Wir haben unseren tiefen Respekt, und wir haben unsere tiefe Unkenntnis

Ernst Köhler

Bei Ling: Der Freiheit geopfert. Die Biografie des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo.

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Bei Ling: Der Freiheit geopfert. Die Biografie des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo. Übersetzung aus dem Chinesischen von Martin Winter, Yin Yan und Günther Klotz, München 2011 ( riva Verlag), 19,95 €

Die Verleihung des Friedensnobelpreises 2010 an den chinesischen Dissidenten Liu Xiaobo hat uns mit ungetrübter Freude und Genugtuung erfüllt – wie die an Aung San Suu Kyi 1991 oder an Nelson Mandela 1993. Aber das heißt nicht, dass uns dieser ferne Mann im abstrakten Menschenmeer Chinas als Mensch, als konkrete Person auch näher gekommen und fasslich geworden wäre. Wir haben unseren tiefen Respekt, und wir haben unsere tiefe Unkenntnis, unsere westliche Provinzialität – zusammengenommen ergibt das eine Ikone, eine Lichtgestalt etwas oberhalb der Erde.

Jetzt hat der chinesische Untergrundschriftsteller Bei Ling eine Biografie über Liu Xiaobo geschrieben, die auch auf deutsch erschienen ist. Der Autor war mit seinem „Helden“ einmal eng befreundet. In New York waren die beiden unmittelbar vor Beginn der chinesischen Demokratiebewegung von 1989 eine Zeit lang unzertrennlich. Für einen Augenblick denken sie daran, in Amerika gemeinsam um politisches Asyl nachzusuchen. Aber dann trennen sich ihre Wege wieder. Xiaobo kehrt allein zurück nach China und wird der politische Mensch, der zivile Kämpfer, als den die Welt ihn kennt und ausgezeichnet hat. Das ist die Verbindung von Vertrautheit und Abstand, die diesen Text zu einer unsentimentalen, eindringenden, genauen Lebensbeschreibung werden lässt. Das Buch ist offenbar hastig geschrieben – unter dem Zugzwang des Preises, aber dafür auch schnörkellos und packend direkt. Von ganz wenigen leeren, pathetischen Stellen abgesehen, hält sich die Darstellung durchweg dicht an die Texte und Selbstzeugnisse Liu Xiaobos. Auch Andere kommen reichlich zu Wort – mit ihren Reaktionen auf diesen exzentrischen, schroffen, provozierenden, dann auch verzweifelten Mann. Darunter nicht zuletzt seine zweite Frau Liu Xia, die ihn wegen der übergroßen Risiken, die er eingeht, „meinen Dummkopf“ nennt. So entfaltet sich vor dem Leser das Bild eines bedrängten Milieus, eines Netzwerkes im Widerstand, einer vom Staat überfahrenen Liebe.

Der mit seinen häretischen Thesen über die Wertlosigkeit der gesamten chinesischen Gegenwartsliteratur (des Jahrzehnts nach der „Kulturrevolution“) und mit seinen noch viel radikaleren Attacken gegen die autoritäre konfuzianische Tradition seines Landes schnell berühmt gewordene junge Literaturwissenschaftler und Kulturkritiker (Jg. 1956) hatte bald seinen Spitznamen in einschlägigen Kreisen weg: „Schwarzes Pferd“ – eine unbekannte, aus dem Nichts (vermutlich aber von Westen) herangaloppierende Kreatur und Kraft, die da auf einmal die Gemeinde unsicher macht. Schon das vermittelt einen Eindruck von der überraschenden Neugier, Diskussionsbereitschaft und Toleranz der Intelligenz zumindest in Peking. Damals ist Liu Xiaobo noch kein Verfolgter. Er ist vielmehr ein Star, und er genießt es in vollen Zügen, um nicht zu sagen: zügellos. Der Bruch kommt mit dem Massenprotest der Studenten im Mai und Juni 1989, dem sich Liu Xiaobo zusammen mit drei Freunden nach anfänglichem Zögern anschließt. Die „Vier Ehrenmänner“ sind auch in der Nacht zum 4.Juni auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Und als die Armee dann heranrückt, tun sie alles, um die Studenten zum Abzug zu bewegen. Nach dramatischem Ringen um Vernunft und lebensrettende Gewaltlosigkeit: schließlich mit Erfolg. Zu einem Massaker an den Studenten auf dem Platz selbst kommt es nicht – entgegen der sich bis heute haltenden Weltlegende von diesen Ereignissen. Das Massaker fand an den umliegenden Straßenkreuzungen statt und traf vor allem einfache Pekinger Bürger, die sich mit den Studenten solidarisiert hatten. Während des anschließenden, zunächst knapp zweijährigen Gefängnisaufenthaltes entscheidet sich Liu Xiaobo schließlich zu einem Geständnis, d.h. zu einer „Selbstkritik“ im Sinne des kommunistischen Totalitarismus, was er sich später dann nie mehr verzeihen wird. Diese Abschnitte über die Selbstentwürdigung, über den Kotau eines integren und tapferen Menschen vor der Macht und über seine schmerzliche Selbsterforschung und politische Reifung nach diesem Zusammenbruch bis hin zur Autorenschaft an der „Charta 08“ muss man lesen. Sie zeigen, dass dieses Manifest für demokratische und rechtstaatliche Institutionen in China nicht von außen kommt. Es kennt Vorbilder – etwa die „Charta 77“ in der Tschechoslowakei. Aber es kommt von innen, aus der Leidens- und Lerngeschichte der chinesischen Demokraten selbst.

