Distanz zur „Frankfurter Schule“:
Bei jemandem seinen Doktor zu machen, heißt nicht, ihn als seinen Leitstern zu betrachten. Zoran Djindjić ist nach Deutschland gekommen, um bei Jürgen Habermas zu promovieren und hat seine Dissertation dann bei Albrecht Wellmer in Konstanz, einem anderen Vertreter der „Frankfurter Schule“, über das Gesellschaftsbild von Marx abgeschlossen. Die Brücke oder besser die Schiene war der Praxis-Kreis in Belgrad, der eng mit den hiesigen Philosophieprofessoren der Frankfurter Richtung verbunden und verbandelt war. Auch dann übrigens noch, als die Praxis-Leute in Belgrad im Laufe der 80er Jahre vom Marxismus irgendeiner Variante zum serbischen Nationalismus der chauvinistischen Variante übergingen. Das ist jedenfalls in Konstanz, wie ich mich erinnere, lange nicht verstanden oder verdrängt worden. Ausgerechnet unsere Philosophen in der Nachfolge marxistischer Traditionen haben sich über die fatale Wendung von links nach ganz rechts, wie sie sich im akademischen Belgrad – entlang der Kosovo-Frage – vollzogen hatte, noch über Jahre hinweggetäuscht. Als Zoran Djindjić Mitte der 80er Jahre in Frankfurt am Main dann selbst anfängt, eigenständig zu philosophieren und zu schreiben, hat das nichts mehr mit Marx zu tun. Es ist der definitive Bruch mit Marx und seiner großen Erzählung. In seinen politischen Essays aus dieser Zeit (1986-1988), die ich erst viele Jahre später kennen lerne, über den Vortrag von Ivan Glaser zur Gedenkveranstaltung 2013 an der Universität Konstanz, stellt Djindjić dem Totalitarismus des jugoslawischen Sozialismus einen essentiellen Liberalismus entgegen. Wie ihn Ernst Fraenkel in seiner Analyse des nationalsozialistischen Unrechtsstaates entwickelt hatte. (Vgl. Ivan Glaser, Den modernen Staat denken, in: Zoran Djindjić, Experiment gegen die Moderne, 2017, S. 290 ff.)
Aber die Distanz Zoran Djindjićs – und anderer aus Jugoslawien stammender Intellektueller in seinem damaligen Umfeld – vor allem zu Jürgen Habermas als dem international einflussreichsten Vordenker der Frankfurter Schule hatte noch andere Gründe. Leider muss ich sagen: so richtig verstehe ich sie erst heute – angesichts des russischen Vernichtungskrieges gegen die Ukraine und im Licht der unsäglichen öffentlichen Plädoyers von Habermas für sofortige Verhandlungen mit
Präsident Wladimir Putin. Es ist der Kerngedanke von Habermas, alle politischen Konflikte könnten letztlich via Dialog, „herrschaftsfrei“ entschärft, temperiert und friedlich gelöst werden, der diesen jungen Leuten aus einem hoffungslos fehlkonstruierten und auch bereits rissigen, bereits auseinanderbrechenden Herkunftsstaat als indiskutabel vorkommen musste, wenn nicht als lächerlich. Weniger pointiert gesagt: als eine weltferne, illusionäre Konstruktion: genauer Ausdruck, typisches Produkt der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft und ihrer interessierten politischen Denkfaulheit.
Zurück in Belgrad: Auf der Suche nach politischer Orientierung
Vielleicht darf ich mit meiner eigenen Desorientierung anfangen: Nach zweieinhalb Jahrzehnten nahezu ausschließlicher Beschäftigung mit deutscher Zeitgeschichte (nur unterbrochen durch ein Forschungsstipendium in den USA) begann ich Mitte der 80er Jahre, zusammen mit Ivan Glaser Jugoslawien zu bereisen. Charakteristisch für meine Unbedarftheit ist 1986 ein Besuch bei Dobrica Cosic in der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste, den ich ganz wunderbar finde mit seiner druckreifen Sprache und in seiner ganzen Hoheit als einer der angesehensten Romanciers des Landes. Null Ahnung, dass wir hier einen giftigen, rassistischen Nationalisten vor uns haben. Das wird mir dann allerdings zwei oder drei Jahre später klar: als Cosic in einer privaten Audienz in seinem Belgrader Domizil, die Zoran Djindjić für uns arrangiert hatte, behauptete, im Kosovo finde ein „Genozid“ an der serbischen Minderheit statt. Und speziell an meine Adresse: „dafür brauche es keiner Gaskammern“.
