Epochenwechsel auf dem Balkan

Ernst Köhler

Mit dem allzu Bekannten sollte man sich vorsehen. Wie mit dem „Balkan“, seiner ewig gestrigen Kleinstaaterei und seinen giftigen Nationalismen, die vielen sattsam, geradezu sprichwörtlich bekannt vorkommen. Aber es gibt einen neuen Balkan, und es wird Zeit, ihn zur Kenntnis zu nehmen. Die Epoche des Zerfalls, der blutigen Zerschlagung Jugoslawiens ist vollendet. Man kann es sich an Serbien verdeutlichen. Die Rückwärtsgewandtheit und Aussichtslosigkeit seiner Kosovo-Politik sind offensichtlich. Sie wirken inzwischen bizarr bis zur Lächerlichkeit – nicht erst seit dem Votum des Internationalen Gerichtshofes zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo Anfang 2008.

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Es ist wie beim Hunger

Ernst Köhler

Buchbesprechung zu Martin Walde: Wie man seine Sprache hassen lernt. Sozialpsychologische Überlegungen zum deutsch-sorbischen Konfliktverhältnis.

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Martin Walde: Wie man seine Sprache hassen lernt. Sozialpsychologische Überlegungen zum deutsch-sorbischen Konfliktverhältnis, Bautzen 2010 (Domowina-Verlag) 184 S., Abbildungen, Broschur, ISBN 978-3-7420-2178-6 19.90 €

Es ist wie beim Hunger. Wenn er erst einmal hungert, wehrt der Mensch sich nicht mehr. Zur Hungerrevolte kommt es nur, wenn es schon wieder ein bisschen bergauf geht. Jeder Protest braucht die Aussicht auf Erfolg, auf eine Machtverschiebung. Sonst bleibt er aus. Die Unterdrückung muss nur umfassend und nachhaltig genug sein, dann wird Widerstand zur absoluten Ausnahmeerscheinung. Für dieses tragische Paradox gibt es in der deutschen Geschichte reichlich Belege. Einen exemplarischen, aber bisher so gut wie unbekannten hat uns jetzt Martin Walde mit seiner Studie über die Geschichte der Sorben in Deutschland geliefert. „Wie man seine Sprache hassen lernt“ – der Titel nimmt bereits die Kernaussage des Buches vorweg. Die staatliche Entrechtung und gesellschaftliche Ausgrenzung dieser slawischen Minderheit in der Lausitz war über die verschiedenen Phasen der modernen deutschen Geschichte hinweg so allgegenwärtig, tiefgreifend und bruchlos permanent, dass die Betroffenen sich nicht mehr zu wehren und zu behaupten wussten. Stattdessen haben sie sich unterworfen, wie das Gesetz des Menschen es will. Sie haben sich in diversen Formen mit ihrer übermächtigen und feindlichen Umwelt identifiziert. Sie haben sich selbst nicht mehr ertragen. Sie haben ihre Muttersprache als einen Makel, als ein Stigma erlebt.

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Marx beim Scheitern zusehen

Ernst Köhler

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Karl Marx, Hrsg. von Michael Berger, Freiburg i.Br. 2005 (Reihe: absolute, orange press), 18 €

Ein überragender Denker, in seinen Prognosen widerlegt, seines politisches Einflusses gänzlich beraubt – aber abtun, vergessen läßt er sich auch nicht. Das will man sich denn doch nicht antun. Man spürt, daß man sich damit selber schaden, selber ärmer oder dümmer machen würde. Das ist der gegenwärtige Schwebezustand unserer Marx-Rezeption. Und aus ihr kommt die keineswegs rhetorisch gemeinte Frage: Was hat Karl Marx uns heute noch zu sagen? Vielleicht ist sie aber zu steil, zu direkt gestellt. Vielleicht beginnt man besser mit der Frage: Bis wohin können wir Marx heute noch folgen? Und wo müssen wir ihn endgültig einer abgetakelten Geschichtsphilosophie zuordnen – einer dieser „großen Erzählungen“ also, die inzwischen – in unseren Breiten wohlgemerkt, keinewegs global – allesamt abgebaut sind?

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Pathos gespickt mit Ironie

Ernst Köhler

Über den Roman „Im geschlossenen Raum“ von István Eörsi.

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István Eörsi

Wie es die Gedanken-Lyrik gibt und das Theater des Disputs, des Thesenstreits, so auch den Roman, der eigentlich ein Essay ist. Im geschlossenen Raum, das letzte, auf deutsch jetzt postum erschienene Buch des 2005 verstorbenen ungarischen Schriftstellers István Eörsi, ist ein solcher Roman. „Episoden einer Abhandlung“ nennt er es selbst einmal. Die Wirklichkeit, die er gedanklich zu durchdringen und von allen Seiten zu beleuchten versucht, ist der Poststalinismus in Ungarn – also die Jahrzehnte, die auf den von den Sowjets brutal niedergeschlagenen Aufstand von 1956 folgten und mit dem Namen Kádárs verbunden sind.

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Rede bei der Gedenkveranstaltung der Stadt Konstanz für Zoran Djindjic am 23. März 2004

Ernst Köhler

Zum Text erläutert Ernst Köhler: „Die Rede ist ins Serbische übersetzt worden und in der Belgrader Wochenzeitschrift ‚ekonomist‘ erschienen. Der hier erwähnte liberale serbische Oppositionspolitiker Cedomir Jovanovic, nicht nur für mich der eigentliche politische Erbe Djindjics, hat den Text zudem in seine Homepage aufgenommen. Bei uns ist die Rede hingegen unveröffentlicht geblieben.“

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Zoran Djindjic wurde am 12. März 2003 in Belgrad ermordet.

