Longue durée auf russisch?

Ernst Köhler

Longue Durée auf russisch?

Das populäre Bild einer großen historischen, die Jahrhunderte übergreifenden Kontinuität im Denken, Fühlen und Verhalten der russischen Gesellschaft wäre möglicherweise einmal zu hinterfragen. Ob es nun als ein stolzes Selbstbild des Landes auftritt, wie russische Denker, Autoren oder Propagandisten es vortragen. Oder ob es ins Kritische und Schwarze gewendet erscheint – wie in den Stimmen, die heute aus dem russischen Exil und aus Osteuropa zu uns gelangen. Es könnte ein Zerrbild sein. Es könnte dem postsowjetischen Russland seine gesellschaftliche Spezifik rauben. Auch er russischen Gesellschaft unter der Herrschaft Putins, die ebenfalls erst einmal für sich selbst zu betrachten ist. Und die eher das Szenarium eines politischen Gewoges bietet als ein gewissermaßen starres, identisches Stück oder Fragment immer der gleichen althergebrachten Untertänigkeit. Eine solche Einordnung überflöge oder unterschlüge zum Beispiel die Massenproteste gegen das Putin-Regime von 2012, die – anders als hierzulande oft angenommen – nicht nur die jüngeren, gebildeten Generationen in den großen Städten umfassten, sondern das ganze Land und die gesamte Bevölkerung. Es handelt sich dabei auch insofern um eine politische Zäsur, als Wahlen, manipulierte Wahlen in der gesamten Sowjetzeiten niemals irgendein Problem gewesen waren. Anders als etwa im Afrika von gestern und heute.

Aber die Vorstellung von einer uralten, gleichsam versteinerten Sklavenmentalität des russischen Volkes unterschlägt noch vieles andere. So die Ergebnisse echter, unabhängiger innerrussischer Meinungsumfragen in der späten Sowjetunion (hierzulande nur in Fachkreisen zur Kenntnis genommen), die den „Homo Sowjeticus“ bereits a u s t e r b e n sehen. Wenn dieser zerfallende Typus von Anpassung und Unterwerfung unter Putin dann zunächst auch wieder zurückgekehrt zu sein scheint, so doch nicht mehr in seiner 50jährigen sowjetischen Ausprägung als eines aussichtlosen, ewigen Verhandelns jedes einzelnen Individuums oder jeder einzelnen Familie mit der totalen Macht. Es geht jetzt vielmehr um den kritischen Maßstab der sozialen Stabilität, wie sie Putin dem Land versprochen hat. Sie ist es denn auch, die 2012 eingefordert wird: jetzt kollektiv, massenhaft, und gegen Putin.

Die Meinungsfreiheit bleibt im Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein unverzichtbares, existenzielles Kriterium für politische Ordnung. Auch wenn sie den Menschen unter Putin seit 20 Jahren wieder genommen wird. Immer radikaler, mit immer brutalerer Gewalt. Aber warum diese Repression, wenn es sich doch bei der Masse der Russen um geborene Untertanen handelt, die nie etwas anderes wollten als einen unangefochtenen Oberherrn und Zaren. Der alle politischen Entscheidung für einen trifft und dem man sein unverbrüchliches Vertrauen schenkt?

Ich stütze mich hier auf ein scharfsichtiges Buch der jüdisch-amerikanisch-russischen Autorin Masha Gessen: Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor (2020, Suhrkamp Taschenbuch). Aber es ist vor der Invasion Russlands in die Ukraine geschrieben worden, die uns die Frage neu stellt, warum Russland so ist, wie es ist. Das Befremden auf unserer Seite ist überwältigend. Das Ausbleiben jedes großen innerrussischen Massenprotestes gegen diesen Angriffskrieg gegen ein Nachbarland, seine Zivilbevölkerung und ihre Lebensgrundlagen scheint keinen Raum mehr zu lassen für noch die geringsten Hauch eines Verständnisses einer solchen Gesellschaft gegenüber. Aber so geht es auch nicht.