Zeichen der Zeit – Kosovo 2010

Ernst Köhler

1.
Das überdimensionale Foto ist immer noch da. Es bedeckt die ganze Hauswand. „Lider“ steht in großen Buchstaben auf dem Plakat. Es ist ein riesiges Portrait von Ramush Haradinaj an dem Gebäude, in dem sich das Büro des Chefs der AKK (Allianz für die Zukunft von Kosova) befindet. Es ist ein an sich sympathisches, durchaus ziviles Bild des Politikers – ohne Krampf, Stechblick und Herrschermiene, der inzwischen erneut verhaftet worden ist und wieder in Untersuchungshaft in den Den Haag sitzt. Es ist die Übergröße und der Ort seiner Ausstellung, die das Foto grotesk und abgeschmackt machen. Auch wenn man das Gebäude betritt, trifft man auf die Erscheinungsformen eines Stils, eines Modells politischer Führung, dessen Stunde längst abgelaufen ist. Im Eingangsbereich ein sehr junger, höflicher Mann mit Fremdsprachenkenntnissen, der den Besucher nicht warten lässt und sofort einen Höherrangigen informiert. Der dann auch gleich die Treppe herunter kommt, ein paar Fragen stellt und alles effizient arrangiert. Ein paar Tage später auf dem Weg zum Interview mit dem Boss durch ein, zwei Vorzimmer, in denen ältere Männer warten und achtungsvoll grüßen. Sie könnten gut Veteranen der UCK mit ihren Anliegen sein  Alles dreht sich um den einen Mann – die Maschine wie die Klientel, der sich im Gespräch dann aber unprätenziös, nachdenklich und kommunikativ verhält. Als ob er – als Person, als denkender Mensch –  nicht so recht in den autoritären Rahmen passen wolle, den er da um sich herum aufgebaut hat. Als ob er der Gefangene dieser selbstgeschaffenen Umgebung sei. Wie bei früheren Begegnungen ist es wieder ein richtiges Gespräch. Eine politische Unterhaltung ohne strategische Tricks und Manöver. Ramush Haradinaj argumentiert diesmal im Kern liberaler, wirtschaftsliberaler als bei früheren Gesprächen. Im Zentrum seiner Aufmerksamkeit und Hoffnung steht das qualifizierte, leistungsbereite „Individuum“. Als seien wir hier nicht in einem pauperisierten und zudem einzigartig isolierten Land. Befinden wir uns nicht im Kosovo? Haradinaj muss anderswo sein. Er scheint den Boden unter den Füßen verloren zu haben. Er scheint seinem geschundenen und blockierten Land tatsächlich eine schablonenhaft amerikanische Wirtschaftsideologie verordnen oder überstülpen zu wollen. Keine Spur etwa von einer sozialdemokratischen Programmatik, die den Entwicklungsrückstand und die erdrückende Arbeitslosigkeit des Kosovo auch nur ansatzweise aufnehmen würde. Warum nicht? Der überragende Einfluß der USA im Kosovo und die unangefochtene Macht der amerikanischen Botschaft in Prishtina können diese politische Kurzsichtigkeit und mangelnde intellektuelle Unabhängigkeit kaum erklären. Ernst, glaubwürdig um sein Land besorgt wie seit jeher, wirkt dieser an sich fähige, lernbereite Politiker diesmal eigenartig fremdbestimmt, entwurzelt, orientierungslos.

