Rede bei der Gedenkveranstaltung der Stadt Konstanz für Zoran Djindjic am 23. März 2004

Ernst Köhler

Zum Text erläutert Ernst Köhler: „Die Rede ist ins Serbische übersetzt worden und in der Belgrader Wochenzeitschrift ‚ekonomist‘ erschienen. Der hier erwähnte liberale serbische Oppositionspolitiker Cedomir Jovanovic, nicht nur für mich der eigentliche politische Erbe Djindjics, hat den Text zudem in seine Homepage aufgenommen. Bei uns ist die Rede hingegen unveröffentlicht geblieben.“

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Zoran Djindjic wurde am 12. März 2003 in Belgrad ermordet.

Ich fürchte, es ist keine Rede, was ich Ihnen hier vortragen möchte, sondern eher eine Reportage, ein Bericht über die Stipvisite, die wir Ende Februar in Belgrad gemacht haben. Für mich war es die erste Kontaktaufnahme nach zwei Jahren. Aber es war nicht nur traurig, sondern auch befreiend – befreiend, weil die Leute, die Zoran Djindjic in Belgrad verteidigen, ihn auch verteidigen und sich nicht nach allen Seiten abzusichern suchen. In einem zweiten Anlauf gehe ich dann noch einmal etwas allgemeiner auf die jüngste politische Entwicklung in Serbien ein, so wie sie sich dem Besucher eben darstellt. Wovon soll man in diesem Fall sprechen – von einem Umschwung? Von einem Rückschlag? Von einer Wende?

1.
Der Hinweis auf die Gedenkveranstaltung für Zoran Djindjic in Konstanz öffnet uns einige Türen in Belgrad. „Serbien hat Milosevic produziert, nicht Milosevic Serbien“, so im Gespräch Cedomir Jovanovic, Europaminister in der gescheiterten Regierung Zivkovic und bereits seit dem Winter 1996/ 1997 – seit den Massenprotesten gegen die Fälschung der Kommunalwahlen ein enger Mitarbeiter und Vertrauter von Zoran Djindjic in der Demokratischen Partei. Der harte Satz ist nur einer von vielen harten Sätzen, die in diesem freimütigen Treffen fallen. Der Mann, erst Anfang 30, ist eine ungewöhnliche Erscheinung. Er wirkt immer noch eher wie der Studentenführer, der er einmal war – zu jung, zu jugendlich fast für den selbstvergessenen Ernst, den er an diesem Abend zeigt. Die Trauer über den Verlust seines Chefs, seines Vorbilds hat ihn offenkundig noch nicht verlassen. Aber das macht nur den Ton aus, in dem er spricht. Die Trauer muß sich in eine Verzweiflung über den Zustand des Landes verwandelt haben. Er spricht die ganze Zeit über nichts anderes als über die politische Lücke, die Zoran Djindjic hinterläßt – schonungslos, aber auch überpointiert für unsere Begriffe. Gerät Zoran Djindjic vor dieser Folie – in diesem trostlosen, eigenartig erstarrten Gesamtbild von der modernen serbischen Geschichte nicht doch zu einer übergroßen oder überhistorischen Gestalt? Immer wieder kommen geschliffene Aphorismen, die das rückwärts gewandte, reformunwillige Land bloßstellen und geißeln. Seit zweihundert Jahren sei „hier nichts geschehen“, seit zweihundert Jahren verweigerten sich diese Gesellschaft und ihre Eliten beharrlich jeder umfassenden Erneuerung. Cedomir Jovanovic läßt vor uns so etwas wie eine Bühne entstehen – eine der Hauptfiguren des Stücks rede „nur in Phrasen“. Sie wiederhole immer nur: „Serbien ist schön, ihr seid ein gutes Volk, Serbien ist reich. Und wenn es dennoch leidet und darbt, so liegt das ausschließlich an der unverträglichen Politik, die ihm einige selbsternannte Reformer aufzuzwingen versuchen.