Das Kosovo hinter der Kosovofrage – am Vorabend der Status-Verhandlungen

Ernst Köhler (September/ Oktober 2005)

1. Zwischen Diagnose und Diplomatie. Über den neuen Kosovo-Bericht des UN-Sonderbeauftragten Kai Eide.

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Bereits im August 2004 hatte der norwegische Diplomat Kai Eide im Auftrag Kofi Annans einen vielbeachteten Bericht über die Lage im Kosovo vorgelegt. Unter dem Eindruck der schweren Übergriffe im März 2004, hatte er davor gewarnt, die Verhandlungen über den künftigen „Status“ des Landes noch weiter zu verzögern. Im Klartext: die Frage, ob das Kosovo ein unabhängiger Staat sein wird, wie es die albanische Mehrheit will, oder aber als autonome Provinz bei Serbien-Montenegro bleibt, dürfe nicht länger vertagt werden. Die „Standards“ waren soeben in den anti-serbischen Unruhen massiv verletzt worden – dennoch sollten sie jetzt auf einmal nicht mehr als unverzichtbare Vorleistung gelten: als unabdingbare Voraussetzung für die Eröffnung des „Status-Prozesses“.

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Die Tagebücher von Victor Klemperer sind wirklich gelesen worden

Ernst Köhler

Buchbesprechung zu Mihail Sebastian: Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt. Tagebücher 1935-44.

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Mihail Sebastian: „Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt“ .Tagebücher 1935-44, Berlin 2005 (Claassen), broschiert 2006 (List)

Die Tagebücher von Victor Klemperer sind wirklich gelesen worden – nebenher, nicht in den Ferien, in den Abendstunden, über Wochen. Das war ein Bild von der deutschen Gesellschaft unter Hitler, wie man es ungeachtet allen verbürgten Wissens doch immer noch gesucht hatte. Den jetzt auch auf deutsch vorliegenden Tagebüchern von Mihail Sebastian aus den Jahren 1935-44 wäre die gleiche Aufmerksamkeit zu wünschen. Das Rumänien der „Eisernen Garde“, der Diktatur des Generals Jon Antonescu, Südosteuropa im Schatten, unter dem Druck, dann unter der Kontrolle des „Dritten Reichs“ scheint einigermaßen entrückt – bereits nicht mehr ganz gegenwärtige Geschichte.

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Die Wahrheit dennoch nicht zum Schweigen gebracht. Nachdenken über den Mord an Anna Politkovskaja

Ernst Köhler befragt Benno Ennker

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Der Historiker Benno Ennker

Der Mord an der weltbekannten russischen Journalistin Anna Politkovskaja hat bei uns eine besondere und anhaltende Betroffenheit hervorgerufen. Benno Ennker ist Osteuropahistoriker an der Hochschule St. Gallen und an der Universität Tübingen. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Sowjetgeschichte. Aber er ist auch ein Kenner des gegenwärtigen Rußlands. Die Fragen stellte Ernst Köhler.

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Epochenwechsel auf dem Balkan

Ernst Köhler

Mit dem allzu Bekannten sollte man sich vorsehen. Wie mit dem „Balkan“, seiner ewig gestrigen Kleinstaaterei und seinen giftigen Nationalismen, die vielen sattsam, geradezu sprichwörtlich bekannt vorkommen. Aber es gibt einen neuen Balkan, und es wird Zeit, ihn zur Kenntnis zu nehmen. Die Epoche des Zerfalls, der blutigen Zerschlagung Jugoslawiens ist vollendet. Man kann es sich an Serbien verdeutlichen. Die Rückwärtsgewandtheit und Aussichtslosigkeit seiner Kosovo-Politik sind offensichtlich. Sie wirken inzwischen bizarr bis zur Lächerlichkeit – nicht erst seit dem Votum des Internationalen Gerichtshofes zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo Anfang 2008.

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Es ist wie beim Hunger

Ernst Köhler

Buchbesprechung zu Martin Walde: Wie man seine Sprache hassen lernt. Sozialpsychologische Überlegungen zum deutsch-sorbischen Konfliktverhältnis.