2.
Im Büro von „Vetevendosje“ (Selbstbestimmung) fallen prägnante Sätze. Man wird sie so leicht nicht mehr los: Die Internationale Gemeinschaft mache hier zwei grundlegende Fehler. Einmal habe sie für das Kosovo nur eine Stabilitätspolitik, keine Entwicklungspolitik. Man sei zufrieden, wenn Ruhe im Land herrsche – „Frieden“ im militärisch-polizeilichen Sinne. Zweitens mache man aus allem eine ethnische Frage. Es gebe hier anscheinend keine Studenten, keine Arbeiter. Es gebe nur „Ethnien“. Es ist Glauk Konjufca, der das sagt, Ende 20, einer der führenden Köpfe dieser außerparlamentarischen Bewegung vor allem junger Leute. Man spürt, es ist keine radikale Rhetorik. Nicht die vertraute Sprache der Selbststilisierung. Kein Revolutionstheater, wir haben hier nicht die Neuauflage unserer „Neuen Linken“ vor uns. Man verstünde den Erfolg von Vetevendosje bei den Wahlen im Dezember auch nicht – auf Anhieb etwa 13 % der Stimmen (das amtliche Wahlergebnis liegt beim Schreiben dieses Textes noch nicht vor), wenn man diesen jungen politischen Intellektuellen und seine Analyse in diese Schublade stecken wollte. Oder sie gar einem nationalistischen Extremismus südosteuropäischen Typs zuschlüge, wie nicht wenige westliche Journalisten es jahrelang getan haben. Die These vom ökonomischen und gesellschaftspolitischen Disengagement der EU hinter der militärischen Präsenz der NATO und hinter der Rechtstaatsmission EULEX entspricht vielmehr einer im Land verbreiteten Wahrnehmung: Wo wäre der Unterschied, wo wäre die Zäsur zwischen den Jahren der UNMIK-Verwaltung und heute? Ist es nicht viel eher die Kontinuität zwischen diesen beiden Phasen, die das Alltagsleben der großen Mehrheit der Menschen kennzeichnet? Und die Unabhängigkeit von 2008?  Man muss sie nicht zurücknehmen wollen; man muss nicht von ihr abrücken wollen, um sie als eine große Enttäuschung zu empfinden – je nach Grad und Tiefe der Bitterkeit: als eine unvollendete Errungenschaft, als eine halbe Sache, als eine leere Versprechung.

Und auch die These von der ethnizistischen Manie und Verblendung der Internationalen Gemeinschaft im Kosovo findet breite Resonanz in der albanischen Gesellschaft des Kosovo. Sie spricht vielen Menschen hier aus der Seele. Sie ist keine Diffamierung des Minderheitenschutzes. Die heillose ethnische Aufspaltung Bosniens ist im Kosovo sehr gegenwärtig. Sollte sich die Ehrfurcht vor den Ethnien nicht spätestens mit der Fehlkonstruktion von Dayton politisch kompromittiert haben? Das Befremden über die einzigartige Privilegierung der kosovarischen Serben im Ahtisaari-Plan beschränkt sich keineswegs auf nationalistische Kreise. Das Überzogene, das Überkomplizierte, das Künstliche an diesem ausgetüftelten Regelwerk; die politische Verlogenheit darin, der hinter dem Humanismus versteckte Opportunismus, die anbiedernde Botschaft an die Adresse Belgrads trifft auch bei Liberalen auf Unbehagen und Ablehnung. Der internationale Fokus auf den Minderheiten im Kosovo wird generell als Fehlleistung, sogar als Absurdität gewertet. In Gesprächen, sobald sie freimütig werden, kann man hören: Immer ist nur von den Minderheiten die Rede, kaum je von uns, der Mehrheitsbevölkerung. Zählen wir nicht? Haben wir etwa keine Rechte? Im Kosovo sind nicht nur die Roma arm. Und in Mitrovica leidet nicht nur das weltberüchtigte Roma-Lager unter der Bleiverseuchung des Bodens, sondern die ganze Stadt.

