Über Abraham Sutzkever (1913 – 2010)

Ernst Köhler

„Wie hilflos bewegt sich ein Fremder in der unversehrten Stadt, die dennoch ausgelöscht wurde! Kaum einer vermag ihm Auskunft zu geben, wo er eine Spur finden könnte. Wilnas Bevölkerung scheint ausgewechselt nach dem Krieg … Den einzigen Hinweis, wo die alte Hauptsynagoge gestanden hat, erhält er von einem alten Juden, der Deutsch spricht und das Lager von Schiaulen überlebt hat.“ Das hatte Karl Schlögel 1986 über einen Besuch in Vilnius geschrieben.

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Abraham Sutzkever: Wilner Getto 1941 – 1944. Aus dem Jiddischen übertragen von Hubert Witt, Ammann Verlag, Zürich 2009, 22,95 €

Mit der Veröffentlichung zweier Bände mit Werken des jiddischen Dichters Abraham Sutzkever aus Wilna gibt uns der Züricher Ammann Verlag eine unvergleichliche Chance der Erinnerung. Es handelt sich um den Bericht „Wilner Getto 1941-1944“ und um eine Auswahl von Gedichten („Gesänge vom Meer des Todes“). Bericht und Gedichte sind von Hubert Witt, einem ausgewiesenen Kenner und Übersetzer jiddischer Literatur, erstmals ins Deutsche übertragen worden. Die vom Verlag vorgegebene und dann gemeinsam mit dem Übersetzer erweiterte Idee, dem Erfahrungsbericht Lyrik an die Seite zu stellen – lyrische Texte aus der Zeit der Katastrophe selbst, aber auch aus späteren Phasen dieses Schriftstellerlebens – kann man nur als glücklich bezeichnen. Die Gedichte hindern den Leser daran, den Bericht über die Verfolgung und Ermordung der Wilnaer Juden durch die Nazis und ihre litauischen Helfer einfach nur seinem gesammelten Wissen über den Holocaust zuzuschlagen. Sie verweisen, sie stoßen ihn auf etwas, was ihm beim Abheften als Erstes verloren ginge: auf die „Fassungslosigkeit“ der Erzählung, um mit Saul Friedländer zu sprechen. Der Erfahrungsbericht ist kein Tagebuch. Er ist im Nachhinein niedergeschrieben worden – am Ende des Krieges in Moskau, wohin man den bereits anerkannten Dichter aus den Wäldern um Wilna mit einem kleinen Flugzeug ausgeflogen und gerettet hatte. Aber der Text wählt die Form des Tagebuchs. Und umgekehrt eröffnet das Zeugnis auch dem durchschnittlichen Leser einen Zugang zu den Gedichten, die zur experimentellen, avantgardistischen Dichtung dieser Zeit und dieses Raumes gehören und sonst hermetisch bleiben könnten.

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Abraham Sutzkever: Gesänge vom Meer des Todes. Ausgewählt und aus dem Jiddischen übertragen von Hubert Witt, Ammann Verlag, Zürich 2009, 22,95 €

Vor allem in ihrem ersten Teil – „In den Klauen der Deutschen“ – sind diese Aufzeichnungen über die Auslöschung der Juden von Wilna große dokumentarische Literatur. Sie stellen die bereits vernichtenden Maßnahmen der Deutschen unmittelbar nach der Okkupation im Juni 1941 dar. Wiedergeben lassen sie sich nicht. Sie zeigen den verfolgten Menschen in seiner ganzen Ausgesetztheit. Und sie zeigen den Verfolger in seiner bestialischen Menschlichkeit. Es ist ein Massenmörder von Geist, mit einer raffinierten Seele; die historische Forschung wird dann Jahrzehnte brauchen, bevor sie zu ihm aufschließt. Der nationalsozialistische Massenmörder ist ein Initiant, ein Neuerer. Er bedarf keiner Anweisungen von oben. Auch zum Völkermord braucht er keinen Befehl, wie er nach dem Krieg behaupten wird. Der zweite Teil ist dem Ghetto gewidmet. Er ist in einem verhalteneren Stil geschrieben und zeichnet sehr genau die auf Desinformation und Verwirrung der Insassen abzielenden Herrschaftstechnik der Besatzer nach: mit dem gewollten Chaos von dauernd wieder veränderten Spezialausweisen und Berechtigungszetteln, die den Menschen immer wieder die Hoffnung auf eine Überlebensmöglichkeit machen und sie ihnen gleich wieder nehmen. Vor den schubweisen Deportationen aus dem Ghetto in den Tod versuchen sich die Menschen in die ausgeklügeltsten Verstecke zu retten, die sie mit der Zeit zu einer „unterirdischen Stadt“ ausbauen. Aber sie bauen sich auch über der Erde eine heimliche „Stadt“, eine vor der Macht verborgene Parallelwelt auf: mit einer Lebensmittelwirtschaft, mit einem Gesundheitswesen, mit sozialen Transferleistungen, Schulen und einem intensiven kulturellen Leben. Und da Abraham Sutzkever hier keineswegs nur Beobachter bleibt, sondern sich als Künstler, Mentor, Aktivist praktisch und höchst riskant engagiert, gehören die Passagen über zivile Selbstbehauptung unter den Bedingungen der Barbarei zu den schönsten des ganzen Buches. Ein dritter Teil ist schließlich dem bewaffneten Widerstand vorbehalten, dem sich auch Sutzkever anschließt. „Lasst uns nicht wie Schafe zur Schlachtbank gehen!“ Der berühmte, aber oft isoliert zitierte und fälschlich heroisierte erste Satz aus dem von Aba Kowner formulierten ersten Aufruf der Wilnaer Untergrundkämpfer (vom 1.Januar 1942) sieht sich hier in den Kontext gestellt, in den er gehört. Es ist der Bruch mit dem Illusionismus der Verzweifelten. Es ist die Erkenntnis, dass die Nazis die physische Vernichtung ausnahmslos aller Juden planen. Die unfassbare Wahrheit ist im jüdischen Wilna früher erfasst worden als anderswo in Osteuropa, früher als in Warschau etwa.

In einem Gedicht, das Abraham Sutzkever nach seiner Zeugenaussage vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg im Februar 1946 schreibt, wird es dann heißen: „Mein Volk, du musst dich für dein Schwert entscheiden, wenn Gott zu schwach ist für Gerechtigkeit.“ Aber die Verbindung dieses Dichters mit seinem Volk geht sehr viel weiter als bis zur Auseinandersetzung mit einem Gott, der ausfällt, wenn man ihn braucht. „Ich bin das Kind, das einen Grashalm trägt, während man es zur Erschießung führt“ („Abschied“, Wilner Getto – Narotscher Wälder, 1943-1944). Er trauert in diesen Texten nicht nur um Menschen, die er kennt, die ihm nahe stehen – wie seine Mutter, deren Festtagsschuhe er zufällig auf einem für den Transport nach Deutschland bestimmten Wagen voller Schuhe entdecken muss. Die fast mystisch anmutende Radikalität dieser Vereinigung mit dem unbekannten Anderen erschließt sich vielleicht am klarsten in dem kleinen Gedicht „Abend“ (Wilner Getto, 10. Januar 1943). Die Schlusszeile lautet: „ Es offenbart sich im Licht meiner Blindheit: Aus wie vielen Seelen besteht mein Ich…“.