Ich fürchte, es ist keine Rede, was ich Ihnen hier vortragen möchte, sondern eher eine Reportage, ein Bericht über die Stipvisite, die wir Ende Februar in Belgrad gemacht haben. Für mich war es die erste Kontaktaufnahme nach zwei Jahren. Aber es war nicht nur traurig, sondern auch befreiend – befreiend, weil die Leute, die Zoran Djindjic in Belgrad verteidigen, ihn auch verteidigen und sich nicht nach allen Seiten abzusichern suchen. In einem zweiten Anlauf gehe ich dann noch einmal etwas allgemeiner auf die jüngste politische Entwicklung in Serbien ein, so wie sie sich dem Besucher eben darstellt. Wovon soll man in diesem Fall sprechen – von einem Umschwung? Von einem Rückschlag? Von einer Wende?

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Romeo und Julia in Ex-Jugoslawien

Ernst Köhler

Über den Roman „Meeresstille“ von Nicol Ljubic

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Nicol Ljubic: Meeresstille. Roman. Hamburg 2010. Hoffmann & Campe. 191 Seiten, 17 €.

Schon der „Prolog“ des neuen Romans des Berliner Journalisten und Autors Nicol Ljubic (geb. 1971 in Zagreb) stößt den Leser auf die reale Geschichte des verbrecherischen Krieges in Bosnien 1992 bis 1995. Und das ist etwas grundsätzlich Anderes als die heute eingefahrene Erinnerungspolitik, die sich nahezu ausschließlich auf „Srebrenica“, auf das dort im Sommer 1995 verübte Massaker an 8000 muslimischen Männern und Jungen beschränkt. In diesem Text geht es vielmehr um den bislang so gut wie ignorierten und auch offiziell-juristisch nicht anerkannten Völkermord an den bosnischen Muslimen in den Städten und Ortschaften entlang der Drina – zum Beispiel in Visegrad, dem gebildeten Publikum bekannt aus Ivo Andrics berühmtem Roman „Die Brücke über die Drina“. Ostbosnien war bereits lange vor dem allgemein bekannten, „historischen“ Verbrechen bei Srebrenica der Ort einer systematischen Ausrottung von Menschen. Diese Verbrechen serbischer Soldaten, Milizen, Banden gegen die Menschlichkeit setzen sofort mit Beginn des Krieges ein und haben tausenden Menschen, Zivilisten das Leben gekostet. Ahnungslosen, vom multiethnischen Mythos ihres Landes eingelullten Menschen, die mit dieser vernichtenden Gewalt niemals im Leben gerechnet hätten; Opfern, die bis heute – anders als die von Srebrenica – in unserem Geschichtsbild gar nicht vorkommen.

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Totale Macht über den Menschen

Ernst Köhler

Über den Gefängnisbericht des chinesischen Schriftstellers Liao Yiwu.

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Liao Yiwu: Für ein Lied und hundert Lieder. Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann, Frankfurt am Main 2011 (S. Fischer Verlag), gebunden, 592 Seiten, 24,95 €

„Ehrlich gesagt, bevor ich im Knast gewesen bin, hatte ich im Grunde keine Ahnung von Politik, bis heute habe ich keine nennenswerten reiferen politischen Ansichten. Ich bin Individualist, das Vagabundentum steckt mir noch im Blut, und nur als es zu einer dramatischen Kollision zwischen der Staatsideologie und meiner Eigenart als Dichter gekommen ist, blieb mir nichts anderes übrig, als mich zu wehren und sogar bis zur Selbstzerstörung Widerstand zu leisten. Ich kann keine Regierung akzeptieren, die aus Henkern besteht … Ich bin jemand, der sich an seine Todfeinde erinnert …“. Das sagt Liao Yiwu im Gefängnis einmal zu einem anderen politischen Gefangenen.

Der Leser dieses Erfahrungsberichts aus chinesischen Gefängnisses in den 90er Jahren – in der Phase unmittelbar nach dem Massaker vom 4.Juni 1989 in Peking – kann es nur als Glücksfall empfinden, dass der Autor so bei sich selbst bleibt. Die hier vorgelegten Erinnerungen werden so zu einem persönlichen, intimen Zeugnis jenseits bloßer politischer Analyse und Aufklärungsabsicht. Es ist die reine Defensive gegen das Vergessen. Man kann dieses Werk nicht in einem Zug lesen. Was dieses Regime mit seinen Gefangenen macht, und was die Gefangenen mit sich selber machen, tritt hier in einer imaginativen Sprache vor uns. Sie arbeitet immer wieder mit einer expressiven oder visionären Bildhaftigkeit. Es ist die Verfremdung und Destruktion der gewohnten sachlichen Darstellung im Interesse der Annäherung an eine kaum vorstellbare Wirklichkeit.

Liao Yiwu hat nicht aufgehört ein Dichter zu sein, als er nach der militärischen Repression der Studentenbewegung glaubt, künftig keine Gedichte mehr schreiben können. Wenn die Willkür der Staatsmacht, die Ungerechtigkeit der politischen Ordnung so heillos ist wie im China dieser Jahre, dann gerät für diese Sprachkunst auch der Kosmos aus den Fugen. Alles ist dann verkehrt, alles pervers. Der Himmel selbst driftet in ein unkontrollierbares Chaos ab. Für einen chinesischen Leser dürfte die übergreifende Verknüpfung der Unordnung auf der Erde und im Weltall vertrauter sein als für uns.

