvoll grüßen. Sie könnten gut Veteranen der UCK mit ihren Anliegen sein  Alles dreht sich um den einen Mann – die Maschine wie die Klientel, der sich im Gespräch dann aber unprätenziös, nachdenklich und kommunikativ verhält. Als ob er – als Person, als denkender Mensch –  nicht so recht in den autoritären Rahmen passen wolle, den er da um sich herum aufgebaut hat. Als ob er der Gefangene dieser selbstgeschaffenen Umgebung sei. Wie bei früheren Begegnungen ist es wieder ein richtiges Gespräch. Eine politische Unterhaltung ohne strategische Tricks und Manöver. Ramush Haradinaj argumentiert diesmal im Kern liberaler, wirtschaftsliberaler als bei früheren Gesprächen. Im Zentrum seiner Aufmerksamkeit und Hoffnung steht das qualifizierte, leistungsbereite „Individuum“. Als seien wir hier nicht in einem pauperisierten und zudem einzigartig isolierten Land. Befinden wir uns nicht im Kosovo? Haradinaj muss anderswo sein. Er scheint den Boden unter den Füßen verloren zu haben. Er scheint seinem geschundenen und blockierten Land tatsächlich eine schablonenhaft amerikanische Wirtschaftsideologie verordnen oder überstülpen zu wollen. Keine Spur etwa von einer sozialdemokratischen Programmatik, die den Entwicklungsrückstand und die erdrückende Arbeitslosigkeit des Kosovo auch nur ansatzweise aufnehmen würde. Warum nicht? Der überragende Einfluß der USA im Kosovo und die unangefochtene Macht der amerikanischen Botschaft in Prishtina können diese politische Kurzsichtigkeit und mangelnde intellektuelle Unabhängigkeit kaum erklären. Ernst, glaubwürdig um sein Land besorgt wie seit jeher, wirkt dieser an sich fähige, lernbereite Politiker diesmal eigenartig fremdbestimmt, entwurzelt, orientierungslos.

2.
Im Büro von „Vetevendosje“ (Selbstbestimmung) fallen prägnante Sätze. Man wird sie so leicht nicht mehr los: Die Internationale Gemeinschaft mache hier zwei grundlegende Fehler. Einmal habe sie für das Kosovo nur eine Stabilitätspolitik, keine Entwicklungspolitik. Man sei zufrieden, wenn Ruhe im Land herrsche – „Frieden“ im militärisch-polizeilichen Sinne. Zweitens mache man aus allem eine ethnische Frage. Es gebe hier anscheinend keine Studenten, keine Arbeiter. Es gebe nur „Ethnien“. Es ist Glauk Konjufca, der das sagt, Ende 20, einer der führenden Köpfe dieser außerparlamentarischen Bewegung vor allem junger Leute. Man spürt, es ist keine radikale Rhetorik. Nicht die vertraute Sprache der Selbststilisierung. Kein Revolutionstheater, wir haben hier nicht die Neuauflage unserer „Neuen Linken“ vor uns. Man verstünde den Erfolg von Vetevendosje bei den Wahlen im Dezember auch nicht – auf Anhieb etwa 13 % der Stimmen (das amtliche Wahlergebnis liegt beim Schreiben dieses Textes noch nicht vor), wenn man diesen jungen politischen Intellektuellen und seine Analyse in diese Schublade stecken wollte. Oder sie gar einem nationalistischen Extremismus südosteuropäischen Typs zuschlüge, wie nicht wenige westliche Journalisten es jahrelang getan haben. Die These vom ökonomischen und gesellschaftspolitischen Disengagement der EU hinter der militärischen Präsenz der NATO und hinter der Rechtstaatsmission EULEX entspricht vielmehr einer im Land verbreiteten Wahrnehmung: Wo wäre der Unterschied, wo wäre die Zäsur zwischen den Jahren der UNMIK-Verwaltung und heute? Ist es nicht viel eher die Kontinuität zwischen diesen beiden Phasen, die das Alltagsleben der großen Mehrheit der Menschen kennzeichnet? Und die Unabhängigkeit von 2008?  Man muss sie nicht zurücknehmen wollen; man muss nicht von ihr abrücken wollen, um sie als eine große Enttäuschung zu empfinden – je nach Grad und Tiefe der Bitterkeit: als eine unvollendete Errungenschaft, als eine halbe Sache, als eine leere Versprechung.

