Jede Demokratie, die den Namen verdient, ist unzufrieden mit sich selbst. Das ist ihre Crux oder besser gesagt ihr Markenzeichen. Sie weiß, dass sie erst am Anfang steht – sei es nun im Vorgriff auf neue Dimensionen ihrer Selbstverwirklichung und Ausgestaltung. Oder eben in der Abwehr von Rückbildung, Versagen und Betrug. Immer sieht sie sich damit konfrontiert, dass ihre Aufgaben größer sind als ihre Errungenschaften. So alt und ehrwürdig sie sein mag. Und die ukrainische Demokratie ist noch jung. Wer aus Deutschland kurz nach dem „Maidan“ von 2013/2014 in Kiew oder Charkiw war, konnte diesen basis-demokratischen Vektor, diese innere Front mit Händen greifen: die unnachgiebige Reformforderung von unten an die Adresse der Institutionen des Staates; die zornige, erbitterte Zurückweisung der sich nach wie vor überall zäh behauptenden oder wiederherstellenden alten Machtverhältnisse. So im Gespräch mit überlebenden Akteuren der gewalthaften Auseinandersetzung auf dem Maidan, die bekanntlich viele Tote gefordert hatte. Sie haben den Besuchern gegenüber die glatte, anhaltende Obstruktion der Justiz in ihren Fällen herausgearbeitet. 2015 jedenfalls war der demokratische Rechtsstaat für diese Kämpfer noch bloße Zukunftsmusik.
Inzwischen hat der russische Vernichtungskrieg gegen die Ukraine die innenpolitische Konfliktsituation des Landes in einen „Nebel“ gehüllt, wie man es treffend genannt hat. Wenn sie plötzlich doch einmal wieder auffliegt, wie kürzlich mit der Weltnachricht über bestechliche hohe Richter inmitten ihrer Geldbündel, sind wir als Beobachter von außen gefordert. Dem Gefühl der Enttäuschung sollten wir uns nicht überlassen. Es hätte etwas Pharisäerhaftes. Die Anteilnahme am Schicksal dieses Landes und die Hochachtung vor dem Freiheitskampf seiner Bürger ist etwas anderes als ein Heldenkult. Der immer parat steht und niemals mehr ist als eine süffige Masche.
Solidarität verlangt eher eine nüchterne Vergegenwärtigung der zwingenden praktischen Probleme, vor die sich diese Zivilgesellschaft im Krieg gestellt sieht. Sie ist dabei nach wie vor weitgehend auf sich selbst und ihre Eigenverantwortung zurückverwiesen. Anders als wir in unserem ausgearbeiteten, etablierten Staatswesen, an das wir vieles delegieren können – gewohnheitsmäßig und auch ungestraft.
Wie geht man etwa mit den vielen „Kollaborateuren“ in den von den Besatzern befreiten Gebieten um? Das muss in dieser um ihr schieres Überleben in Selbstbestimmung kämpfenden Gesellschaft eine große, heiße, schmerzhafte Frage sein. Lokal, regional in jedem einzelnen Fall. Wie ist hier das Recht zu wahren und zu schützen? Wer ist überhaupt ein „Verräter“? Der Arzt, die Krankenschwester, der Lehrer, die unter den Russen weiter ihre Arbeit gemacht haben? Es gab offenbar unbeugsame Oberbürgermeister, die im Interesse der ihnen anvertrauten Städte im Amt blieben. Ohne sich zu prostituieren. Unzweifelhafte, zynische Kollaboration mit den Invasoren reichte hingegen offenbar bis hoch hinauf im Machtsystem der Ukraine, bis in die Spitzen der ukrainischen Geheimdienste. Der noch ungefestigte ukrainische Rechtstaat steht vor einem enormen neuen Leistungstest: Mitten in einem leidenschaftlich angespannten, aufgereizten politischen Klima muss er vertretbare, tragfähige Unterscheidungen und Urteilskriterien erarbeiten. Nicht nur im Blick auf den erstrebten EU-Beitritt.