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Martin Walde: Wie man seine Sprache hassen lernt. Sozialpsychologische Überlegungen zum deutsch-sorbischen Konfliktverhältnis, Bautzen 2010 (Domowina-Verlag) 184 S., Abbildungen, Broschur, ISBN 978-3-7420-2178-6 19.90 €

Es ist wie beim Hunger. Wenn er erst einmal hungert, wehrt der Mensch sich nicht mehr. Zur Hungerrevolte kommt es nur, wenn es schon wieder ein bisschen bergauf geht. Jeder Protest braucht die Aussicht auf Erfolg, auf eine Machtverschiebung. Sonst bleibt er aus. Die Unterdrückung muss nur umfassend und nachhaltig genug sein, dann wird Widerstand zur absoluten Ausnahmeerscheinung. Für dieses tragische Paradox gibt es in der deutschen Geschichte reichlich Belege. Einen exemplarischen, aber bisher so gut wie unbekannten hat uns jetzt Martin Walde mit seiner Studie über die Geschichte der Sorben in Deutschland geliefert. „Wie man seine Sprache hassen lernt“ – der Titel nimmt bereits die Kernaussage des Buches vorweg. Die staatliche Entrechtung und gesellschaftliche Ausgrenzung dieser slawischen Minderheit in der Lausitz war über die verschiedenen Phasen der modernen deutschen Geschichte hinweg so allgegenwärtig, tiefgreifend und bruchlos permanent, dass die Betroffenen sich nicht mehr zu wehren und zu behaupten wussten. Stattdessen haben sie sich unterworfen, wie das Gesetz des Menschen es will. Sie haben sich in diversen Formen mit ihrer übermächtigen und feindlichen Umwelt identifiziert. Sie haben sich selbst nicht mehr ertragen. Sie haben ihre Muttersprache als einen Makel, als ein Stigma erlebt.

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Marx beim Scheitern zusehen

Ernst Köhler

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Karl Marx, Hrsg. von Michael Berger, Freiburg i.Br. 2005 (Reihe: absolute, orange press), 18 €

Ein überragender Denker, in seinen Prognosen widerlegt, seines politisches Einflusses gänzlich beraubt – aber abtun, vergessen läßt er sich auch nicht. Das will man sich denn doch nicht antun. Man spürt, daß man sich damit selber schaden, selber ärmer oder dümmer machen würde. Das ist der gegenwärtige Schwebezustand unserer Marx-Rezeption. Und aus ihr kommt die keineswegs rhetorisch gemeinte Frage: Was hat Karl Marx uns heute noch zu sagen? Vielleicht ist sie aber zu steil, zu direkt gestellt. Vielleicht beginnt man besser mit der Frage: Bis wohin können wir Marx heute noch folgen? Und wo müssen wir ihn endgültig einer abgetakelten Geschichtsphilosophie zuordnen – einer dieser „großen Erzählungen“ also, die inzwischen – in unseren Breiten wohlgemerkt, keinewegs global – allesamt abgebaut sind?

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Pathos gespickt mit Ironie

Ernst Köhler

Über den Roman „Im geschlossenen Raum“ von István Eörsi.

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István Eörsi

Wie es die Gedanken-Lyrik gibt und das Theater des Disputs, des Thesenstreits, so auch den Roman, der eigentlich ein Essay ist. Im geschlossenen Raum, das letzte, auf deutsch jetzt postum erschienene Buch des 2005 verstorbenen ungarischen Schriftstellers István Eörsi, ist ein solcher Roman. „Episoden einer Abhandlung“ nennt er es selbst einmal. Die Wirklichkeit, die er gedanklich zu durchdringen und von allen Seiten zu beleuchten versucht, ist der Poststalinismus in Ungarn – also die Jahrzehnte, die auf den von den Sowjets brutal niedergeschlagenen Aufstand von 1956 folgten und mit dem Namen Kádárs verbunden sind.

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Rede bei der Gedenkveranstaltung der Stadt Konstanz für Zoran Djindjic am 23. März 2004

Ernst Köhler

Zum Text erläutert Ernst Köhler: „Die Rede ist ins Serbische übersetzt worden und in der Belgrader Wochenzeitschrift ‚ekonomist‘ erschienen. Der hier erwähnte liberale serbische Oppositionspolitiker Cedomir Jovanovic, nicht nur für mich der eigentliche politische Erbe Djindjics, hat den Text zudem in seine Homepage aufgenommen. Bei uns ist die Rede hingegen unveröffentlicht geblieben.“

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Zoran Djindjic wurde am 12. März 2003 in Belgrad ermordet.

Ich fürchte, es ist keine Rede, was ich Ihnen hier vortragen möchte, sondern eher eine Reportage, ein Bericht über die Stipvisite, die wir Ende Februar in Belgrad gemacht haben. Für mich war es die erste Kontaktaufnahme nach zwei Jahren. Aber es war nicht nur traurig, sondern auch befreiend – befreiend, weil die Leute, die Zoran Djindjic in Belgrad verteidigen, ihn auch verteidigen und sich nicht nach allen Seiten abzusichern suchen. In einem zweiten Anlauf gehe ich dann noch einmal etwas allgemeiner auf die jüngste politische Entwicklung in Serbien ein, so wie sie sich dem Besucher eben darstellt. Wovon soll man in diesem Fall sprechen – von einem Umschwung? Von einem Rückschlag? Von einer Wende?