3.
Dann kommt Albin Kurti dazu. Er wirkt gelöst. Er befindet sich hier ja auch nicht im gerichtlich verfügten Hausarrest, in dem wir ihn beim letzten Mal besuchen mussten – mit Presseausweis und Reisepass vorbei an mehreren Polizeibeamten auf der Treppe zu seiner Wohnung. Irgendwann zieht er ein kleines Notizbuch aus der Tasche und liest eine Reihe von polar angelegten Begriffspaaren vor, die mit unserem Gespräch auf das Vergnüglichste korrespondieren:

Moderne:              Postmoderne:
Ökonomie            Kultur
Klassen               Ethnien
Entwicklung       Stabilität…

Fast ist man versucht, der semantischen Serie Kurtis noch ein weiteres Wort-Paar anzuhängen: „Relevanz“ (60er, 70er Jahre) – „Kompetenz“ (immer seitdem).

Es ist Sommer. Die Entscheidung für die Teilnahme von Vetevendosje an den nächsten nationalen Wahlen ist noch frisch. Aber sie ist definitiv gefallen – nach wochenlangen, sehr kontroversen Diskussionen, wie Kurti unterstreicht. Niemand kann wissen, dass so wenig Zeit bleibt und die Wahlen schon Ende des Jahres kommen – vorverlegt, weil die Regierungskoalition zwischen PDK (Demokratische Partei, die Partei von Hashim Thaci) und LDK (Demokratische Liga, die alte Partei Ibrahim Rugova’s) auseinandergebrochen ist. Es gibt in Prishtina ausgezeichnete Kenner der gesamten politischen Szene, die diesen Sprung aus dem Protest in die Politik für verfehlt und selbstzerstörerisch halten. „Als Politiker wird er scheitern“, so ein Mitarbeiter der International Crisis Group. Er kennt Albin Kurti seit dem gemeinsamen Studium an der Universität in Prishtina und hat seinen politischen Weg seit langem verfolgt – bisher immer mit großem Einfühlungsvermögen und kritischem Verständnis. Der merkwürdig apodiktisch anmutenden Prognose ist eine Sorge anzumerken, auf die man in diesen Wochen immer wieder trifft: Der unbeugsame Rebell – gestern gegen das Milosevic-Regime, heute gegen die Machenschaften der eigenen Elite; der furchtlose Kritiker amerikanischer und europäischer Großmacht-Anmaßung; der Denker eines aufgeklärten nationalen Eigeninteresses – dieser integre Mann und beeindruckende Rhetor kann nur verlieren, wenn er „ins System geht“. „Wir gehen nicht ins System; wir nehmen nur an Wahlen teil“, entgegnet Albin Kurti darauf. „Wir bleiben, wer wir sind.“ Er scheint fest überzeugt, dass der politische Betrieb der Bürgerbewegung nichts anhaben kann. Dass Vetevendosje in dem neuen Kontext nichts verliert – nichts von seiner Unabhängigkeit, nichts von seiner Außenansicht, nichts von seinen Handlungsmöglichkeiten, sondern im Gegenteil einige neue Ebenen oder Foren der öffentlichen Intervention hinzugewinnt.

Auch in Tirana stößt diese Selbstsicherheit, dieses stolze Gefühl der politischen Unantastbarkeit übrigens auf tiefe Skepsis. Sie kann hier sogar noch böser, ätzender ausfallen und fast schon die Farbe des Hohns und der Verachtung annehmen. Begreiflich vielleicht vor dem Hintergrund des albanischen postkommunistischen Machtsystems, das der in Albanien und auch im Kosovo hochgeachtete politische Schriftsteller Fatos Lubonja  im Gespräch „irgendwo zwischen Putin und Berlusconi“ ansiedeln möchte. Zenel Hoxha, heute Präsident und CEO der British Chamber of Commerce and Industry in Albania, früher ein politischer Publizist von Rang, verweist uns auf den Fall der NGO „Mjaft!“ (Genug!) und ihres Sprechers Erion Veliaj, der einmal ein Geistesverwandter von Albin Kurti zu sein schien, inzwischen aber bei den Sozialisten Edi Ramas gelandet sei und „seine Identität gänzlich eingebüßt“ habe.