Dabei ist es das China Deng Xiaopings und seiner im Westen bis heute hochgeschätzten Wirtschaftsreformen. Das jetzt in der literarisch kongenialen Übersetzung von Hans Peter Hoffmann vorliegende Buch von Liao Yiwu stößt uns auf die Gleichzeitigkeit von kapitalistischer Reform und totalitärer Machtsicherung der kommunistischen Partei. Dass der Text überhaupt zu uns gelangt ist – von seinem Autor immer wieder versteckt, dreimal neu geschrieben, schließlich zuletzt nach Deutschland hinausgeschmuggelt, ist fast ein Wunder. Das Nebeneinander, die funktionale Verklammerung der beiden kommunistischen Strategien – Entfesselung der Wirtschaftskräfte, Abwürgen jeder Demokratisierung – war im Prinzip bekannt. Aber nur in der abstrakten, klischeehaften Form, wie sie uns schon unsere Interessenlage nahe legte. So ist etwa die bei Liao Yiwu dokumentierte tiefe Resonanz der protestierenden Studenten in der breiteren Bevölkerung bei uns kaum zur Kenntnis genommen worden. Es gab und gibt auch eine chinesische Spielart dieser Halbverdrängung und Gleichgültigkeit. Bei Liao Yiwu nimmt sie sich so aus: „Elf Jahre, eine Demokratiebewegung von gewaltigen Dimensionen hat sich in nichts aufgelöst, eine Seifenblase, die politischen Gefangenen … bilden ein nicht gerade glorreiches Erbe der Gesellschaft und werden von der überwiegenden Mehrheit der Menschen, die dafür gelobt werden, ‚nicht zu viel nach Politik zu fragen’, abgelehnt – von denselben, die sich einmal in Massen und begeistert in die Politik der Straße gestürzt haben!“

Das erste Kapitel des Buches („Es geschah am Ostfenster“) ist noch in einem anderen Ton gehalten. Das Volk in seiner Vielstimmigkeit ist hier noch präsent. Es ist noch nicht eine zynische, entpolitisierte Masse. Der Autor ist (formell) damals noch in Freiheit, wenn er sich wegen seiner im Land bald berühmten großen Gedichte „Massaker“ und „Requiem“ – beide im Text dokumentiert – auch schon intensiv verfolgt sieht. Man bedauert etwas, dass die Einschübe über das jahrelange, schubhafte Schreiben an diesem Zeitdokument eher selten bleiben und in der Regel knapp ausfallen. Die mit dem zweiten Kapitel einsetzende dichte, sinnlich detaillierte Beschreibung der Qual der auf engstem Raum zusammengedrängten und oft zur Strafe auch noch an ihren Gliedmaßen gefesselten Gefangenen erdrückt diese Reflexion dann fast ganz. Erst im letzten Kapitel („Zur Umerziehung durch Arbeit“) öffnet sich der Text wieder dafür.

Die Methodik der Entmenschung von Menschen, deren sich die chinesischen Kommunisten bedienen, ist aber auch unfassbar. Sie lassen die Gefangenen auf weite Strecken hin von Gefangenen verwalten, beherrschen, unterdrücken, foltern, fertig machen. Die eigentliche Macht über dieser „Selbstverwaltung“, über den Marionetten-Despotien in jeder einzelnen Zelle, bleibt in der Hinterhand. Abgesehen von den unvermeidlichen Großinszenierungen des totalen Machtanspruchs über den Menschen, greift „die Regierung“, wie die Gefangenen das Gefängnisestablishment nennen, mit ihren Elektroknüppeln oder ihren unsäglichen anderen Disziplinierungsverfahren meist nur im Fall des Konflikts oder Aufruhrs ein.

Indirekte Verfahren der Herrschaftsausübung waren bekanntlich auch bei den Nazis in Gebrauch. Die chinesischen Machthaber können den Nazis durchaus das Wasser reichen. Sie sorgen dafür, dass in ihren Gefängnissen alles Böse, alle Verkommenheit, alle Infamie, das abgründige Rachebedürfnis einer uralten und niemals freien Gesellschaft zum Einsatz kommt. Es gibt trotz allem eine Grenze für diese von oben gesteuerte Selbstzerstörung. Das sind die „Toten“, wie im Jargon des Gefängnisses die zum Tode verurteilten Gefangenen bezeichnet werden. Wenn sie sich auf ihre Hinrichtung vorbereiten, können die Mechanismen des Kapo-Systems in der Zelle aussetzen und schweigen. Egal, wer dieser Todeskandidat ist und was er in seinem Leben getan hat – und sei er auch ein brutaler Frauenmörder gewesen: jetzt hört man ihm zu, jetzt übernimmt man seine Arbeitsleistung, jetzt hilft man ihm beim Essen, wenn es sein muss.

Über Abraham Sutzkever (1913 – 2010)

Ernst Köhler

„Wie hilflos bewegt sich ein Fremder in der unversehrten Stadt, die dennoch ausgelöscht wurde! Kaum einer vermag ihm Auskunft zu geben, wo er eine Spur finden könnte. Wilnas Bevölkerung scheint ausgewechselt nach dem Krieg … Den einzigen Hinweis, wo die alte Hauptsynagoge gestanden hat, erhält er von einem alten Juden, der Deutsch spricht und das Lager von Schiaulen überlebt hat.“ Das hatte Karl Schlögel 1986 über einen Besuch in Vilnius geschrieben.