“ Niemals sage sie den Menschen, was sie nicht hören wollten: Ihr müßt euch ändern. Ihr müßt lernen. Ihr müßt arbeiten. Ihr müßt in den Spiegel schauen. Aber der öffentliche Schmeichler Vojislav Kostunica ist nur ein Nebenthema. Das Hauptthema dieser leidenschaftlichen Darlegungen ist die Abwesenheit einer entschlossenen Reformkraft in der gegenwärtigen serbischen Politik. Der Parteitag der Demokratischen Partei vom 22. Februar hat zwar einen Film über Djindjic auf dem Parteitag von 2000 gezeigt, aber das sei nur „billiges Pathos“ gewesen, keine Würdigung, kein Bekenntnis zur Reformpolitik des ermordeten Premiers. Der Parteitag sei vielmehr programmatisch und strategisch leer geblieben. Sein einziges Thema sei die Demokratische Partei selbst gewesen. Cedomir Jovanovic selbst hat hier gesprochen. Seine Rede ist mit großem Beifall aufgenommen worden – die Bestätigung als stellvertretender Präsident der Partei hat er dennoch ganz knapp verfehlt. Ob bei den parteiinternen Wahlen alles mit rechten Dingen zugegangen ist, erscheint freilich mehr als zweifelhaft. Ein als unabhängig geltendes Belgrader Wochenmagazin weiß von einer massiven, geradezu stalinistisch anmutenden Beeinflussung der Delegierten im Moment der Abstimmung zu berichten. (Vreme, 26. Februar 2004) Auch die ausgesprochen milde Kritik des frisch gewählten Parteiführers Boris Tadic an den überaus vagen Absichtserklärungen der neuen Regierung im Parlament verheißt nichts Gutes. Sie könnte bedeuten, daß die Partei, mit Jovanovic zu sprechen, „im Durchschnitt versäuft“ – das heißt: im uferlosen, vielpoligen Sumpf des serbischen Nationalismus mit seinen informellen kirchlichen, militärischen,wirtschaftlichen, akademischen Machtzentren und Seilschaften zu versinken beginnt. In diesem Fall hätten die Attentäter vom 12. März 2003 schließlich doch erreicht, was sie wollten.

Cedomir Jovanovic sagt uns gegenüber von sich selbst, daß er „schmutzige Hände“ habe, „aber ein reines Gewissen“. Man kann in Belgrad über ihn hören – gerade auch von integren Leuten, daß er etwas Besonderes sei, daß er Ideen habe, sich im gnadenlosen Machtkampf an der Seite von Zoran Djindjic aber leider „ allzu früh verbraucht“ habe. Der ob seiner Kompromißlosigkeit unpopuläre, vielleicht sogar verhaßte Politiker könnte heute sehr wohl in seiner physischen Sicherheit gefährdet sein. Es ist bezeichnend für das Klima im heutigen Belgrad, daß es ausgerechnet Sonja Biserko vom Helsinki-Komitee ist, die uns das Gespräch mit dem umstrittenen Djindjic-Mann vermittelt. Wir haben hier eine Menschenrechtsaktivistin vor uns, die es verschmäht und es sich auch kaum leisten kann, nur von den Menschenrechten zu sprechen. Das ist vielleicht die lehrreichste Erfahrung dieses Besuchs. Man muß im Serbien des Milosevic-Erbes, des politischen Mords und des jüngsten Wahlerfolgs der Radikalen wissen, auf welcher Seite man steht. Die Chance, sich aus dem größeren politischen Zusammenhang so etwas wie eine Nische für sein humanitäres Engagement herauszuschneiden und abzuzirkeln, gibt es in dieser Situation einer bedrohlich entgleisten Transformation gar nicht. Oder wenn es sie gibt, dann ist es nicht legitim, sie wahrzunehmen. Auf Zoran Djindjic selbst läßt Frau Biserko nicht den