Und auch die These von der ethnizistischen Manie und Verblendung der Internationalen Gemeinschaft im Kosovo findet breite Resonanz in der albanischen Gesellschaft des Kosovo. Sie spricht vielen Menschen hier aus der Seele. Sie ist keine Diffamierung des Minderheitenschutzes. Die heillose ethnische Aufspaltung Bosniens ist im Kosovo sehr gegenwärtig. Sollte sich die Ehrfurcht vor den Ethnien nicht spätestens mit der Fehlkonstruktion von Dayton politisch kompromittiert haben? Das Befremden über die einzigartige Privilegierung der kosovarischen Serben im Ahtisaari-Plan beschränkt sich keineswegs auf nationalistische Kreise. Das Überzogene, das Überkomplizierte, das Künstliche an diesem ausgetüftelten Regelwerk; die politische Verlogenheit darin, der hinter dem Humanismus versteckte Opportunismus, die anbiedernde Botschaft an die Adresse Belgrads trifft auch bei Liberalen auf Unbehagen und Ablehnung. Der internationale Fokus auf den Minderheiten im Kosovo wird generell als Fehlleistung, sogar als Absurdität gewertet. In Gesprächen, sobald sie freimütig werden, kann man hören: Immer ist nur von den Minderheiten die Rede, kaum je von uns, der Mehrheitsbevölkerung. Zählen wir nicht? Haben wir etwa keine Rechte? Im Kosovo sind nicht nur die Roma arm. Und in Mitrovica leidet nicht nur das weltberüchtigte Roma-Lager unter der Bleiverseuchung des Bodens, sondern die ganze Stadt.

3.
Dann kommt Albin Kurti dazu. Er wirkt gelöst. Er befindet sich hier ja auch nicht im gerichtlich verfügten Hausarrest, in dem wir ihn beim letzten Mal besuchen mussten – mit Presseausweis und Reisepass vorbei an mehreren Polizeibeamten auf der Treppe zu seiner Wohnung. Irgendwann zieht er ein kleines Notizbuch aus der Tasche und liest eine Reihe von polar angelegten Begriffspaaren vor, die mit unserem Gespräch auf das Vergnüglichste korrespondieren:

Moderne:              Postmoderne:
Ökonomie            Kultur
Klassen               Ethnien
Entwicklung       Stabilität…

Fast ist man versucht, der semantischen Serie Kurtis noch ein weiteres Wort-Paar anzuhängen: „Relevanz“ (60er, 70er Jahre) – „Kompetenz“ (immer seitdem).

Es ist Sommer. Die Entscheidung für die Teilnahme von Vetevendosje an den nächsten nationalen Wahlen ist noch frisch. Aber sie ist definitiv gefallen – nach wochenlangen, sehr kontroversen Diskussionen, wie Kurti unterstreicht. Niemand kann wissen, dass so wenig Zeit bleibt und die Wahlen schon Ende des Jahres kommen – vorverlegt, weil die Regierungskoalition zwischen PDK (Demokratische Partei, die Partei von Hashim Thaci) und LDK (Demokratische Liga, die alte Partei Ibrahim Rugova’s) auseinandergebrochen ist. Es gibt in Prishtina ausgezeichnete Kenner der gesamten politischen Szene, die diesen Sprung aus dem Protest in die Politik für verfehlt und selbstzerstörerisch halten. „Als Politiker wird er scheitern“, so ein Mitarbeiter der International Crisis Group. Er kennt Albin Kurti seit dem gemeinsamen Studium an der Universität in Prishtina und hat seinen politischen Weg seit langem verfolgt – bisher immer mit großem Einfühlungsvermögen und kritischem Verständnis. Der merkwürdig apodiktisch anmutenden Prognose ist eine Sorge anzumerken, auf die man in diesen Wochen immer wieder trifft: Der unbeugsame Rebell – gestern gegen das Milosevic-Regime, heute gegen die Machenschaften der eigenen Elite; der furchtlose Kritiker amerikanischer und europäischer Großmacht-Anmaßung; der Denker eines aufgeklärten nationalen Eigeninteresses – dieser integre Mann und beeindruckende Rhetor kann nur verlieren, wenn er „ins System geht“. „Wir gehen nicht ins System; wir nehmen nur an Wahlen teil“, entgegnet Albin Kurti darauf. „Wir bleiben, wer wir sind.“ Er scheint fest überzeugt, dass der politische Betrieb der Bürgerbewegung nichts anhaben kann. Dass Vetevendosje in dem neuen Kontext nichts verliert – nichts von seiner Unabhängigkeit, nichts von seiner Außenansicht, nichts von seinen Handlungsmöglichkeiten, sondern im Gegenteil einige neue Ebenen oder Foren der öffentlichen Intervention hinzugewinnt.