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Abraham Sutzkever: Wilner Getto 1941 – 1944. Aus dem Jiddischen übertragen von Hubert Witt, Ammann Verlag, Zürich 2009, 22,95 €

Mit der Veröffentlichung zweier Bände mit Werken des jiddischen Dichters Abraham Sutzkever aus Wilna gibt uns der Züricher Ammann Verlag eine unvergleichliche Chance der Erinnerung. Es handelt sich um den Bericht „Wilner Getto 1941-1944“ und um eine Auswahl von Gedichten („Gesänge vom Meer des Todes“). Bericht und Gedichte sind von Hubert Witt, einem ausgewiesenen Kenner und Übersetzer jiddischer Literatur, erstmals ins Deutsche übertragen worden. Die vom Verlag vorgegebene und dann gemeinsam mit dem Übersetzer erweiterte Idee, dem Erfahrungsbericht Lyrik an die Seite zu stellen – lyrische Texte aus der Zeit der Katastrophe selbst, aber auch aus späteren Phasen dieses Schriftstellerlebens – kann man nur als glücklich bezeichnen. Die Gedichte hindern den Leser daran, den Bericht über die Verfolgung und Ermordung der Wilnaer Juden durch die Nazis und ihre litauischen Helfer einfach nur seinem gesammelten Wissen über den Holocaust zuzuschlagen. Sie verweisen, sie stoßen ihn auf etwas, was ihm beim Abheften als Erstes verloren ginge: auf die „Fassungslosigkeit“ der Erzählung, um mit Saul Friedländer zu sprechen. Der Erfahrungsbericht ist kein Tagebuch. Er ist im Nachhinein niedergeschrieben worden – am Ende des Krieges in Moskau, wohin man den bereits anerkannten Dichter aus den Wäldern um Wilna mit einem kleinen Flugzeug ausgeflogen und gerettet hatte. Aber der Text wählt die Form des Tagebuchs. Und umgekehrt eröffnet das Zeugnis auch dem durchschnittlichen Leser einen Zugang zu den Gedichten, die zur experimentellen, avantgardistischen Dichtung dieser Zeit und dieses Raumes gehören und sonst hermetisch bleiben könnten.

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Abraham Sutzkever: Gesänge vom Meer des Todes. Ausgewählt und aus dem Jiddischen übertragen von Hubert Witt, Ammann Verlag, Zürich 2009, 22,95 €

Vor allem in ihrem ersten Teil – „In den Klauen der Deutschen“ – sind diese Aufzeichnungen über die Auslöschung der Juden von Wilna große dokumentarische Literatur. Sie stellen die bereits vernichtenden Maßnahmen der Deutschen unmittelbar nach der Okkupation im Juni 1941 dar. Wiedergeben lassen sie sich nicht. Sie zeigen den verfolgten Menschen in seiner ganzen Ausgesetztheit. Und sie zeigen den Verfolger in seiner bestialischen Menschlichkeit. Es ist ein Massenmörder von Geist, mit einer raffinierten Seele; die historische Forschung wird dann Jahrzehnte brauchen, bevor sie zu ihm aufschließt. Der nationalsozialistische Massenmörder ist ein Initiant, ein Neuerer. Er bedarf keiner Anweisungen von oben. Auch zum Völkermord braucht er keinen Befehl, wie er nach dem Krieg behaupten wird. Der zweite Teil ist dem Ghetto gewidmet. Er ist in einem verhalteneren Stil geschrieben und zeichnet sehr genau die auf Desinformation und Verwirrung der Insassen abzielenden Herrschaftstechnik der Besatzer nach: mit dem gewollten Chaos von dauernd wieder veränderten Spezialausweisen und Berechtigungszetteln, die den Menschen immer wieder die Hoffnung auf eine Überlebensmöglichkeit machen und sie ihnen gleich wieder nehmen. Vor den schubweisen Deportationen aus dem Ghetto in den Tod versuchen sich die Menschen in die ausgeklügeltsten Verstecke zu retten, die sie mit der Zeit zu einer „unterirdischen Stadt“ ausbauen. Aber sie bauen sich auch über der Erde eine heimliche „Stadt“, eine vor der Macht verborgene Parallelwelt auf: mit einer Lebensmittelwirtschaft, mit einem Gesundheitswesen, mit sozialen Transferleistungen, Schulen und einem intensiven kulturellen Leben. Und da Abraham Sutzkever hier keineswegs nur Beobachter bleibt, sondern sich als Künstler, Mentor, Aktivist praktisch und höchst riskant engagiert, gehören die Passagen über zivile Selbstbehauptung unter den Bedingungen der Barbarei zu den schönsten des ganzen Buches. Ein dritter Teil ist schließlich dem bewaffneten Widerstand vorbehalten, dem sich auch Sutzkever anschließt. „Lasst uns nicht wie Schafe zur Schlachtbank gehen!“ Der berühmte, aber oft isoliert zitierte und fälschlich heroisierte erste Satz aus dem von Aba Kowner formulierten ersten Aufruf der Wilnaer Untergrundkämpfer (vom 1.Januar 1942) sieht sich hier in den Kontext gestellt, in den er gehört. Es ist der Bruch mit dem Illusionismus der Verzweifelten. Es ist die Erkenntnis, dass die Nazis die physische Vernichtung ausnahmslos aller Juden planen. Die unfassbare Wahrheit ist im jüdischen Wilna früher erfasst worden als anderswo in Osteuropa, früher als in Warschau etwa.