geringsten Schatten fallen. Und das ist nicht etwa bloßer Anstand gegenüber einem Politiker, der für seine mutigen Entscheidungen im Interesse des Landes schließlich mit dem Leben gebüßt hat – für die Auslieferung Slobodan Milosevics an den Strafgerichtshof in Den Haag insbesondere, der den kriminell vernetzten und in den Kriegen der 90er Jahre schwer belasteten Schattenstaat des alten Regimes alarmiert hat. So wie jetzt hat Sonja Biserko schon über Djindjic geredet, als er noch lebte: Bei einem Gespräch im April 2002 hat sie gesagt, seit er an der Macht sei, habe er sich verändert. Wenn er die nächsten Wahlen überstehe, könne er noch sehr wichtig für dieses Land werden – nicht gerade ein Kotau vor dem gesunden Menschenverstand, der Macht ja geradezu reflexhaft mit Korrumpierung zu assoziieren pflegt. „Um Gottes Willen, hoffentlich sagt sie das nicht öffentlich – sonst überstehe ich die Wahlen bestimmt nicht“, war damals die Reaktion von Zoran Djindjic. Es ist politische Einsicht, die Sonja Biserko in ihrem Urteil leitet. Heute verbreiten sich in Belgrad nur die erneut entfesselten, giftigen Feinde der Reform lautstark über die Verbindungen Zoran Djindjics zum organisierten Verbrechen. Man hat da anscheinend eine regelrechte Kampagne der Diffamierung und der posthumen Kriminalisierung in Gang gesetzt. Offenbar macht Zoran Djindjic seinen Feinden immer noch Angst. Deshalb möchte man den Ministerpräsidenten zum politischen Paten machen, der eben einfach von konkurrierenden Gangstern umgebracht worden ist. Wenn man nur könnte, würde man auch den laufenden Prozeß gegen die mutmaßlichen Mörder Djindjics zu einem Prozeß gegen das Opfer selbst umfunktionieren. Daß man es nicht kann, dafür kämpft mit ganzem Engagement und mit ganzem Risiko Rajko Danilovic, der Ruzica Djindjic in dem Prozeß vertritt. Aber es wird immer schwerer und immer gefährlicher – wenige Tage, nachdem wir mit dem unbeugsamen Anwalt gesprochen haben, wird am 1. März Kujo Krijestorac ermordet, einer der wichtigsten Zeugen im Prozeß gegen die mutmaßlichen Mörder Zoran Djindjics. Laut einer dpa-Meldung bleibt Rajko Danilovic dennoch zuversichtlich – Krijestoracs Aussage werde im Gerichtssaal verlesen und sei daher geeignet, einige oder alle Angeklagten zu belasten.
Wie auch andere herausragende Leute aus der mittlerweile sehr einsamen liberalen Intelligenz Belgrads pariert Sonja Biserko unsere Frage nach den Kontakten Dindjics zu den Sicherheitsapparaten und Mafiaorganisationen der Milosevic-Ära mit der Gegenfrage: Mit wem hätte er denn sonst verhandeln sollen – andere politische Führer hatte Milosevic nicht hinterlassen. Und unsere pflichtschuldige Frage nach dem achtlosen Umgang Djindjics mit den politischen Institutionen kontert sie mit der Frage: Gab es denn welche? Und was machen Sie, wenn sich gerade in den aus dem alten Regime weitergeschleppten Institutionen wie etwa im Verfassungsgericht oder im Parlament oder hinter dem Präsidenten jene Kräfte eingenistet haben, die jede Reform bekämpfen und blockieren? Ganz ungeschoren kommt der prinzipienfeste Besucher aus dem Westen nicht davon im Belgrad von heute. Er sollte sich zumindest eingestehen, daß er aus einem gefestigten demokratischen Gemeinwesen kommt und nach ein paar irritierenden Tagen wieder dorthin zurückkehrt.

