1.
Unsere Demokratie ist gefährdet. Von außen, aber auch von innen, und die Zerstörungsversuche verschränken sich über nicht immer gleich durchschaute Strategien miteinander. Inzwischen ist es schwierig, sich über die kombinierten, miteinander verzahnten Gefahren noch Illusionen zu machen. Auch für jemanden wie mich, der die letzten drei Jahre im Grunde nur ein Thema hatte: den Vernichtungskrieg Putin-Russlands gegen die Ukraine. Ein Exzess der Gewalt nach außen gegen den Zerfall von Legitimation und Macht im Inneren: in Russland selbst, in der russländischen Föderation und darüber hinaus auch im bisher noch von Russland kontrollierten postsowjetischen Umfeld wie in Georgien oder Kasachstan. Terroristisch gegen die ukrainische Zivilbevölkerung gerichtet, weil militärisch erfolglos. Ökonomisch wie gesellschaftspolitisch selbstzerstörerisch, wie immer deutlicher wird. Ein „Imperialismus“ ohne Imperium also, ein Terrorstaat aus Furcht vor der eigenen Gesellschaft. Woher, bitte, sollte angesichts der Wahnhaftigkeit und der Aussichtslosigkeit dieses Angriffs auf Recht und Freiheit in Europa ein Selbstzweifel am Bestand unserer eigenen Demokratie kommen? Aber keine Ausrede, es war ein zu enger Fokus der Zeitbeobachtung. So etwas lässt sich bestenfalls als fachliche Spezialisierung vertreten. Die Laien, die wir werden wollen, müssen versuchen, keine Dimension des laufenden Epochenbruchs einfach zu verdrängen. Hier im Nachholbedarf ein Blick auf neue und neu entdeckte Literatur.
Wenn es so existentiell wird, fängt man bei sich selbst an. Also bei den Deutschen, und zwar besser nicht schon wieder gleich bei gewissen ostdeutschen Besonderheiten, die sich so aufdringlich dafür anzubieten scheinen. Kurz gesagt: Die politische Leistung liegt vor uns, nicht hinter uns. Die alte Überzeugung, wir hätten „68“ die Bundesrepublik ein für alle Mal von unten durchdemokratisiert, mag noch nicht ganz weg sein – sie ist schließlich unser Stolz und Selbstbild. Aber langsam wirkt sie doch schon etwas nostalgisch. (Bei mir war sie bis gestern noch so fest und robust, dass ich die schon recht frühe Warnung des weltbekannten amerikanischen Osteuropahistorikers Timothy Snyder vor der strategischen Zusammenarbeit des Kreml mit zahllosen, politisch organisierten Putin-Freunden in Deutschland und ganz Europa als bloßen Albtraum abtun zu dürfen glaubte.) Als eine inspirierende Handreichung zu der gebotenen Ernüchterung empfehle ich: Daniel Cohn–Bendit und Claus Leggewie, „Zurück zur Wirklichkeit. Eine politische Freundschaft“, 2025 (Klaus Wagenbach). Die beiden Autoren, die man kaum vorstellen muss, stellen hier ihren politischen Weg als (linksliberale) Demokraten dar: abwechselnd ihre je eigene Jugend („Gegenwärtige Geschichten“); dann ihre Lernprozesse, Entscheidungen, die praktischen Aufgaben, die sie sich gestellt haben („Realitätstests“); schließlich ihre aktuellen Positionen und Forderungen („Zeitdiagnosen“). Bei all seiner Eigenständigkeit, seinem Mut des öffentlichen Wortes und der authentischen Weltkenntnis – auch Claus Leggewie ist in Frankreich und seiner Zeitgeschichte zu Hause: in dem souveränen Zeugnis erkennt sich auch der Zeitgenosse aus der Provinz wieder. Man fühlt sich gepackt, ermutigt und, wie soll ich sagen, anerkannt.