Den aufsteigenden Slobodan Milosevic hatte ich gegenüber meinen bereits zutiefst beunruhigten Freunden in Zagreb, wo wir unsere Reisen immer starteten, noch peinlich lange als ein bloßes Übergangsphänomen, ein verirrtes Zwischenspiel abgetan, dem alsbald – wie überall in Ostmitteleuropa – auch hierzulande die große prowestliche Zäsur folgen werde. Erst unsere Besuche im Kosovo Ende der 80er Jahre haben mich darüber belehrt, was hier wirklich im Gange war. Aber das haben wir alles schon erzählt. (Vgl. Ivan Glaser, Ernst Köhler, Für das kleinere Ganze. Zu einem anderen Verständnis vom Ende Jugoslawiens, 1993)
Zoran Djindjić, dessen Lebensmittelpunkt jetzt wieder Belgrad war, hatte in meinen Augen zu diesem Zeitpunkt noch wenig davon begriffen. Was unsere Abstecher in das Kosovo betraf, so lieh er uns einmal seinen großen, alten Wagen (mit der Frankfurter Nummer, was uns in den durchfahrenen Dörfern von serbischer Seite fröhliche, wenn auch irrtümliche Gastgeschenke durch das heruntergeschraubte Autofenster einbrachte). Er hörte sich unsere Berichte über die aktuellen Terrormethoden des serbischen Kolonialregimes im Kosovo auch geduldig und aufmerksam an, aber das war eher die ihm eigene Gelöstheit und Grandezza, die Freundschaft mit uns. Erreicht haben wir ihn damit kaum.
In luziden Essays hatte Djindjić die kommunistische Gewaltherrschaft Titos und seiner Nachfolger auseinandergenommen (anders als übrigens so mancher seiner ehemaligen Konstanzer Kommilitonen, die beispielsweise weiter an der Mär von der basisdemokratischen „Arbeiterselbstverwaltung“ im offenen Sozialismus Titos strickten). Aber jetzt war unser Zoran auf einmal von Milosevic-nahen Medienleuten umgeben. Das neu heraufziehende Szenarium der Polarisierung und Spaltung des Landes – liberaldemokratischer Aufbruch in Slowenien und Kroatien, das war jetzt „1989“! – in Serbien eine plebiszitäre, demagogisch gekonnte, mittels einer neuen, sinnlicheren Sprache inszenierte, großserbische Massenmobilisierung dagegen – schien sich ihm noch zu entziehen. Für ihn hatten diese Slowenen und Kroaten mit ihren vermeintlich progressiven Reformabsichten noch immer etwas von den „Sklavenvölkern“ des alten, anti- imperialen serbischen Narrativs. Politische Selbstbehauptung, Selbstbefreiung, die Fähigkeit zur Staatsbildung, zur Durchsetzung von staatlicher Unabhängigkeit war danach seit jeher die Inspiration, die Leistung, der Adel der serbischen Nation gewesen. Was sich da im Nordwesten jetzt so unverschämt und lautstark breit machte, war hingegen politische Unverantwortlichkeit. Es war borniert, partikularistisch, staatsfeindlich und kam allein aus wirtschaftlicher Eigensucht.
So etwas wie ein Weltbild war das bei Djindjić freilich nicht mehr. Es war nur noch ein wackeliges, verschlissenes Ressentiment. Fast gleichzeitig oder doch schon im nächsten Augenblick wird Djindjić dann maßgeblich an der Gründung der oppositionellen Demokratischen Partei in Serbien beteiligt sein.
Eine unbeantwortete Frage
Wie konnte so einer in so einem solchen Land an die Macht gelangen? Das habe ich mich in meinem Beitrag zur Gedenkveranstaltung für Zoran Djindjić 10 Jahre nach seinem Tod gefragt. Und das frage es mich heute noch immer. Mitreden kann ich da nicht, ich habe nichts aus der Nähe beobachtet. Es ist eine Forschungsaufgabe. Es wäre eine Aufgabe für Sie als Journalisten, lieber Dragan Stavljanin. Ich habe meinen Freund für ein Jahrzehnt – in diesen für ihn als oppositionellen Politiker unter dem Regime von Slobodan Milosevic so entscheidenden Jahren – nicht mehr gesehen. Selbst die Frage, wie er es denn überhaupt gemacht und geschafft haben könnte; die Frage also nach den konkreten Bedingungen und Handlungsmustern seines Aufstiegs im politischen Dschungel Serbiens habe ich mir erst im Nachhinein gestellt. Als die Kriege seit 1991 mir diese Frage nicht mehr so verstellten. Als ich nicht mehr so fixiert war auf das Schweigen Zoran Djindjićs zu diesen Kriegen, die doch letztlich alle von Serbien ausgingen. Mit ihren Massemorden an Zivilisten, mit ihrer Vertreibung von Millionen von Menschen („ethnische Säuberung“), mit ihrer Zerstörung von Städten – wie Vukovar, eine Katastrophe, die bis heute der europäischen Öffentlichkeit nicht richtig bewusst ist. Vielleicht holen wir es angesichts des Schicksals von Mariupol im vergangenen Jahr ja noch einmal nach.