Auch in Tirana stößt diese Selbstsicherheit, dieses stolze Gefühl der politischen Unantastbarkeit übrigens auf tiefe Skepsis. Sie kann hier sogar noch böser, ätzender ausfallen und fast schon die Farbe des Hohns und der Verachtung annehmen. Begreiflich vielleicht vor dem Hintergrund des albanischen postkommunistischen Machtsystems, das der in Albanien und auch im Kosovo hochgeachtete politische Schriftsteller Fatos Lubonja  im Gespräch „irgendwo zwischen Putin und Berlusconi“ ansiedeln möchte. Zenel Hoxha, heute Präsident und CEO der British Chamber of Commerce and Industry in Albania, früher ein politischer Publizist von Rang, verweist uns auf den Fall der NGO „Mjaft!“ (Genug!) und ihres Sprechers Erion Veliaj, der einmal ein Geistesverwandter von Albin Kurti zu sein schien, inzwischen aber bei den Sozialisten Edi Ramas gelandet sei und „seine Identität gänzlich eingebüßt“ habe.

4.
Der Wahlerfolg des parlamentarischen Newcomers im Dezember ist ein Ereignis, ein unübersehbares Zeichen von unten, aus den schweigenden Massen des Kosovo heraus, das erst einmal interpretiert werden will. Es ist ein deutliches Votum, aber kaum ein emphatisches oder gar rückhaltloses. Für politischen Enthusiasmus sind die allermeisten Menschen im Kosovo inzwischen viel zu zermürbt, zu verbraucht, zu müde. Dafür fühlen sie sich viel zu schwach, zu abhängig, zu ohnmächtig. Ihre Alltagserfahrung, ihr Alltagswissen spricht für Albin Kurti, aber ebenso auch gegen ihn. Für ihn spricht, dass er ein einfaches Leben führt; dass er nicht zu den neuen Herren zählt – er mag die Leute nach Stil und Geist eher an die hier seit jeher geachteten sozialen Figuren des selbstvergessen bemühten Lehrers oder des Gelehrten erinnern. Für ihn spricht, dass er nicht mit zwei oder drei Zungen spricht, sondern nur mit einer, mit seiner – gleichgültig, wo und zu wem; dass er eine zivile, unmartialische Form der Tapferkeit verkörpert und zu leiden versteht, wenn es sein muss. Gegen ihn spricht aber – und zwar massiv, dass er sich in eine absurd unrealistische Konfrontation mit den übermächtigen Gewalten verstrickt, verbissen hat, die über das kleine Land verfügen. Der junge Angestellte an der Rezeption des Hotels, der Albin Kurti gerade noch einen gewissen Respekt gezollt hat, explodiert auf einmal fast vor Ungeduld, vor Zorn, als er auf das dauernde, allseitige Kämpfen kommt: „Wir können doch unmöglich gegen alle kämpfen. Das geht total über unsere Kraft. Wir haben gar keine Kraft mehr! Wir sind froh, wenn wir irgendwie durchkommen!“

Welchen Sinn hätte auch die Kernforderung Albin Kurtis nach „Selbstbestimmung“, die seiner Bewegung den Namen gegeben hat, in einem Land, das sich von der EU unabsehbar auf Distanz gehalten, ausgegrenzt sieht und bislang – anders als die anderen Staates des Westbalkan, anders als die Ukraine, anders auch als das von keinem einzigen EU-Mitglied anerkannte Taiwan – vergeblich sogar auf eine Liberalisierung des Visa-Regimes wartet. (Vgl. jetzt European Stability Initiative: Isolation Confirmed, Berlin, Brussels, Pristina 22.November 2010). Ganz zu schweigen von der Einleitung von Integrationsverhandlungen des Kosovo mit der EU. Welchen Sinn hätte der hohe, noble, emanzipatorische Anspruch, sein politisches Schicksal endlich in die eigenen Hände nehmen zu dürfen, angesichts der chancenlos jedes Jahr neu auf den Arbeitsmarkt drängenden jungen Menschen, die dringend, existenziell auf eine Öffnung der europäischen Arbeitsmärkte angewiesen wären – statt auf Massenabschiebungen wie aus Deutschland?