In einem Gedicht, das Abraham Sutzkever nach seiner Zeugenaussage vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg im Februar 1946 schreibt, wird es dann heißen: „Mein Volk, du musst dich für dein Schwert entscheiden, wenn Gott zu schwach ist für Gerechtigkeit.“ Aber die Verbindung dieses Dichters mit seinem Volk geht sehr viel weiter als bis zur Auseinandersetzung mit einem Gott, der ausfällt, wenn man ihn braucht. „Ich bin das Kind, das einen Grashalm trägt, während man es zur Erschießung führt“ („Abschied“, Wilner Getto – Narotscher Wälder, 1943-1944). Er trauert in diesen Texten nicht nur um Menschen, die er kennt, die ihm nahe stehen – wie seine Mutter, deren Festtagsschuhe er zufällig auf einem für den Transport nach Deutschland bestimmten Wagen voller Schuhe entdecken muss. Die fast mystisch anmutende Radikalität dieser Vereinigung mit dem unbekannten Anderen erschließt sich vielleicht am klarsten in dem kleinen Gedicht „Abend“ (Wilner Getto, 10. Januar 1943). Die Schlusszeile lautet: „ Es offenbart sich im Licht meiner Blindheit: Aus wie vielen Seelen besteht mein Ich…“.

Unvergessen. Über den Reformer Zoran Djindjic

Ernst Köhler

(zum Gedenktag in Konstanz am 20. März 2013)

Die jungen Leute, die dieses Gedenken hier initiiert und gestaltet haben – alle aus Serbien, haben ein Stichwort ausgegeben: keine „Idolatrie“, kein Kult. Erinnerung an den Mann, aber mit Blick auf das Land. Die politische Leistung Zoran Djindjics erschließt sich auch nur, wenn man sie in den Kontext der jüngsten Zeitgeschichte Serbiens stellt, nicht darin versenkt und verschwinden lässt, wie es Holm Sundhaussen, der Doyen der Serbien- Historiografie in Deutschland, in seinem an sich großartigen neuen Buch über „Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943 – 2011“ (2012) leider tut. Über Djindjic und sein Wirken finden sich hier nur ein paar flache Sätzchen. Aber auch nicht darüber stellt und den visionären, mutigen Politiker irgendwie idealisiert, zum Idol macht oder ins Monumentale oder Messianische emporhebt. Etwa dem heutigen Anlass zuliebe oder auch um der Freundschaft willen.

1.
Ich habe für diesen Beitrag den Band mit Interviews und politischen Texten aus den Jahren 2000 – 2003 wieder gelesen: „Serbien in Europa“ (Tanjug 2004). Sie sind eine wertvolle Quelle für die nüchterne, gleichwohl nicht nivellierende Würdigung des handelnden Politikers Zoran Djindjic. 1999/2000 war er aus meiner Sicht ganz bestimmt unersetzlich für sein Land. Es gab in Serbien keinen anderen Politiker von dieser Risiko- und Handlungsbereitschaft. Aber dann auch an der Regierung – nur gut zwei Jahre! Das muss ich mir selbst immer wieder vorhalten – hatte seine Entschlossenheit, das Land aus der Isolierung herauszuholen, nicht ihresgleichen in Serbien. Seine politische Führung war nach Konsequenz und Zielbewusstsein ein historischer Glückfall – wenn auch ein von vielen im Land unverstandener oder zu spät verstandener. Wer sonst hätte so zu den eigenen Leuten gesprochen – ohne Arroganz, aber auch ohne Schonung und Schönfärberei in die eigene zerrissene, verwirrte, paralysierte Gesellschaft hinein?

Etwas anderes ist das Bild von der serbischen Geschichte, das Djindjic im Kopf hatte. Auch hier der Topos von „den Kriegen, die wir gewinnen und dem Frieden, den wir verlieren“. Auch das Gesamtbild von den Kriegen der 90er Jahre ist bestenfalls schwankend. Es gibt hier luzide Einsichten wie die etwa, dass es ohne Milosevic wohl auch keinen Tudjman gegeben hätte. Aber es gibt auch die apologetische Neigung, die Verantwortung für diese Kriege gleichmäßig auf alle beteiligten Akteure umzuverteilen. Und ob Djindjic in der Kosovofrage über sich selbst und das politische Paradigma der serbischen Elite hinausgewachsen wäre, wenn er am Leben geblieben wäre, steht dahin. Es deutet nichts direkt darauf hin. Es sei denn, man berücksichtigt die grundlegende Tatsache, dass Zoran Djindjic für sein Land eine Politik der realen ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung entworfen und begonnen hat – das heißt: eine Politik jenseits der friedensvernichtenden, selbstzerstörerischen Obsession von der „nationalen Frage“.

Kritikpunkte gibt es also genug. Das ist auch nicht weiter überraschend. Kritikpunkte gibt es immer genug. Zoran Djindjic war nicht ganz frei von gelegentlichen Anwandlungen der Selbstüberschätzung wie nach der Bambi-Preisverleihung in Berlin. Er selbst nennt es „Euporie“. Aber das sind nur Momente der Schwäche und der Unausgeglichenheit. Immer wieder spricht er die Grenzen und die Ungewissheit seiner Politik und seines persönlichen Einsatzes ätzend scharf aus. Der Tonfall seiner öffentlichen Stellungnahmen wird immer angespannter, gereizter. Nicht selten scheint er sich am Rande der Müdigkeit, der Erbitterung, der Depressivität zu bewegen. Aber die Tatkraft, der Gestaltungswille überwiegt diese persönlichen Schwankungen. Boris Tadic hat Karadzic und Mladic ausgeliefert. Aber viel zu spät. Die Auslieferung Milosevics 2001 ist damit in ihrer aktuellen Tragweite nicht vergleichbar. Es war ein Durchbruch. Djindjic hat Milosevic, wie er gesagt hat, nicht gegen Geld eingetauscht, gegen Kredite (wie es unsere neunmalklugen Kommentatoren unterstellten), sondern gegen „Glaubwürdigkeit“. Die ungerührte Verteidigung der unvermeidlichen Zusammenarbeit mit den großen Finanzinstitutionen der Welt, mit der Djindjic sich gegen die in Serbien wuchernde, abartige Mischung von ethnozentrischer Wehleidigkeit und Verschwörungstheorie stellt – öffentlich, konfrontativ stellt, ist eine Leistung ersten Ranges. Wenn die Tranchen der in Brüssel bereits fest zugesagten Mittel ausblieben – im byzantinischen Bürokratismus der EU hängen blieben, konnte Djindjic sehr scharf werden. Man denke an das berühmte Spiegel-Interview. Aber bei der Auslieferung des abgesetzten Despoten an das Straftribunal in Den Haag ging es um mehr als Geld. Es ging um das wichtigste politische Kapital, über das diese serbische Regierung verfügte: die Anerkennung, das Vertrauen, den Respekt seitens der maßgeblichen Machtzentren des Westens