Die uns am meisten beunruhigende Frage legen wir Latinka Perovic vor – vielleicht weil die Historikerin selbst einmal politische Verantwortung getragen hat. Den gegenwärtigen Rückschlag stellt sie in eine große historische Perspektive, die auch ihn fast katastrophisch groß erscheinen läßt. Die Radikalen sind wieder mächtig, die orthodoxe Kirche vertritt offen antieuropäische Positionen, und auch die Literaten-Strategen der Akademie der Wissenschaften und Künste – inklusive Dobrica Cosic – haben nach dem „Memorandum“ von 1986 jetzt erneut zugeschlagen und ein 500 Seiten-Dokument nationalistischer Unbelehrbarkeit publiziert. Vojislav Kostunica nennt Perovic „eine Art Parasit“ an dem gestörten, auch in früheren Epochen immer nur partiellen, immer wieder zurückgenommenen Modernisierungsprozeß Serbiens. Boris Tadic, im Westen als couragierter Verteidigungsminister von Serbien und Montenegro hochgeschätzt, habe noch überhaupt nicht klar zu erkennen gegeben, wer er sei. Nur für Zoran Djindjic scheint Latinka Perovic ihre besondere Distanziertheit oder Abgeklärtheit einmal verlassen zu wollen. Sie spricht über ihn mit Wärme und Hochachtung, ja Verehrung. Das Wort tragisch nimmt sie nicht in den Mund, aber vielleicht nur aus Stilgefühl nicht. Zoran Djindjic war für sie „ein Mann des Konzepts, der Idee, nicht der Macht“ – schon das geeignet, das Urteilsvermögen mancher unserer Südosteuropa-Korrespondenten in Zweifel zu ziehen. Sein Optimismus, so habe er ihr einmal bei einer persönlichen Begegnung gesagt, verdanke sich zwei Punkten – einmal „dem Bewußtsein, daß wir schon ganz unten sind, tiefer kann man kaum mehr fallen; und dann ist da der internationale Zusammenhang, der uns unterstützt und Auftrieb gibt“. Hier glaubt man tatsächlich, Zoran Djindjic reden zu hören. Abgesehen von Marko Nikezic, neben Perovic selber der führende Reformkommunist der frühen 70er Jahren, habe Serbien in seiner Geschichte bislang keinen Reformer von vergleichbarem Format hervorgebracht. Unmittelbar nach seinem Tod habe sich ein Vakuum aufgetan. Es sei ein unersetzlicher Verlust für das kaputte und desorientierte Land. Die Auslieferung Milosevics bezeichnet Latinka Perovic als eine „kapitale Entscheidung“ – wieder eine Formulierung, die bei uns kaum je so zu lesen war. Wir fragen Latinka Perovic, ob Zoran Djindjic die serbischen Verbrechen in Kroatien, in Bosnien, im Kosovo einmal öffentlich angesprochen habe. Die Antwort – wörtlich: „Nein, das hat er nicht getan. Aber ich nehme ihm das nicht übel. Zoran Djindjic war sich über die Wahrheit persönlich im klaren. Aber es ist nicht die Aufgabe des Regierungschefs, sie auszusprechen. Es ist die Aufgabe der zivilen Gesellschaft.“ Es sind stolze Worte. Wenn ich sie paraphrasieren darf: Ein Regierungschef ist ein Regierungschef, kein Stellvertreter. Wir können nicht auch noch unsere tiefsten Probleme einem Politiker aufbürden, der sich auch so schon für sein Land aufgeopfert hat. Die Rede ist hier nicht von irgendeiner natürlichen Arbeitsteilung – die Rede ist von einer unüberschreitbaren Grenze, der sich gerade ein auf Frieden, Reform und Reintegration gerichtetes Regierungshandeln im Serbien nach Milosevic konfrontiert sieht. Die Antwort ist umso bemerkenswerter, als Latinka Perovic die Verbrechen dann als „die Frage unserer Zeit“ bezeichnet. Indem sie die moralisierenden Implikationen unserer Fragestellung zurückweist, läßt sie uns teilnehmen an einem moralistischen Diskurs anderer und eigenständiger Art. Sie berichtet von Diskussionsforen in der serbischen Provinz, an denen sie teilgenommen und auf denen sie die Kriegsverbrechen thematisiert habe. Das Publikum habe darauf mit Schweigen reagiert. Was für ein Schweigen? Und dann kommt ein Satz, der wohl nur von Latinka Perovic kommen kann: „Die Leute wissen wohl im Hinterkopf, worum es sich handelt. Aber es ist schwer, Menschen zum Sprechen zu bringen. Es gelingt nur, wenn sie sich vorstellen können, daß so etwas auch ihnen selbst widerfahren könnte.“
2.
An Zoran Djindjic scheiden sich heute in Belgrad immer noch die Geister oder besser die politischen Lager. Es gibt offenbar reichlich Leute mit Macht und Einfluß, die die Erinnerung an ihn zerstören möchten. Aber es gibt auch eine unbeirrbare Minderheit, die seine Leistung und sein politisches Erbe zu würdigen sucht. Wenn wir unseren Gesprächspartnern mit einer Form der Kritik aufwarten, wie sie bei uns fast schon zum guten Ton gehört, fangen wir uns regelmäßig eine spöttische oder beißende Abfuhr ein. Zum Todestag von Zoran Djindjic hieß es in der Neuen Zürcher Zeitung wieder: „Die Charakterisierung Djindjics als Politiker, der zum Erreichen seiner Ziele moralische und manchmal auch rechtstaatliche Prinzipien vernachlässigte, ist zweifellos zutreffend.“ (NZZ, 13./14. März 2004). Ein solcher Satz käme den kämpferischen liberalen Demokraten, wie wir sie in Belgrad getroffen haben, nie über die Lippen. Er gälte ihnen wohl als Zeugnis mangelnder Vorstellungskraft. Das wäre mein erster Punkt.