Im Frühjahr und Sommer war eines der großen, aktuellen Themen im Kosovo das Vorgehen von EULEX gegen Fatmir Limaj, den mächtigen, schwer korruptionsverdächtigen Transport- und Posttelekommunikationsminster der Regierung Thaci. Worauf das ganze Land damals hoffte und doch – aus profundem Misstrauen, aus alter Erfahrung mit den hier seit dem Krieg operierenden internationalen Organisationen – nicht wirklich zu hoffen wagte, war ein Durchgreifen der Rechtsstaatsmission. Ein konsequentes rechtliches Durchgreifen – unabgelenkt, ungebremst von politischen Opportunitätsgründen, wie sie von den Vertretungen der maßgeblichen Staaten in Prishtina zu kommen pflegen. Wen könnte in dieser Situation die Forderung nach „Souveränität“ überzeugen, wie Albin Kurti sie bis heute immer wieder vorträgt?  Der Unabhängigkeit seit 2008, die sonst unerfüllt und formal bleibe, müsse die echte politische Souveränität folgen. In unserem Fall hieße das: Entmachtung von EULEX, Reduzierung der Mission auf bloße Beratungsfunktionen. Die breite Öffentlichkeit im Kosovo verlangt ganz im Gegenteil, dass EULEX seine exekutive Gewalt endlich anwendet. Zunächst muss sie faktisch umgesetzt werden – im gebieterischen Interesse des Landes. Bevor man sie wieder abschafft.

5.
Näher am Puls des Kosovo ist Albin Kurti mit seiner Perspektive eines Zusammenschlusses von Kosovo und Albanien. Wenn man das sogleich und fast reflexhaft mit „Großalbanien“ assoziiert, hat man sich ein unbefangenes Verständnis bereits verstellt. Man denkt dann unwillkürlich an „Großdeutschland“, „Großungarn“, „Großserbien“ oder „Großkroatien“, und die auf mehrere Staaten verteilte albanische Nation von heute steht flugs unter dem Verdacht, einen ähnlich blutigen Chauvinismus auszubrüten. Eines Interviews für eine unserer großen Zeitungen wird Albin Kurti erst seit kurzem für würdig befunden –  so sagte er neulich der NZZ (9.Dezember 2010): „Erstens benutzen wir nicht den Begriff Großalbanien; wir sprechen von einer Vereinigung von Kosovo und Albanien. Und zweitens fordern wir dies nur als ein Recht, wie es jedem souveränen Staat zusteht. Wenn Frankreich und Deutschland sich vereinigen wollen, kann sie niemand daran hindern – zwei Referenden, und die Sache ist erledigt. Warum soll Kosovo nicht dasselbe Recht haben? Wir sind gegen den Verfassungsartikel 1.3, der festhält, dass Kosovo sich nicht mit einem anderen Staat vereinigen soll. Das erinnert mich an Breschnews Konzept der beschränkten Souveränität sozialistischer Staaten.“

Hätte sich die Option Kosovo – Kosovo als ein neuer Nationalstaat auf dem Balkan – etwa bereits überlebt? Gerade erst feierlich aus der Taufe gehoben und schon wieder abgestorben? Unter entsetzlichen Opfern erkämpft und doch schon wieder delegitimiert und aufgegeben?  Man macht ein Land nicht ungestraft zu einem Dauerlabor für politische Experimente – auch ein so kleines und hilfloses Land nicht. Europa lässt ein Land in Europa nicht ungestraft darben und verkommen – auch das Kosovo nicht. Dann gäbe es eine – noch stille, noch untergründige –  Abwendung der Kosovo-Albaner von ihrem jungen Staat?  Und sie wäre die Rechnung des Volkes für die Politik der internationalen Gemeinschaft und vor allem Europas?  Und auch die Rechnung an die Adresse der  „politische Klasse“ des Landes, die im Schatten und Schutz der Internationalen vor Ort über den unfertigen Staat verfügt, als sei er ihre Domäne, ihr Eigentum? Man fragt sich bei uns gern, warum uns diese besessenen Kosovo-Albaner denn unbedingt einen unmöglichen, lebensunfähigen Kleinstaat zumuten und aufhalsen müssen. Vielleicht sollten wir uns besser fragen, was die EU tun kann, um diesen Staat in den Augen seiner eigenen Bürger einigermaßen zu rehabilitieren.