Der Hitler-Vergleich ist nur ein Keule, ein Hammer, zu dem man zur Not und auf der Suche nach publizistischer Angemessenheit und Pointiertheit im Umgang mit Putin greifen mag. Bei aller Verwandtschaft des NS-Staates und der Sowjetunion unter Stalin im unvorstellbaren Ausmaß des Mordens und Folterns gibt es doch auch wesentliche Unterschiede. Die Nazis haben eine klare, „kristalline“ Linie zwischen den Opfern und den Tätern gezogen, während die Sowjets beide Großgruppen gleichermaßen verfolgt und millionenfach ermordet haben. Die Kader wurden immer selbst zu Opfern. Die Opfer in den KZs und in den Vernichtungslagern wussten alle, warum sie dort waren. Die Opfer im Gulag wussten es nie. Sie konnten es sich nur ergrübeln. Und sie gerieten bei diesem hoffnungslosen, verquälten Rätseln über den Sinn und den politischen Hintergrund ihres Schicksals und ihres Leids oft genug auf die Seite der Mörder und der Staatsmacht. Und damit in einen selbstzerstörerischen Gegensatz zu ihren Leidensgenossen. Alles so und nicht anders vom Machtzentrum gewollt.

Diese Undurchsichtigkeit und Absurdität der Lagerhaft, die gezielt und systematisch hergestellte, perverse Sinnlosigkeit ist denn auch der eigentliche Charakter des Gulag. Nicht Vernichtung. Auch nicht Ausbeutung bis zum Tod, wie nicht wenige von uns in einer bestimmten Phase ihrer politischen Entwicklung glauben wollten: zur Rechtfertigung Stalins und seiner Herrschaftsmethoden im Interesse des Aufbaus einer modernen Industriegesellschaft. Sondern Quälen und Foltern pur, der Ruin des Menschen, die Zerstörung der menschlichen Persönlichkeit pur. Ohne irgendeine grundlegende, zielführende rassistische Logik, ohne ökonomische und „zivilisatorische“ Rationalität. Wenn die Menschen dabei massenhaft starben, so war es egal. Es bedeutungslos, aber es war nicht die eigentliche Entscheidung und Absicht des Systems.

Dieser Unterschied zwischen den beiden Formen von Terrorstaat wird dann auch in der Zeit nach der Katastrophe tiefgreifende Folgen für die jeweilige Gesellschaft haben – bis heute. Einmal ganz abgesehen davon, dass diese neue Epoche in Deutschland 1945 beginnt und im Zeichen des Kalten Kriegs stehen wird, in Russland hingegen erst um Jahrzehnte später. Für uns war – nach den bekannten, langen Jahren der „Unfähigkeit zu trauern“, des Verschweigens und des Selbstbetrugs – dann unabweisbar evident, dass wir das Tätervolk waren. Für die postsowjetischen Russen war nichts auch nur entfernt so eindeutig. Und nur ganz besondere, dissidente, vergeistigte, unbeugsame Minderheiten – fernab jeglichen Konsenses in der Erinnerung an Millionen von Toten und in der Trauerarbeit, wie es ihn dann in Deutschland geben wird – machen sich in Russland dann an die wahrheitsgemäße Aufarbeitung der Katastrophen des 20. Jahrhunderts.

Ich folge hier einem hellsichtigen Buch des russisch-amerikanischen Kulturhistorikers Alexander Etkind: Warped Mourning. Stories of the Undead in the Land of the Unburied ( 2013, Standford University Press; es ist leider nicht ins Deutsche übersetzt). Das Werk verweist uns auf den historischen Kontext der visionären Aussage einzelner russischer Autoren wie Andrej Kurkow (Tagebuch einer Invasion, 2022) oder Maria Stepanova (Reparatur des Lebens, in: FAZ, 27.11.2023), das Versagen, die Verantwortungslosigkeit des russischen Volkes im russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine sei begründet darin, dass die Katastrophen des Landes im 20. Jahrhundert nie gesamtgesellschaftlich aufgearbeitet worden seien.

Keine Aufarbeitung der Vergangenheit und ihrer Verbrechen, keine handlungsfähige Zivilgesellschaft. Gerade wir Deutschen – mit unserem um Jahrzehnte verspäteten Aufwachen in den 80er Jahren – sollten das eigentlich verstehen und uns da besser kein verhärtetes, moralisierendes Unverständnis leisten.