In einem zweiten Abschnitt verlasse ich diesen festen Boden und begebe mich auf ein ziemlich unsicheres Gelände. Aber ich möchte eine Frage wenigstens streifen, die sich wohl jeder stellt, der sich nur überhaupt für Serbien und den Balkan interessiert: Was ist inzwischen noch übrig von der Politik Zoran Djindjics? I s t überhaupt noch etwas davon übrig? Man kann heute in Belgrad lesen oder hören, daß die Reformpolitik von Zoran Djindjic nur eine „Episode“ in der serbischen Politik war. Latinka Perovic spricht sogar von einem „incident“, einem Zwischenfall. Man hat das Gefühl, hier drücke sich die bittere Entschlossenheit aus, sich auf gar keinen Fall etwas vorzumachen und die politische Realität um keinen Preis zu verharmlosen. Ich möchte hier dafür plädieren, nicht so weit zu gehen. Es erscheint mir schwer vorstellbar, daß Serbien jetzt die eingeschlagene Richtung auf kapitalistische Demokratie und europäische Integration wieder verläßt und als einziges Land Südosteuropas Weißrußland ins Abseits, ins Nichts folgt. Das ist mein zweiter Punkt.
„Sie haben zwei kleine Kinder. Was wünschen Sie sich für die Zukunft Serbiens?“ lautet die letzte Frage eines Interviews, das Zoran Djindjic 2001 einer großen deutschen Tageszeitung gab. Die Antwort: “Daß wir so wie Griechenland werden – ein mediterranes Land, in dem die Leute nicht so gerne arbeiten. Aber wo grundsätzliche Dinge stimmen: persönliche Sicherheit, daß man ruhig schlafen kann. Freie Medien. Ein normales lässiges Leben mit ein bißchen Business. Daß man Bücher kaufen kann, daß man im Internet surft. Daß wir Teil der europäischen Zivilisation sein können, ohne uns aufzuopfern und zuviel sparen zu müssen. Für einen Revolutionär ist das doch ein realistisches Ziel, oder?“ (Frankfurter Rundschau , 9. Juni 2001) Und das sollte heute nicht auch der Wunsch eines großen, wenn nicht des überwiegenden Teils der Bürger des Landes sein – nach dem Bankrott Slobodan Milosevics und seines Sonderwegs, wie er im Oktober 2000 dann Hundertausende zorniger, erbitterter Menschen nach Belgrad geführt hatte? Aber auch das ist noch zu schwach formuliert: Welcher jüngere Mensch in Serbien – soweit er überhaupt noch da ist und nicht bereits irgendwo im Ausland, welcher Mensch mit familiärer Verantwortung müßte sich mit dieser Perspektive nicht mindestens ernstlich auseinandersetzen, ganz egal wo er politisch steht? Eine Frau von Mitte 40, die bei einer Belgrader Zeitung als Korrektorin arbeitet, sagt uns, daß sie ihre laute, turbulente Stadt noch nie „so still“ erlebt habe wie in den Tagen nach dem Mordanschlag vor einem Jahr. Die Anteilnahme der Bevölkerung am Begräbnis war, wie man sich erinnert, überraschend groß – eine spontane schweigende Demonstration gegen die Gewalt bei der Austragung politischer Konflikte. Aber nehmen wir ruhig einmal an, das alles gelte heute nicht mehr. Es sei binnen einiger Monate wieder von ganz anderen Haltungen oder Stimmungen verdrängt worden. Nicht ausgelöscht, aber beiseite geschoben. Schließlich haben soeben 28 % der Wähler für die Seselj-Partei votiert, die bekanntlich ihr Großserbentum niemals auch nur im mindesten korrigiert hat. Und wenn die neue Regierung demnächst scheitern sollte, was sehr gut möglich ist, dann könnten es bei Neuwahlen noch mehr Prozente werden. Auch in diesem Fall wird man realistischerweise eher von einer heftigen Schwankung der politischen Konjunktur sprechen als von einer epochalen Wende. Es findet nicht alle paar Jahre eine epochale Wende statt. Interessanterweise ist es der jüngste unter