2.
Aber lassen Sie mich diesen Lektüreeindruck durch zwei, drei Fragen konkretisieren. Die erste wäre schon: Wie ist der junge Zoran Djindjic überhaupt aus der Gedankenwelt von „1968“, aus der er kam, in die von „1989“ gelangt – also von den hochfliegenden emanzipatorischen Utopien der internationalen Studentenbewegung, speziell in ihrer Belgrader Variante, zur ordinären kapitalistischen Demokratie westlichen Zuschnitts – mit ihren brutalen Schocks und verstörenden Anforderungen, mit ihren neuen Chancen und mit ihren vielen Verlierern? Wie sie überall in Ostmitteleuropa das kommunistische System abschaffte und wie sie Slobodan Milosevic für Serbien um jeden Preis, mit Gewalt und Krieg verhindern wollte. Für diese erst einmal noch theoretische Neuorientierung müssen die Jahre in Frankfurt am Main entscheidend gewesen. Ich erinnere mich an eine nächtliche Diskussion dort über die Soziologie von Niklas Luhmann. Zoran Djindjic war offenkundig fasziniert von diesen Texten. Für mich war Luhmann damals noch ein anmaßender Bürokrat, der sich auf alle soziale Bewegungen draufsetzte und sich über jedes Gerechtigkeitsverlangen zynisch mokierte. Für Djindjic war er ein kreativer Denker moderner gesellschaftlicher Komplexität.

Meine zweite Frage lautet: Wie konnte ein Intellektueller wie Zoran Djindjic, zuerst in Belgrad, dann in Deutschland fein gebildet, in einem nach Kommunismus und Krieg so pauperisierten, politisch deformierten und ideologisch verwüsteten Land wie Serbien nach oben, an die Macht kommen? Aber das ist schon eine Forschungsfrage, die mich überfordert. Pedja Obradovic vom Belgrader Fernsehsender B 92 hat mich kürzlich für seine Dokumentation zum 10. Todestag Zoran Djindjics gefragt, ob ich denn etwas vom politischen Talent und von der späteren politischen Karriere meines jungen Freundes vorausgeahnt hätte? Nein, Fehlanzeige, nichts, ich habe nichts geahnt, nichts gespürt, nichts vorausgesehen. Auch später blieb das so: 1988 oder 1989 bei einem Besuch in Belgrad hatte ich das unbehagliche Gefühl, Zoran habe seinen Kompass verloren. Für uns war damals Ljubljana der Hauptort der genuinen Demokratisierung im zerfallenden Jugoslawien. Belgrad war das Gegenzentrum einer manipulativen, antidemokratischen Massenmobilisierung. Sie beutete nur die nationalistische Umdeutung, Mystifikation der bedrohlichen wirtschaftlichen Rezession in Jugoslawien seit Mitte der 80er Jahre zur existenziellen Gefährdung und Entrechtung der serbischen Nation als Nation aus. Was hingegen Djindjic über die slowenischen Ambitionen sagte, wirkte auf mich eigenartig ressentimentgeladen und feindselig. Bei ihm zuhause tauchten obskure Intellektuelle und Journalisten von der Milosevic-Richtung auf. Wo stand er eigentlich? Kurze Zeit darauf gründete Djindjic zusammen mit anderen dann bekanntlich die Demokratische Partei – damals noch eine andere Partei als heute. Aber das habe ich schon nicht mehr aus der Nähe verfolgt. Erst später hat mir das klassische Buch von Robert Thomas „Serbia under Milosevic“(1999) die Augen geöffnet für den Weg Djindjics durch das steinige Gelände einer fast hoffnungslos zersplitterten Opposition. Es war freilich zugleich das Szenarium eines abbröckelnden, zunehmend delegitimierten Herrschaftssystems. Man versteht den Aufstieg Zoran Djindjics nicht, wenn man den Niedergang Milosevics ausblendet und sein Regime zum übermächtigen, unerschöpflichen Leviathan stilisiert. Mit mindestens totalitärem Zugriff auf die überwältigende Mehrheit der Serben. Das war es nicht einmal bei seinem triumphalen Wahlerfolg von 1990, wie Sundhaussen schön herausarbeitet.

In den Jahren der Kriege habe ich den Kontakt ganz abreißen lassen. Als nichts von ihm kam, kein Laut, kein Protest gegen diese verbrecherischen Kriege, habe ich Zoran Djindjic sogar für mich selbst fallengelassen. Erst 2000/2001, angesichts der jetzt unübersehbaren herausragenden Leistungen, die ja irgendwoher kommen mussten – aus irgendeiner zähen Vorarbeit, aus einem überlegenen politischen Realismus, aus einer großen Idee, ist mir meine mangelnde politische Vorstellungskraft und meine Selbstgerechtigkeit selber zum Problem geworden und ich habe wieder meine Fühler nach Belgrad ausgestreckt.