4.
Der Wahlerfolg des parlamentarischen Newcomers im Dezember ist ein Ereignis, ein unübersehbares Zeichen von unten, aus den schweigenden Massen des Kosovo heraus, das erst einmal interpretiert werden will. Es ist ein deutliches Votum, aber kaum ein emphatisches oder gar rückhaltloses. Für politischen Enthusiasmus sind die allermeisten Menschen im Kosovo inzwischen viel zu zermürbt, zu verbraucht, zu müde. Dafür fühlen sie sich viel zu schwach, zu abhängig, zu ohnmächtig. Ihre Alltagserfahrung, ihr Alltagswissen spricht für Albin Kurti, aber ebenso auch gegen ihn. Für ihn spricht, dass er ein einfaches Leben führt; dass er nicht zu den neuen Herren zählt – er mag die Leute nach Stil und Geist eher an die hier seit jeher geachteten sozialen Figuren des selbstvergessen bemühten Lehrers oder des Gelehrten erinnern. Für ihn spricht, dass er nicht mit zwei oder drei Zungen spricht, sondern nur mit einer, mit seiner – gleichgültig, wo und zu wem; dass er eine zivile, unmartialische Form der Tapferkeit verkörpert und zu leiden versteht, wenn es sein muss. Gegen ihn spricht aber – und zwar massiv, dass er sich in eine absurd unrealistische Konfrontation mit den übermächtigen Gewalten verstrickt, verbissen hat, die über das kleine Land verfügen. Der junge Angestellte an der Rezeption des Hotels, der Albin Kurti gerade noch einen gewissen Respekt gezollt hat, explodiert auf einmal fast vor Ungeduld, vor Zorn, als er auf das dauernde, allseitige Kämpfen kommt: „Wir können doch unmöglich gegen alle kämpfen. Das geht total über unsere Kraft. Wir haben gar keine Kraft mehr! Wir sind froh, wenn wir irgendwie durchkommen!“

Welchen Sinn hätte auch die Kernforderung Albin Kurtis nach „Selbstbestimmung“, die seiner Bewegung den Namen gegeben hat, in einem Land, das sich von der EU unabsehbar auf Distanz gehalten, ausgegrenzt sieht und bislang – anders als die anderen Staates des Westbalkan, anders als die Ukraine, anders auch als das von keinem einzigen EU-Mitglied anerkannte Taiwan – vergeblich sogar auf eine Liberalisierung des Visa-Regimes wartet. (Vgl. jetzt European Stability Initiative: Isolation Confirmed, Berlin, Brussels, Pristina 22.November 2010). Ganz zu schweigen von der Einleitung von Integrationsverhandlungen des Kosovo mit der EU. Welchen Sinn hätte der hohe, noble, emanzipatorische Anspruch, sein politisches Schicksal endlich in die eigenen Hände nehmen zu dürfen, angesichts der chancenlos jedes Jahr neu auf den Arbeitsmarkt drängenden jungen Menschen, die dringend, existenziell auf eine Öffnung der europäischen Arbeitsmärkte angewiesen wären – statt auf Massenabschiebungen wie aus Deutschland?

Im Frühjahr und Sommer war eines der großen, aktuellen Themen im Kosovo das Vorgehen von EULEX gegen Fatmir Limaj, den mächtigen, schwer korruptionsverdächtigen Transport- und Posttelekommunikationsminster der Regierung Thaci. Worauf das ganze Land damals hoffte und doch – aus profundem Misstrauen, aus alter Erfahrung mit den hier seit dem Krieg operierenden internationalen Organisationen – nicht wirklich zu hoffen wagte, war ein Durchgreifen der Rechtsstaatsmission. Ein konsequentes rechtliches Durchgreifen – unabgelenkt, ungebremst von politischen Opportunitätsgründen, wie sie von den Vertretungen der maßgeblichen Staaten in Prishtina zu kommen pflegen. Wen könnte in dieser Situation die Forderung nach „Souveränität“ überzeugen, wie Albin Kurti sie bis heute immer wieder vorträgt?  Der Unabhängigkeit seit 2008, die sonst unerfüllt und formal bleibe, müsse die echte politische Souveränität folgen. In unserem Fall hieße das: Entmachtung von EULEX, Reduzierung der Mission auf bloße Beratungsfunktionen. Die breite Öffentlichkeit im Kosovo verlangt ganz im Gegenteil, dass EULEX seine exekutive Gewalt endlich anwendet. Zunächst muss sie faktisch umgesetzt werden – im gebieterischen Interesse des Landes. Bevor man sie wieder abschafft.