Es ist eines, wie man als Bürger eines demokratischen Landes auf so etwas reagiert. Aber als Historiker sollte man schon gewisse Anforderungen an sich selbst stellen. Sich etwa der Frage stellen: wieviel „Machiavellismus“, welches Ausmaß von zynischer taktischer Beweglichkeit war unvermeidlich, um mittelfristig einen Milosevic loszuwerden? Oder geht das überhaupt nicht und gehört strikt tabuisiert? Was ist eigentlich dran an der Geschichte, dass Djindjić kurzzeitig selbst mit einem Verbrecher, dem Massenmörder Radovan Karadzic in Pale, zusammengearbeitet hat? Um Milosevic das Wasser abzugraben und dem Despoten Wählerstimmen zu rauben? Ausblenden ist immer daneben. Aber ich muss mich auch nicht moralisierend überheben. Ich könnte vielmehr erst einmal versuchen, mir den Kontext dieser fragwürdigen Entscheidung zu vergegenwärtigen. Was für eine politische Situation war das überhaupt? Welche Figur gibt Djindjić hier ab? Sollte ich bei diesem Nachforschen in Schwierigkeiten geraten oder gar in ein moralisches Dilemma, arbeite ich richtig.
Selbstvergessener Reformer ohne Zeit
Zoran hat mir diesen Rückzug und meine Abwendung von ihm mitnichten vergolten. Er hat mich 2002 in Belgrad in alter Herzlichkeit empfangen. Als sei ich treu wie Gold. Ich war schon 2001 einmal dort, aber da war ich nicht zum Regierungschef vorgedrungen. Dabei hatte ich mich höchst schlau als Mitarbeiter der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ausgegeben. Djindjić hat mir dann in einem Brief nach Konstanz versichert, das sei eine Dummheit gewesen – hätte ich mich schlicht als Freund angemeldet, hätte es gleich geklappt. Anfang 2004 war ich zusammen mit meinem alten Reisegenossen Ivan Glaser wieder in Belgrad, um mich auf meinen Redebeitrag zur Gedenkfeier der Stadt Konstanz für Zoran Djindjić im März des gleichen Jahres vorzubereiten. Der Text der Rede liegt Ihnen vor (in englischer Sprache; auch ins Serbische ist er übersetzt worden, siehe: Ekonomist, 29.März 2004). Er versucht festzuhalten, was der frühe, gewaltsame Tod dieses außerordentlich weitsichtigen und mutigen Politikers für unsere Gesprächspartner vor Ort, vor allem für Cedomir Jovanovic, bedeutet hat: einen unfassbaren Verlust für das Land und seine Entwicklung.
Mein eigenes, sehr fragmentarisches Bild von Zoran Djindjić an der Macht habe ich hier und dann auch in meiner Rede auf der Gedenkveranstaltung der Universität Konstanz 2013 umrissen. Letztere liegt Ihnen ebenfalls vor. Dem möchte ich hier nichts hinzufügen.
PS
Oder höchstens eine kurze Bemerkung zur Kosovo-Frage, die anscheinend in Serbien unsterblich ist und heute die EU wieder akut unter Druck setzt. Djindjić war hier für mich – das heißt: seitdem ich selbst überhaupt eine Ahnung von dieser späten, massiv erschwerten, aber unaufhaltsamen Nationalstaatsbildung hatte – immer auf der radikal und aussichtslos falschen Seite. Auch kurz vor seiner Ermordung noch – als er der Internationalen Gemeinschaft entgegenschleuderte, dass sich im Kosovo ein regelrechter, ausgewachsener Nationalstaat formiere. Ja, und? Aber wenn man sich vorstellt, dass heute Zoran Djindjić in Belgrad der Gegenspieler von Albin Kurti in Prishtina wäre – und nicht Aleksandar Vučić, der, wie Oliver Jens Schmitt es kürzlich formuliert hat, immer noch derselbe ist, der er als Propagandaminister von Milosevic war! Dann stünden sich hier, nicht zu glauben, keine Welten gegenüber. Sondern lediglich zwei demokratische Vollblutpolitiker, die beide nichts als die Wohlfahrt und Weiterentwicklung ihres Landes im Auge haben.
Vielleicht die beiden einzigen unzweifelhaft demokratischen Regierungschefs, die der Balkan in den letzten Jahrzehnten überhaupt hervorgebracht hat.
Ernst Köhler
Konstanz, März 2023
Notizen für Radio Free Europe, Prag
Zum 20. Todestag von Zoran Djindjić