Man müsste hier zuerst vom 5. Oktober und seiner Vorbereitung sprechen. Das wäre eine dritte Frage. Nicht gleich davon sprechen, was diese Wende eigentlich war und was sie nicht war. Spätestens mit der Ermordung Zoran Djindjics sind die Illusionen darüber zerstoben, was sie war. Ohnehin ist dieser Illusionismus vor allem im Westen kultiviert worden, der gern nicht so genau hinschaut. Zoran Djindjic selbst hat ihn nicht geteilt. Er wusste, mit wem er in der Nacht zum 5.Oktober – im Auto, er allein, der andere in bewaffneter Begleitung – einen abgründig riskanten Deal zur Vermeidung eines Blutbades abgeschlossen hatte. Es musste alles versucht werden, damit der Auftritt der Hundertausenden in Belgrad nicht in einem Massaker durch die Sondereinheiten des Regimes enden würde. Zuallererst wäre vielmehr über etwas anderes zu sprechen – nämlich darüber, wie die Entmachtung Milosevics überhaupt möglich wurde. Hinterher sah es aus, als sei sie unvermeidlich gewesen, notwendig, wie selbstverständlich. Als sei dieser durchtriebene, aber verbrauchte, geistig leere Machthaber vom Baume Serbiens gefallen wie ein fauler Apfel. Aber die Vertreibung von der Macht musste erdacht werden, ehe sie umgesetzt werden konnte. Sie musste erst einmal für möglich gehalten werden, ehe sie wirklich werden konnte. Ein erfahrener, einflussreicher Politiker wie Vuk Draskovic scheint zum Beispiel ganz außerstande dazu gewesen zu sein. Er konnte die konkrete Chance, Milosevic loszuwerden, anscheinend nicht einmal denken: Einen derartigen qualitativen Sprung aus dem kreisenden Einerlei der serbischen Politik. Er konnte sich beim besten Willen nur ein Weiterwursteln unter Milosevic vorstellen. Das war sein Horizont. Eine Perspektive des Immer-Gleichen, aber das Beste daraus machen. Anders Zoran Djindjic, der den spezifischen Moment, den noch verdeckten, noch latenten Ausnahmezustand erfasste und ans Tageslicht zu ziehen wusste. Alles andere war da zweitrangig – auch der eigene Ehrgeiz, auch die Scheinhaftigkeit einer Figur wie der des vermeintlich untadeligen, rechtschaffenen, vertrauenswürdigen Vojislav Kostunica.

3.
Was ist von diesem bedeutenden Mann ohne Zeit, von diesem authentischen Patrioten ohne tragfähige Anerkennung im eigenen Land heute noch übrig, noch präsent in Serbien? Das lässt sich von hier aus kaum angemessen beurteilen. Von hier aus ist aber immerhin zu sehen, dass heute auch noch die giftigsten Chauvinisten von gestern eine pro-europäische Politik machen. Nicht aus freien Stücken, sondern aus politischer Opportunität. Das serbische Wahlvolk hat sie zu der Kehrtwendung gezwungen. Die politische Elite kann auch in Serbien nicht mehr einfach machen, was sie will. Die alten Funktionäre des Milosevic-Regimes, die heute das Land wieder führen, haben es mit einer Gesellschaft zu tun, die nationalistische Sonderwege nicht mehr will und nicht mehr erträgt. Das sollte den Beobachter aus der Ferne veranlassen, sich dem realen, alltäglichen, arbeitenden und arbeitslosen Serbien zuzuwenden – statt immer nur auf die fragwürdigen Eliten des Landes zu starren. Es ist an der Zeit, die bengalische Beleuchtung über Land und Leuten auszuschalten. Und sie kritisch, aber unbefangen von ihren elementaren Problemen und Überlebensstrategien her zu sehen. Wie Zoran Djindjic es getan hat. Oder wie der scharfsichtige serbisch-ungarische Schriftsteller László Végel aus Novi Sad es tut. Ungeachtet aller Spezifik rückt Serbien dann in den weitergespannten Vergleichshorizont südosteuropäischer Transformationsgesellschaften – mitsamt seinen tiefen, hässlichen populistischen Strömungen, die ja übrigens auch in Westeuropa durchaus nichts Unbekanntes sind. Ich schließe mit einem Zitat aus dem erwähnten Band mit politischen Gebrauchstexten. In seinem „Vorschlag für ein Abkommen über das Staatsziel“ vom März 2001 schreibt Zoran Djindjic: „Wir müssen folgendermaßen vorgehen: zuerst müssen wir die internationalen Kanäle öffnen, über die wir Zugang zum internationalen Kapital- und Technologiemarkt haben und über die wir unsere Wirtschaft für den Weltmarkt öffnen können. Zweitens, wir müssen unsere Gesetze und Institutionen reformieren, um für größere Investitionen attraktiv zu sein. Drittens müssen wir unsere Unternehmen umstrukturieren. Gleichzeitig müssen wir den öffentlichen Dienst, d.h. die Staatsverwaltung, die Polizei, das Gesundheits- und Bildungswesen sowie die Fortbildungsmaßnahmen für eine Vielzahl von Beschäftigten, effizienter und leistungsfähiger machen. An erster Stelle steht jedoch ein neuer sozialer Konsens über unser Ziel, das nur durch gemeinsame Bemühungen und auch durch persönlichen Verzicht möglich ist … Die Zeit des Sparens und des Verzichts ist noch immer nicht vorbei. Nur dass wir dies heute für die Zukunft unserer Familien und unseres Landes tun, und nicht für eine krankhafte Politik und die Privilegien der Machthaber. Der Unterschied besteht auch darin, dass wir heute gute Chancen haben, durch unsere Bescheidenheit eine Gesellschaft entstehen zu lassen, in der niemand mehr auf seine grundlegenden menschlichen und zivilisatorischen Bedürfnisse wird verzichten müssen.“

Wir haben unseren tiefen Respekt, und wir haben unsere tiefe Unkenntnis

Ernst Köhler

Bei Ling: Der Freiheit geopfert. Die Biografie des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo.