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Romeo und Julia in Ex-Jugoslawien

Ernst Köhler

Über den Roman „Meeresstille“ von Nicol Ljubic

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Nicol Ljubic: Meeresstille. Roman. Hamburg 2010. Hoffmann & Campe. 191 Seiten, 17 €.

Schon der „Prolog“ des neuen Romans des Berliner Journalisten und Autors Nicol Ljubic (geb. 1971 in Zagreb) stößt den Leser auf die reale Geschichte des verbrecherischen Krieges in Bosnien 1992 bis 1995. Und das ist etwas grundsätzlich Anderes als die heute eingefahrene Erinnerungspolitik, die sich nahezu ausschließlich auf „Srebrenica“, auf das dort im Sommer 1995 verübte Massaker an 8000 muslimischen Männern und Jungen beschränkt. In diesem Text geht es vielmehr um den bislang so gut wie ignorierten und auch offiziell-juristisch nicht anerkannten Völkermord an den bosnischen Muslimen in den Städten und Ortschaften entlang der Drina – zum Beispiel in Visegrad, dem gebildeten Publikum bekannt aus Ivo Andrics berühmtem Roman „Die Brücke über die Drina“. Ostbosnien war bereits lange vor dem allgemein bekannten, „historischen“ Verbrechen bei Srebrenica der Ort einer systematischen Ausrottung von Menschen. Diese Verbrechen serbischer Soldaten, Milizen, Banden gegen die Menschlichkeit setzen sofort mit Beginn des Krieges ein und haben tausenden Menschen, Zivilisten das Leben gekostet. Ahnungslosen, vom multiethnischen Mythos ihres Landes eingelullten Menschen, die mit dieser vernichtenden Gewalt niemals im Leben gerechnet hätten; Opfern, die bis heute – anders als die von Srebrenica – in unserem Geschichtsbild gar nicht vorkommen.

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Totale Macht über den Menschen

Ernst Köhler

Über den Gefängnisbericht des chinesischen Schriftstellers Liao Yiwu.

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Liao Yiwu: Für ein Lied und hundert Lieder. Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann, Frankfurt am Main 2011 (S. Fischer Verlag), gebunden, 592 Seiten, 24,95 €

„Ehrlich gesagt, bevor ich im Knast gewesen bin, hatte ich im Grunde keine Ahnung von Politik, bis heute habe ich keine nennenswerten reiferen politischen Ansichten. Ich bin Individualist, das Vagabundentum steckt mir noch im Blut, und nur als es zu einer dramatischen Kollision zwischen der Staatsideologie und meiner Eigenart als Dichter gekommen ist, blieb mir nichts anderes übrig, als mich zu wehren und sogar bis zur Selbstzerstörung Widerstand zu leisten. Ich kann keine Regierung akzeptieren, die aus Henkern besteht … Ich bin jemand, der sich an seine Todfeinde erinnert …“. Das sagt Liao Yiwu im Gefängnis einmal zu einem anderen politischen Gefangenen.

Der Leser dieses Erfahrungsberichts aus chinesischen Gefängnisses in den 90er Jahren – in der Phase unmittelbar nach dem Massaker vom 4.Juni 1989 in Peking – kann es nur als Glücksfall empfinden, dass der Autor so bei sich selbst bleibt. Die hier vorgelegten Erinnerungen werden so zu einem persönlichen, intimen Zeugnis jenseits bloßer politischer Analyse und Aufklärungsabsicht. Es ist die reine Defensive gegen das Vergessen. Man kann dieses Werk nicht in einem Zug lesen. Was dieses Regime mit seinen Gefangenen macht, und was die Gefangenen mit sich selber machen, tritt hier in einer imaginativen Sprache vor uns. Sie arbeitet immer wieder mit einer expressiven oder visionären Bildhaftigkeit. Es ist die Verfremdung und Destruktion der gewohnten sachlichen Darstellung im Interesse der Annäherung an eine kaum vorstellbare Wirklichkeit.

Liao Yiwu hat nicht aufgehört ein Dichter zu sein, als er nach der militärischen Repression der Studentenbewegung glaubt, künftig keine Gedichte mehr schreiben können. Wenn die Willkür der Staatsmacht, die Ungerechtigkeit der politischen Ordnung so heillos ist wie im China dieser Jahre, dann gerät für diese Sprachkunst auch der Kosmos aus den Fugen. Alles ist dann verkehrt, alles pervers. Der Himmel selbst driftet in ein unkontrollierbares Chaos ab. Für einen chinesischen Leser dürfte die übergreifende Verknüpfung der Unordnung auf der Erde und im Weltall vertrauter sein als für uns.