5.
Näher am Puls des Kosovo ist Albin Kurti mit seiner Perspektive eines Zusammenschlusses von Kosovo und Albanien. Wenn man das sogleich und fast reflexhaft mit „Großalbanien“ assoziiert, hat man sich ein unbefangenes Verständnis bereits verstellt. Man denkt dann unwillkürlich an „Großdeutschland“, „Großungarn“, „Großserbien“ oder „Großkroatien“, und die auf mehrere Staaten verteilte albanische Nation von heute steht flugs unter dem Verdacht, einen ähnlich blutigen Chauvinismus auszubrüten. Eines Interviews für eine unserer großen Zeitungen wird Albin Kurti erst seit kurzem für würdig befunden –  so sagte er neulich der NZZ (9.Dezember 2010): „Erstens benutzen wir nicht den Begriff Großalbanien; wir sprechen von einer Vereinigung von Kosovo und Albanien. Und zweitens fordern wir dies nur als ein Recht, wie es jedem souveränen Staat zusteht. Wenn Frankreich und Deutschland sich vereinigen wollen, kann sie niemand daran hindern – zwei Referenden, und die Sache ist erledigt. Warum soll Kosovo nicht dasselbe Recht haben? Wir sind gegen den Verfassungsartikel 1.3, der festhält, dass Kosovo sich nicht mit einem anderen Staat vereinigen soll. Das erinnert mich an Breschnews Konzept der beschränkten Souveränität sozialistischer Staaten.“

Hätte sich die Option Kosovo – Kosovo als ein neuer Nationalstaat auf dem Balkan – etwa bereits überlebt? Gerade erst feierlich aus der Taufe gehoben und schon wieder abgestorben? Unter entsetzlichen Opfern erkämpft und doch schon wieder delegitimiert und aufgegeben?  Man macht ein Land nicht ungestraft zu einem Dauerlabor für politische Experimente – auch ein so kleines und hilfloses Land nicht. Europa lässt ein Land in Europa nicht ungestraft darben und verkommen – auch das Kosovo nicht. Dann gäbe es eine – noch stille, noch untergründige –  Abwendung der Kosovo-Albaner von ihrem jungen Staat?  Und sie wäre die Rechnung des Volkes für die Politik der internationalen Gemeinschaft und vor allem Europas?  Und auch die Rechnung an die Adresse der  „politische Klasse“ des Landes, die im Schatten und Schutz der Internationalen vor Ort über den unfertigen Staat verfügt, als sei er ihre Domäne, ihr Eigentum? Man fragt sich bei uns gern, warum uns diese besessenen Kosovo-Albaner denn unbedingt einen unmöglichen, lebensunfähigen Kleinstaat zumuten und aufhalsen müssen. Vielleicht sollten wir uns besser fragen, was die EU tun kann, um diesen Staat in den Augen seiner eigenen Bürger einigermaßen zu rehabilitieren.

Aber das erfasst die eigenartige politische „Obdachlosigkeit“ (Siegfried Kracauer) nicht genau, die der Besucher im Kosovo heute ahnt. Wir sollten vermeiden, der Entwicklung vorauszueilen. Die besondere Verbundenheit mit den Albanern in Albanien ist im Kosovo natürlich nichts Neues. Ein Freund, Ende 40, der in der Gegend von Prizren aufgewachsen ist, erzählt von seinem schmerzlichen Befremden, von seiner Fassungslosigkeit, als ihm als Junge schlagartig die Grenze, die geschlossene Grenze zwischen Jugoslawien und dem Albanien Enver Hoxhas bewusst geworden sei. Die gewaltsame, hermetische Trennung von den keineswegs fremden, vielfältig nahestehenden, verwandten Leuten jenseits der Grenze habe er als Kind als etwas Widernatürliches, Menschenwidriges empfunden. Auch die dem Kosovo als dem letzten Nachfolgestaat des in Kriegen untergegangenen Jugoslawiens international oktroyierten Auflage, sich nicht mit Albanien zu vereinigen, ist hier immer nur hingenommen, niemals akzeptiert worden. Die Auflage ist hier immer nur als ein Tabu empfunden worden. Und das Tabu ist immer nur aus Ohnmacht, aber durchaus auch aus Verständnis für ein in Jugoslawien jämmerlich gescheitertes, zerstrittenes, überfordertes, gedanklich-strategisch auf ein zwanghaftes Krisenmanagement reduziertes Europa stillschweigend geschluckt worden. Heute, soviel lässt sich sagen, wird es nicht mehr geschluckt. Die Ohnmacht hat sich keineswegs entschärft, aber das Verständnis für Europa ist merklich erkaltet.