Hier nur zwei eher kurze Zitate, die aber unmissverständlich offenlegen, was für die Autoren politische Verantwortung heißt. Zuerst doch wieder ein Gedanke zur Außenpolitik, dem ich selbst viel verdanke und dem ich mich verpflichtet fühle (bis zur Einseitigkeit eben). Es ist eine gewohnt lässige, gleichsam wegwerfende Bemerkung von Daniel Cohn-Bendit zu seinem bisher vielleicht wichtigsten Beitrag als politischer Denker und Aktivist überhaupt – über den Bosnien-Krieg 1992-1995:
Wir organisierten 1993 eine Veranstaltung zu „25 Jahre 1968“ in Frankfurt, in der das unerhörte Ereignis mit der üblichen Routine abgefeiert wurde. Ich war furchtbar gelangweilt und stellte die Frage an das Podium, warum sie kein Wort zu Bosnien verlören und ob es für Revoluzzer wie sie nicht angebracht wäre, das von den Serben angegriffene Land zu unterstützen. Joschka Fischer schützte seinen Sohn, Jahrgang 1979, vor, als könne er nicht selbst entscheiden, ob er in einen Krieg ziehen will. Oskar Negt bekam Schnappatmung: Ein 68er müsse im Gegenteil gegen jede militärische Intervention auf die Straße gehen. (Daniel Cohn-Bendit/Claus Leggewie, „Zurück zur Wirklichkeit“, S. 66)
Dieser Zwischenruf war in der Substanz ein visionärer Sichtwechsel und hat dann bekanntlich zu einem regelrechten öffentlichen Durchbruch geführt, zu einem grundlegenden politischen Umdenken keineswegs nur bei den Grünen. Auch wenn die spätere Beteiligung der Bundeswehr an der Intervention der NATO in den erneut völkermörderischen Kolonialkrieg Serbiens gegen das Kosovo (1999) – ohne UN-Mandat – das liberale und linke Spektrum in Deutschland bis heute spaltet.
Aber dann eine Stellungnahme der Verfasser zu der laufenden Migrationsdebatte, mit der wir nun endlich zu der Gefährdung unserer rechtstaatlichen Demokratie von innen kommen:
Der Haupteinwand der restriktiven Flüchtlings- und Migrationspolitik gilt dem angeblichen Wirklichkeitsverlust der Befürworter offener Grenzen und einer menschenwürdigen Asylpolitik. Sie müssten, sagt die heiß laufende Polemik, endlich die Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen, die mit Stichworten wie Messerstecher, Sozialbetrug, Schlepper und dergleichen belegt wird. Real ist die starke Belastung durch Einwanderung und Flucht, die wohlsituierte Mittel- und Oberschichten gerne bei den Unterschichten diagnostizieren, jenen „hard working people“, die freigestellte Studienräte wie Björn Höcke, Pleite-Milliardäre wie Donald Trump und Ex-Kommunistinnen wie Sahra Wagenknecht inbrünstig in Schutz nehmen. Der Trump-Adept, der alerte Kapitalmanager und in den US-Senat katapultierte J.D. Vance, hat ihnen in der HILLBILLY ELEGIE eine Schmonzette gewidmet. Für die Hillbillys hat er mittlerweile nur noch Verachtung übrig – sie sollen es ihm gleichtun und gefälligst hart arbeiten.
Das Thema Migration hat Europa wieder einmal im Griff, es weckt politische Leidenschaften, die man sich für die Bekämpfung des Klimawandels und der wachsenden sozialen Ungleichheit wünschen würde. Bis weit in die Ampelparteien hinein reden mittlerweile alle wie die AfD 2015, deren Stimmanteile Friedrich Merz zu halbieren versprach, die sich seither aber verdoppelt haben. Der CDU-Vorsitzende kann von Giogia Meloni lernen, die als Premierministerin die Migration auch nur ein Zehntel einzudämmen vermag. Das ist die Wirklichkeit, die Konservative verdrängen. Dass es eben nicht leicht ist, einen durch die Folgen brutaler Bürgerkriege, massiver Umweltverwüstung und wachsender Zukunftslosigkeit entstandenen Druck zu mildern. Davor die Augen zu verschließen ist die Verleugnung der globalen Wirklichkeit. „Multikulti- Phantasten“ eine Entwicklung in die Schuhe zu schieben, die arabische und asiatische Despoten und vor allem Wladimir Putin zu verantworten haben, ist perfide. (Ebenda, S. 108, 109)
Kein Kommentar. Ich füge nur etwas unfroh an, dass ich selbst für mein Teil zu dem Buch von J.D. Vance seinerzeit eine ganz begeisterte Besprechung veröffentlicht habe. (Wenn die Arbeiter rechts wählen, in: Lettre International, 116, 2017)
2.