unseren Gesprächspartnern, ein 22-jähriger Biologie-Student, der uns die kühlste Diagnose der aktuellen Lage offeriert. Die Verbesserungen des Alltagslebens in den Jahren nach Milosevic – normale Versorgung mit Treibstoff an der Tankstelle; Zugänglichkeit von Medikamenten in der Apotheke – sind danach so handgreiflich und gravierend, daß niemand es wagen kann, sie erneut zu gefährden. Das politische Geschehen des letzten Jahres hakt der junge Mann ungerührt als Stagnationsphase der Transformation ab, „die dann vermutlich wieder in eine neue Phase der Transformation übergeht und so fort“. Was jetzt absolute Priorität habe, sei die politische Kontrolle der staatlichen und parastaatlichen Repressionsapparate, die Durchsetzung von Rechtsstaat und Rechtssicherheit, weil nur so Kapital ins Land komme. Da haben wir es wieder: das elementare Interesse an der Herstellung von normalen europäischen Verhältnissen und Lebensmöglichkeiten, wie es in manchen besorgten Analysen entschieden zu kurz kommt und hinter das durchaus fragwürdige Bild einer Nation ohne Nüchternheit und ohne Realitätssinn zurücktritt. Auch die Einführung einer spezifischen longue durée, von strukturellen Kontinuitäten der modernen serbischen Geschichte, wie sie kürzlich etwa Latinka Perovic in einem Gespräch mit der Neuen Zürcher Zeitung vorgeschlagen hat (NZZ, 2. März 2004), weist eine problematische Seite auf; denn auch dieses Verfahren führt letztlich dazu, das Gewicht, die praktische Relevanz aktueller Überlebensstrategien zu mindern – diesmal eben zugunsten erdrückender traditioneller Formen der Vergesellschaftung und des Selbstverständnisses.

Bei alledem sollte man auch nicht vergessen, daß Zoran Djindjic auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung ermordet worden ist – was etwas anderes ist als Popularität, in der ihm der abgetakelte Gegenspieler bis zuletzt überlegen war. Die mörderische Gewalt kam aus der Defensive, aus der Niederlage, aus der Furcht vor den unmittelbar bevorstehenden Maßnahmen der Regierung gegen die Sicherheitsapparate der Milosevic-Ära. Danach ist die Reformpolitik nicht wirklich weitergeführt worden – bei allen Anstrengungen der Regierung Zivkovic gegen die organisierte Kriminalität, die Respekt verdienen und hier nicht kleingemacht werden sollen. Bei Licht betrachtet, ist nicht die Reform unter Djindjic, sondern das Versanden der Reform unter Zivkovic mit dem Wahlergebnis vom Dezember quittiert worden. Und der fortschreitende Zerfall des Regierungsbündnisses DOS ist damit abgestraft worden. Auch als Zajedno nach seinem politischen Erfolg nichts Rechtes mit diesem Erfolg anzufangen wußte und auseinanderfiel, hat es eine Phase der tiefen Frustration und Entpolitisierung gegeben. Wären die Wahlen nicht im Dezember, sondern im Mai abgehalten worden – noch unter dem Eindruck des breit akzeptierten Ausnahmezustandes, wären sie wohl ganz anders ausgefallen. Wenn schon eine Politik, die gerade die wirtschaftlich und sozial schwächeren Schichten schwer belastet und entsprechend verunsichert, dann muß sie offensiv vertreten und umgesetzt werden. Sie muß Kraft entfalten – das gilt nicht nur in Serbien. Halbherzigkeit in Lebensfragen potenziert die Unsicherheit der Menschen noch. Eine Politik, die ans Eingemachte geht, muß auf die wachsende Einsicht der Betroffenen setzen. Sie muß ein Angebot machen. Sie muß der Reife der Bürger v o r g r ei f e n – anders kann sie niemanden überzeugen. Knapp ein Jahr vor seinem Tod hat Zoran Djindjic mir in seinem Arbeitszimmer im Regierungsgebäude erläutert, wie er es machte: „Ich gebe dir ein Beispiel. Wir waren kürzlich in Bor. Seit hundert Jahren ist hier Kupfer erzeugt worden. 