Die Geduld mit der westeuropäischen Öffentlichkeit scheint glücklicherweise dennoch nicht ganz aufgezehrt. In Gjakova, unweit der albanischen Grenze und traditionell eng – ein Freund nennt es „ethnopsychologisch“ – mit Nordalbanien verknüpft, sprechen wir lange mit Mentor Kaci, einem leitenden Angestellten einer Fachhochschule in Peja, über die albanische nationale Frage. Mentor Kaci legt den Akzent auf ihre Entdämonisierung. Es ist in seinen Augen die erste Aufgabe – eine schwierige, langwierige Aufgabe. „Wir müssen unser Anliegen, unseren friedlichen Wunsch nach nationaler Einheit der Welt zuerst einmal darstellen, verdeutlichen, vermitteln. Das ist es, woran wir arbeiten müssen.“ Man kann ruhig mal ein bisschen staunen: In dieser Sicht sind die Aufklärer zur Abwechslung einmal die Albaner – und die Adressaten sind zur Abwechslung einmal wir.

Es geht im Kosovo nicht – noch nicht –  um Grenzveränderung und Staatenbildung. Dafür gäbe es auch in Tirana gegenwärtig gar keinen ernsthaften Ansprechpartner. Aber  es geht auch nicht nur um Gefühle: um die alte, historische, wenn auch keineswegs störungs- und spannungsfreie Erfahrung der sprachlichen, kulturellen, verwandtschaftlichen Nähe. Genauer gesagt: um die Anerkennung dieser Gefühle durch ein gerade in seiner außenpolitischen Schwäche und Unschlüssigkeit verhärtetes,  voreingenommenes Europa. Es geht aktuell vor allen Dingen einmal um die konkrete infrastrukturelle und ökonomische Vernetzung des Kosovo mit Albanien und überhaupt mit den albanischen Siedlungsgebieten in der Region – gedacht, gewollt, geplant als der grundlegende Schritt aus der gezielten epochalen Unterentwicklung der serbischen Provinz, aus dem gezielten Ruin des Krieges, aus der international zu verantwortenden Isolierung und Stagnation der Nachkriegszeit heraus. Es ist die eigentliche, die sich zwingend aufdrängende Selbsthilfe – auf dem Weg nach Europa, richtiger: im Vorgriff auf ein abwartendes, sich in der Krise gar verschließendes Europa. Man muss nur einmal in kosovo-albanischer Begleitung die neue Autobahn von Prizren nach Durres fahren, der Hafenstadt an der Adria. Dann ist diese Perspektive des Aufbruchs und der Hoffnung mit Händen zu greifen. Ihr Begleiter wird Ihnen seine Freude, nein: sein Glücksgefühl über die neue Straße signalisieren – egal wie wenig befahren sie noch ist; egal wie monströs die gigantischen Bauten der Autobahn die natürliche Landschaft vergewaltigen; egal wie furchtbar arm die Dörfer am Rand sind. Er wird Sie selbst auf diese Dörfer aufmerksam machen. Er kennt ihr Elend. Er weiß aus der persönlichen Anschauung vieler Jahre, wie arm Albanien ist – skandalös arm, wenn man an seine Oligarchen, Kriminellen und Neureichen denkt. Ihr Begleiter wird diese Autobahn dennoch als eine kapitale Investition in die Zukunft werten. In die Zukunft auch und gerade des Kosovo, wenn das Kosovo bisher auch noch nichts produziert, das im Hafen von Durres verladen werden könnte.