Wenn wir uns unserer Verantwortung als einfache Bürger ohne Amt und Mandat stellen möchten, ist eine wertvolle gedankliche Hilfe auch Judith N. Shklar mit ihrer fordernden Theorie der Freiheit. Die ebenfalls auf dem selbstbestimmten Eingreifen des einzelnen Bürgers in die allgemeinen Lebensbedingungen im Staat insistiert. Vorrangig an der Seite der Schwächsten, der Opfer, wie sie auch jede Demokratie und jeder Rechtsstaat in der Welt hervorbringe. Unweigerlich und reichlich. Die Opfer unserer stolzen Verfassungsstaaten müssten aber erst einmal ausgemacht, aus dem Dunkeln, aus ihrer sozialen Unsichtbarkeit herausgeholt werden. Sie seien von falschen, nur selbsterklärten „Opfern“ zu unterscheiden, anzuerkennen, anzuhören, zu verstehen. Empathie, Schutz, Recht für jeden Menschen ganz unten oder außen. Für die Flüchtlinge und Migranten zum Beispiel, wenn man den Ansatz auf das die Politik der neuen deutschen Regierung beziehen will.
Zunächst ein Zitat aus der Einleitung von Judith N. Shklar, „Über Ungerechtigkeit. Erkundungen zu einem moralischen Gefühl“(Berlin 2021, Matthes & Seitz). Das Buch ist zuerst 1990 erschienen (unter dem Titel The Faces of Injustice ) :
Unter passiver Ungerechtigkeit verstehe ich nicht unsere gewohnheitsmäßige Gleichgültigkeit gegen das Elend anderer, sondern ein weitaus begrenzteres und spezifisch staatsbürgerliches Versagen, privaten und öffentlichen Akten der Ungerechtigkeit Einhalt zu gebieten. Die Möglichkeit, dass Bürger präventiv tätig werden, ist in freien Gesellschaften weitaus größer als in von Furcht bestimmten autoritären, weshalb ich sie als einen Aspekt der Verpflichtung von Bürgern konstitutioneller Demokratien behandeln werde. Tatsächlich geht es in diesem Buch, obwohl ich Beispiele aus vielen Orten und Zeiten heranziehen werde, in Wirklichkeit um Amerika – nicht etwa, weil die amerikanische Gesellschaft die ungerechteste wäre, sondern weil ich sie am besten kenne und weil man, wenn man über Ungerechtigkeit schreibt, mit dem Finger ebenso gut auf sein eigenes Land zeigen kann. Zudem ist die Frage, was es eigentlich bedeutet, Staatsbürger zu sein, in Amerika bis auf den heutigen Tag ein stetiger Gesprächsgegenstand gewesen. Als Bürger, werde ich im Folgenden zeigen, sind wir passiv ungerecht, wenn wir Verbrechen nicht anzeigen, beiseite schauen, wo wir Betrügerei und kleinere Diebstähle sehen und schweigend Gesetze akzeptieren, die wir für ungerecht, unklug oder grausam halten.“
„Stetiger Gesprächsgegenstand“ ist hier nicht minimalistisch zu verstehen. Es ist das Understatement von jemandem, der sich der demokratischen Tradition und Kultur seines Landes sicher ist. 2025 hätte die Autorin es nicht mehr so niederschreiben können. Selbst im Umfeld von amerikanischen Spitzenuniversitäten scheint man gegenwärtig möglichst gar nicht mehr über die rassistische Hetze und Gewalt der Regierung gerade gegen die „Letzten“, die Allerschwächsten reden zu zu wollen. Schweigen statt Kommunikation. Aber lieber noch ein Stückchen mehr aus diesem unvergleichlich genauen Text:
Man muss sich klarmachen, dass passive Ungerechtigkeit ein Begriff ist, der sich strikt aus der Vorstellung dessen ergibt, was es heißt, ein Staatsbürger zu sein. Er muss nicht von irgendeiner besonderen Moraltheorie untermauert sein, weder von negativen noch von positiven Spielarten des Utilitarismus, auch nicht von Vertragstheorien oder einer Pflichtenlehre. Alle diese Entwürfe könnten dazu dienen, eine Theorie aktiver republikanischer Bürgerschaft zu entwickeln, die passive Ungerechtigkeit verurteilt. Rein menschliche moralische Konflikte wären für eine solche Theorie außerdem keine Themen. Passive Ungerechtigkeit bezieht sich auf unsere öffentlichen Rollen und ihren politischen Kontext – auf die Tatsache, dass wir Bürger in einer konstitutionellen Demokratie sind. Von Untertanen einer Schreckensherrschaft, sei sie nun modern oder traditionell, kann man vernünftigerweise nicht erwarten, dass sie sich wie Bürger einer freien Republik verhalten. Letztere haben andere Rechte, Verantwortlichkeiten, Möglichkeiten und Erwartungen aneinander. Passive Ungerechtigkeit bezeichnet das Versagen dieser republikanischer Bürger ihre hauptsächlichen Aufgaben wahrzunehmen: nämlich darauf zu achten, dass die Regeln der Gerechtigkeit aufrechterhalten werden, und aktiv jene informellen Beziehungen zu unterstützen, auf denen die republikanische Ordnung beruht und die ihr Ethos vorschreibt. Es sollte ihnen nicht genügen, darauf zu warten, dass staatliche Instanzen einschreiten, wenn ein klar zutage tretendes öffentliches Unrecht begangen worden ist.“ (Hier zitiert nach der Ausgabe des Werkes, Berlin 2021, Matthes & Seitz Verlag, S.14 und S. 69)
Wieder ein Fall von unmittelbarer, für jedermann ohne weiteres nachvollziehbarer Relevanz von „hoher“ Theorie für die Alltagspraxis. („Lebenswelt“ ist ja auch ein Begriff der zeitgenössischen Philosophie.) Was für eine Vorstellung von Freiheit und Demokratie unseren gegenwärtigen Kanzler und Innenminister umtreibt, ist eine andere Frage.
Die große jüdisch-amerikanische Denkerin (1928-1992) war für mich bisher kein Begriff, nicht einmal ein Name. Der amerikanische Rechtsphilosoph Samuel Moyn hat sie aber jetzt auch einem breiteren deutschen Publikum erschlossen und nahegebracht: „Der Liberalismus gegen sich selbst. Intellektuelle im Kalten Krieg und die Entstehung der Gegenwart“, (Berlin 2024, Suhrkamp Verrlag). Die Studie widmet sich dem westlichen „Kalter-Krieg-Liberalismus“ (Isaiah Berlin, Karl Popper, Gertrude Himmelfarb, Hannah Arendt, Lionel Trilling), der danach noch ganz im Zeichen, im Bann der Menschheitskatastrophen des 20.Jahrhunderts bleibt: Weltkrieg, Nationalsozialismus, Stalinismus. Seine Theorie der Freiheit sei noch ganz bestimmt vom Bewusstsein andauernder Bedrohung , der Sorge vor der niemals auszuschließenden Möglichkeit, dass sich alles w i e d e r h o l e n könnte: der „Totalitarismus“ von rechts und links , die uferlose Menschenvernichtung durch hochmoderne Staaten, die über alles verfügen, was sie dazu brauchen. So ziemlich im Alleingang habe Judith N. Shklar diese Blockierung, Rückwärtsgewandtheit, Verengung, Sterilität der zutiefst traumatisierten politischen Philosophie ihrer Zeit erfasst, auseinandergenommen und den Entwurf eines anderen Freiheitsgedankens dagegengestellt: Nicht mehr allein die Unverletzlichkeit des Individuums, die Verteidigung und Rettung des Menschen ist jetzt der leitende Gedanke, sondern weitaus mehr: nämlich die aktive Gestaltung des Gemeinwesens durch seine Bürger. Im Interesse von mehr Anstand, von mehr Gerechtigkeit, von mehr Menschlichkeit für alle. (Ich benutze hier den Konjunktiv, nicht weil ich es besser wüsste, sondern weil ich dem Werk Judith N. Shklars gegenüber erst am Anfang stehe. Bei aller Anleitung – etwa durch den erhellenden Aufsatzband „Judith N. Shklar, Der Liberalismus der Furcht“, Berlin, dritte Auflage 2020, Matthes & Seitz Verlag. Für unsereins wäre es auch nicht schlecht, wenn das klassische Buch der Denkerin – After Utopia.The Decline of Political Faith, zuerst erschienen 1957 – langsam mal ins Deutsche übersetzt werden könnte.)