Dabei ist es das China Deng Xiaopings und seiner im Westen bis heute hochgeschätzten Wirtschaftsreformen. Das jetzt in der literarisch kongenialen Übersetzung von Hans Peter Hoffmann vorliegende Buch von Liao Yiwu stößt uns auf die Gleichzeitigkeit von kapitalistischer Reform und totalitärer Machtsicherung der kommunistischen Partei. Dass der Text überhaupt zu uns gelangt ist – von seinem Autor immer wieder versteckt, dreimal neu geschrieben, schließlich zuletzt nach Deutschland hinausgeschmuggelt, ist fast ein Wunder. Das Nebeneinander, die funktionale Verklammerung der beiden kommunistischen Strategien – Entfesselung der Wirtschaftskräfte, Abwürgen jeder Demokratisierung – war im Prinzip bekannt. Aber nur in der abstrakten, klischeehaften Form, wie sie uns schon unsere Interessenlage nahe legte. So ist etwa die bei Liao Yiwu dokumentierte tiefe Resonanz der protestierenden Studenten in der breiteren Bevölkerung bei uns kaum zur Kenntnis genommen worden. Es gab und gibt auch eine chinesische Spielart dieser Halbverdrängung und Gleichgültigkeit. Bei Liao Yiwu nimmt sie sich so aus: „Elf Jahre, eine Demokratiebewegung von gewaltigen Dimensionen hat sich in nichts aufgelöst, eine Seifenblase, die politischen Gefangenen … bilden ein nicht gerade glorreiches Erbe der Gesellschaft und werden von der überwiegenden Mehrheit der Menschen, die dafür gelobt werden, ‚nicht zu viel nach Politik zu fragen’, abgelehnt – von denselben, die sich einmal in Massen und begeistert in die Politik der Straße gestürzt haben!“

Das erste Kapitel des Buches („Es geschah am Ostfenster“) ist noch in einem anderen Ton gehalten. Das Volk in seiner Vielstimmigkeit ist hier noch präsent. Es ist noch nicht eine zynische, entpolitisierte Masse. Der Autor ist (formell) damals noch in Freiheit, wenn er sich wegen seiner im Land bald berühmten großen Gedichte „Massaker“ und „Requiem“ – beide im Text dokumentiert – auch schon intensiv verfolgt sieht. Man bedauert etwas, dass die Einschübe über das jahrelange, schubhafte Schreiben an diesem Zeitdokument eher selten bleiben und in der Regel knapp ausfallen. Die mit dem zweiten Kapitel einsetzende dichte, sinnlich detaillierte Beschreibung der Qual der auf engstem Raum zusammengedrängten und oft zur Strafe auch noch an ihren Gliedmaßen gefesselten Gefangenen erdrückt diese Reflexion dann fast ganz. Erst im letzten Kapitel („Zur Umerziehung durch Arbeit“) öffnet sich der Text wieder dafür.

Die Methodik der Entmenschung von Menschen, deren sich die chinesischen Kommunisten bedienen, ist aber auch unfassbar. Sie lassen die Gefangenen auf weite Strecken hin von Gefangenen verwalten, beherrschen, unterdrücken, foltern, fertig machen. Die eigentliche Macht über dieser „Selbstverwaltung“, über den Marionetten-Despotien in jeder einzelnen Zelle, bleibt in der Hinterhand. Abgesehen von den unvermeidlichen Großinszenierungen des totalen Machtanspruchs über den Menschen, greift „die Regierung“, wie die Gefangenen das Gefängnisestablishment nennen, mit ihren Elektroknüppeln oder ihren unsäglichen anderen Disziplinierungsverfahren meist nur im Fall des Konflikts oder Aufruhrs ein.

Indirekte Verfahren der Herrschaftsausübung waren bekanntlich auch bei den Nazis in Gebrauch. Die chinesischen Machthaber können den Nazis durchaus das Wasser reichen. Sie sorgen dafür, dass in ihren Gefängnissen alles Böse, alle Verkommenheit, alle Infamie, das abgründige Rachebedürfnis einer uralten und niemals freien Gesellschaft zum Einsatz kommt. Es gibt trotz allem eine Grenze für diese von oben gesteuerte Selbstzerstörung. Das sind die „Toten“, wie im Jargon des Gefängnisses die zum Tode verurteilten Gefangenen bezeichnet werden. Wenn sie sich auf ihre Hinrichtung vorbereiten, können die Mechanismen des Kapo-Systems in der Zelle aussetzen und schweigen. Egal, wer dieser Todeskandidat ist und was er in seinem Leben getan hat – und sei er auch ein brutaler Frauenmörder gewesen: jetzt hört man ihm zu, jetzt übernimmt man seine Arbeitsleistung, jetzt hilft man ihm beim Essen, wenn es sein muss.