20 000 Menschen hängen daran. Es geht aber nicht mehr. Mit jeder Tonne, die sie auf dem Weltmarkt verkaufen, machen sie sich selbst ärmer. Mit jeder Tonne verlieren sie 200 Dollar. Ich bin vor die Leute getreten – an die 5000 Menschen hatten sich dort versammelt – und habe ihnen gesagt: Ich habe zwei Nachrichten für Sie – eine gute und eine schlechte. Welche wollen Sie zuerst hören? Die schlechte! Also die schlechte: Sie werden kein Kupfer mehr haben. Es ist definitiv aus mit dem Kupfer von Bor. Es rentiert sich nicht mehr. Sie können davon nicht mehr leben. Nie mehr! Und die gute Nachricht? Die gute lautet: 99% der Menschheit hatte noch nie Kupfer und lebt immer noch. Was dann folgte, war eine halbe Stunde Tumult. Aber dann beruhigten sie sich langsam, und es kamen Fragen: Was ist die Alternative. Ich habe zurückgefragt, wieviel Holz sie hätten. Es gibt reichlich Holz in der Gegend. Aber es gibt keine nennenswerte holzverarbeitende Industrie – bislang sind nur die geschlagenen Stämme exportiert worden. Niemand konnte eine Antwort geben, und ich habe ihnen gesagt, sie wüßten nicht, wieviel Holz sie hier hätten, weil sie sich auf das Kupfer fixiert haben.“
Nur eine Episode? Man kann sagen, daß diese die Menschen fordernde und wohl auch überfordernde Politik nicht genug Zeit gehabt hat; daß sie ihres führenden Geistes beraubt worden ist; daß sie vorerst ein Torso geblieben ist. Aber wie will man denn begründen, daß sie keine Spuren im Denken der Menschen hinterlassen hätte? Keine einzige der großen Erfahrungen, die die serbische Gesellschaft in der jüngsten Vergangenheit gemacht hat, dürfte spurlos versackt sein – nicht der wüste Untergang des alten Staatsverbandes; nicht die nur fadenscheinig verdeckte Teilnahme an den Kriegen; nicht die Flüchtlingsmassen; nicht die Isolierung und zunehmende Pauperisierung Serbiens unter Milosevic; nicht der Schock und die Verletzung der Nato-Bombardements; nicht die Entmachtung Milosevics; nicht der Wiedereintritt in die Staatengemeinschaft und die beginnende Normalisierung unter Djindjic. Alles dies drängt sich auf engstem Zeitraum zusammen, und alles ist noch voll präsent. Das ist kaum eine Gesellschaft, die jetzt wieder in ihre verschlissenen Mythen abtauchen könnte. Wer wäre in der Lage, diese Überfülle von frischer, traumatischer Zeitgeschichte zu kontrollieren – die Akademie etwa oder die Kirche oder gar einer der politischen Unternehmer der Rechten? Sie können alle nur das eine oder andere willkürlich herausreißen und es als den Schlüssel zum Verständnis der Lage verkaufen – das vermeintliche Unrecht der Nato-Angriffe; die vermeintliche politische Voreingenommenheit des Haager Tribunals; die vermeintliche Schuldlosigkeit der Kosovo-Serben. Der von Zoran Djindjic gewiesene Weg ist objektiv alternativlos. Er ist alternativlos vernünftig. Wieso sollte ausgerechnet Serbien, das so leidvoll spät auf ihn eingeschwenkt ist, ihn jetzt schon wieder verlassen wollen? Die pessimistische Diagnose muß umgekehrt argumentieren: gerade weil Serbien so spät dran ist, bleibt das Land gänzlich unberechenbar – die Unruhen der letzten Woche offenbaren es ja wieder, wird man vielleicht hinzufügen. Logik steht da gegen Logik. Aber den verheerenden Preis für die sinnlose Verspätung zahlt jeder einfache Mensch in Serbien, und er zahlt ihn täglich. Es ist nicht anzunehmen, daß ihm diese Zusammenhänge gänzlich verborgen bleiben.