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Bei Ling: Der Freiheit geopfert. Die Biografie des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo. Übersetzung aus dem Chinesischen von Martin Winter, Yin Yan und Günther Klotz, München 2011 ( riva Verlag), 19,95 €

Die Verleihung des Friedensnobelpreises 2010 an den chinesischen Dissidenten Liu Xiaobo hat uns mit ungetrübter Freude und Genugtuung erfüllt – wie die an Aung San Suu Kyi 1991 oder an Nelson Mandela 1993. Aber das heißt nicht, dass uns dieser ferne Mann im abstrakten Menschenmeer Chinas als Mensch, als konkrete Person auch näher gekommen und fasslich geworden wäre. Wir haben unseren tiefen Respekt, und wir haben unsere tiefe Unkenntnis, unsere westliche Provinzialität – zusammengenommen ergibt das eine Ikone, eine Lichtgestalt etwas oberhalb der Erde.

Jetzt hat der chinesische Untergrundschriftsteller Bei Ling eine Biografie über Liu Xiaobo geschrieben, die auch auf deutsch erschienen ist. Der Autor war mit seinem „Helden“ einmal eng befreundet. In New York waren die beiden unmittelbar vor Beginn der chinesischen Demokratiebewegung von 1989 eine Zeit lang unzertrennlich. Für einen Augenblick denken sie daran, in Amerika gemeinsam um politisches Asyl nachzusuchen. Aber dann trennen sich ihre Wege wieder. Xiaobo kehrt allein zurück nach China und wird der politische Mensch, der zivile Kämpfer, als den die Welt ihn kennt und ausgezeichnet hat. Das ist die Verbindung von Vertrautheit und Abstand, die diesen Text zu einer unsentimentalen, eindringenden, genauen Lebensbeschreibung werden lässt. Das Buch ist offenbar hastig geschrieben – unter dem Zugzwang des Preises, aber dafür auch schnörkellos und packend direkt. Von ganz wenigen leeren, pathetischen Stellen abgesehen, hält sich die Darstellung durchweg dicht an die Texte und Selbstzeugnisse Liu Xiaobos. Auch Andere kommen reichlich zu Wort – mit ihren Reaktionen auf diesen exzentrischen, schroffen, provozierenden, dann auch verzweifelten Mann. Darunter nicht zuletzt seine zweite Frau Liu Xia, die ihn wegen der übergroßen Risiken, die er eingeht, „meinen Dummkopf“ nennt. So entfaltet sich vor dem Leser das Bild eines bedrängten Milieus, eines Netzwerkes im Widerstand, einer vom Staat überfahrenen Liebe.

Der mit seinen häretischen Thesen über die Wertlosigkeit der gesamten chinesischen Gegenwartsliteratur (des Jahrzehnts nach der „Kulturrevolution“) und mit seinen noch viel radikaleren Attacken gegen die autoritäre konfuzianische Tradition seines Landes schnell berühmt gewordene junge Literaturwissenschaftler und Kulturkritiker (Jg. 1956) hatte bald seinen Spitznamen in einschlägigen Kreisen weg: „Schwarzes Pferd“ – eine unbekannte, aus dem Nichts (vermutlich aber von Westen) herangaloppierende Kreatur und Kraft, die da auf einmal die Gemeinde unsicher macht. Schon das vermittelt einen Eindruck von der überraschenden Neugier, Diskussionsbereitschaft und Toleranz der Intelligenz zumindest in Peking. Damals ist Liu Xiaobo noch kein Verfolgter. Er ist vielmehr ein Star, und er genießt es in vollen Zügen, um nicht zu sagen: zügellos. Der Bruch kommt mit dem Massenprotest der Studenten im Mai und Juni 1989, dem sich Liu Xiaobo zusammen mit drei Freunden nach anfänglichem Zögern anschließt. Die „Vier Ehrenmänner“ sind auch in der Nacht zum 4.Juni auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Und als die Armee dann heranrückt, tun sie alles, um die Studenten zum Abzug zu bewegen. Nach dramatischem Ringen um Vernunft und lebensrettende Gewaltlosigkeit: schließlich mit Erfolg. Zu einem Massaker an den Studenten auf dem Platz selbst kommt es nicht – entgegen der sich bis heute haltenden Weltlegende von diesen Ereignissen. Das Massaker fand an den umliegenden Straßenkreuzungen statt und traf vor allem einfache Pekinger Bürger, die sich mit den Studenten solidarisiert hatten. Während des anschließenden, zunächst knapp zweijährigen Gefängnisaufenthaltes entscheidet sich Liu Xiaobo schließlich zu einem Geständnis, d.h. zu einer „Selbstkritik“ im Sinne des kommunistischen Totalitarismus, was er sich später dann nie mehr verzeihen wird. Diese Abschnitte über die Selbstentwürdigung, über den Kotau eines integren und tapferen Menschen vor der Macht und über seine schmerzliche Selbsterforschung und politische Reifung nach diesem Zusammenbruch bis hin zur Autorenschaft an der „Charta 08“ muss man lesen. Sie zeigen, dass dieses Manifest für demokratische und rechtstaatliche Institutionen in China nicht von außen kommt. Es kennt Vorbilder – etwa die „Charta 77“ in der Tschechoslowakei. Aber es kommt von innen, aus der Leidens- und Lerngeschichte der chinesischen Demokraten selbst.