Aber das erfasst die eigenartige politische „Obdachlosigkeit“ (Siegfried Kracauer) nicht genau, die der Besucher im Kosovo heute ahnt. Wir sollten vermeiden, der Entwicklung vorauszueilen. Die besondere Verbundenheit mit den Albanern in Albanien ist im Kosovo natürlich nichts Neues. Ein Freund, Ende 40, der in der Gegend von Prizren aufgewachsen ist, erzählt von seinem schmerzlichen Befremden, von seiner Fassungslosigkeit, als ihm als Junge schlagartig die Grenze, die geschlossene Grenze zwischen Jugoslawien und dem Albanien Enver Hoxhas bewusst geworden sei. Die gewaltsame, hermetische Trennung von den keineswegs fremden, vielfältig nahestehenden, verwandten Leuten jenseits der Grenze habe er als Kind als etwas Widernatürliches, Menschenwidriges empfunden. Auch die dem Kosovo als dem letzten Nachfolgestaat des in Kriegen untergegangenen Jugoslawiens international oktroyierten Auflage, sich nicht mit Albanien zu vereinigen, ist hier immer nur hingenommen, niemals akzeptiert worden. Die Auflage ist hier immer nur als ein Tabu empfunden worden. Und das Tabu ist immer nur aus Ohnmacht, aber durchaus auch aus Verständnis für ein in Jugoslawien jämmerlich gescheitertes, zerstrittenes, überfordertes, gedanklich-strategisch auf ein zwanghaftes Krisenmanagement reduziertes Europa stillschweigend geschluckt worden. Heute, soviel lässt sich sagen, wird es nicht mehr geschluckt. Die Ohnmacht hat sich keineswegs entschärft, aber das Verständnis für Europa ist merklich erkaltet.

Die Geduld mit der westeuropäischen Öffentlichkeit scheint glücklicherweise dennoch nicht ganz aufgezehrt. In Gjakova, unweit der albanischen Grenze und traditionell eng – ein Freund nennt es „ethnopsychologisch“ – mit Nordalbanien verknüpft, sprechen wir lange mit Mentor Kaci, einem leitenden Angestellten einer Fachhochschule in Peja, über die albanische nationale Frage. Mentor Kaci legt den Akzent auf ihre Entdämonisierung. Es ist in seinen Augen die erste Aufgabe – eine schwierige, langwierige Aufgabe. „Wir müssen unser Anliegen, unseren friedlichen Wunsch nach nationaler Einheit der Welt zuerst einmal darstellen, verdeutlichen, vermitteln. Das ist es, woran wir arbeiten müssen.“ Man kann ruhig mal ein bisschen staunen: In dieser Sicht sind die Aufklärer zur Abwechslung einmal die Albaner – und die Adressaten sind zur Abwechslung einmal wir.

Es geht im Kosovo nicht – noch nicht –  um Grenzveränderung und Staatenbildung. Dafür gäbe es auch in Tirana gegenwärtig gar keinen ernsthaften Ansprechpartner. Aber  es geht auch nicht nur um Gefühle: um die alte, historische, wenn auch keineswegs störungs- und spannungsfreie Erfahrung der sprachlichen, kulturellen, verwandtschaftlichen Nähe. Genauer gesagt: um die Anerkennung dieser Gefühle durch ein gerade in seiner außenpolitischen Schwäche und Unschlüssigkeit verhärtetes,  voreingenommenes Europa. Es geht aktuell vor allen Dingen einmal um die konkrete infrastrukturelle und ökonomische Vernetzung des Kosovo mit Albanien und überhaupt mit den albanischen Siedlungsgebieten in der Region – gedacht, gewollt, geplant als der grundlegende Schritt aus der gezielten epochalen Unterentwicklung der serbischen Provinz, aus dem gezielten Ruin des Krieges, aus der international zu verantwortenden Isolierung und Stagnation der Nachkriegszeit heraus. Es ist die eigentliche, die sich zwingend aufdrängende Selbsthilfe – auf dem Weg nach Europa, richtiger: im Vorgriff auf ein abwartendes, sich in der Krise gar verschließendes Europa. Man muss nur einmal in kosovo-albanischer Begleitung die neue Autobahn von Prizren nach Durres fahren, der Hafenstadt an der Adria. Dann ist diese Perspektive des Aufbruchs und der Hoffnung mit Händen zu greifen. Ihr Begleiter wird Ihnen seine Freude, nein: sein Glücksgefühl über die neue Straße signalisieren – egal wie wenig befahren sie noch ist; egal wie monströs die gigantischen Bauten der Autobahn die natürliche Landschaft vergewaltigen; egal wie furchtbar arm die Dörfer am Rand sind. Er wird Sie selbst auf diese Dörfer aufmerksam machen. Er kennt ihr Elend. Er weiß aus der persönlichen Anschauung vieler Jahre, wie arm Albanien ist – skandalös arm, wenn man an seine Oligarchen, Kriminellen und Neureichen denkt. Ihr Begleiter wird diese Autobahn dennoch als eine kapitale Investition in die Zukunft werten. In die Zukunft auch und gerade des Kosovo, wenn das Kosovo bisher auch noch nichts produziert, das im Hafen von Durres verladen werden könnte.