3.
Wir bleiben in Amerika. Aber nicht mehr in dem von Judith N. Shklar, sondern in einem Amerika auf dem Weg zur Diktatur – wenn auch eine mit der alten amerikanischen Demokratie „am Hals“. Wieder bei den „Hillbillys“, diesmal in Ostkentucky (aber nicht mehr verführt vom beschwörenden biographischen Zeugnis eines machtgeilen Trumpisten aus dieser sozialen Welt, der sie verrät, als er oben ist). Wir halten uns an ein Stück herausragender wissenschaftlicher Literatur: Arli Russel Hochschild, „Geraubter Stolz. Verlust, Scham und der Aufstieg der Rechten“, 2025 (Hamburger Edition Verlag).
Mit der Verantwortung des einzelnen Bürgers sehen wir uns hier radikal anders konfrontiert.Nicht mehr mit der vergessenen; nur schwach und kränkelnd ausgebildeten; wenn überhaupt jemals im Herzen von so vielen Bürgern geborenen, dass es einen Unterschied macht. Hier sehen sich die Bürger nicht dazu aufgerufen, sich auch persönlich einzumischen und für den Zustand der Gesellschaft im Großen und Ganzen mitverantwortlich zu fühlen, in der sie nun einmal leben. Hier ist jetzt vielmehr von Bürgern die Rede, die – gewissermaßen andersherum – ihre persönliche Verantwortung für sich selbst und ihre Familien dermaßen absolut setzen, das sie die Abhängigkeit ihres Existenzkampfes von übergeordneten, oft globalen wirtschaftlichen Prozessen – jenseits aller persönlichen Kontrolle – niemals anerkennen würden. Eine so verstandene, widerständige, eisern selbstbezogene, blind tapfere Version von Verantwortungsbewusstsein kann den betreffenden Menschen – meist Mann, weißer Mann – auch in einen Abgrund hineinziehen. Die Autorin führt diese Sichtweise auf ein Stolzparadox zurück, in dem sich das halbe Land anscheinend hoffnungslos verfängt: vor allem die Bevölkerung in den republikanisch beherrschten Bundesstaaten der USA:
Die größte Bedeutung als Grundlage für Stolz besitzt unsere Nähe zum amerikanischen Traum. Dieser Begriff, den der Autor und Historiker James Truslow Adams 1931 prägte, beinhaltet die Vorstellung von einem Leben in der Mittelschicht – einem sicheren Arbeitsplatz, einem Haus, einem Auto – und die Vorstellung, sich hochzuarbeiten und mehr zu verdienen als der eigene Vater.
Dieser Traum beinhaltet jedoch ein verstecktes Paradox, das unterschiedliche kulturelle Welten schafft – eine Welt republikanischer Bundesstaaten mit geringeren Chancen und strikteren Erwartungen und eine Welt demokratischer Bundesstaaten mit besseren Chancen und weniger strikten Erwartungen. In der Welt der republikanischen Bundesstaaten sind diejenigen, die den amerikanischen Traum nicht erreichen können, anfällig für Scham, wie wir sehen werden…
Aber zunächst zu dem Paradox selbst. Es besteht aus zwei Teilen: aus dem Vorhandensein wirtschaftlicher Chancen in der eigenen Region und aus den eigenen kulturellen Überzeugungen über die Verantwortung, sie zu nutzen. Etwa ab 1970 entwickelte sich in den USA eine Spaltung zwischen zwei Wirtschaften – die der Gewinner und die der Verlierer der Globalisierung. Zunehmende Chancen boten wirtschaftlich diversifizierte Städte und Regionen, oftmals Standorte neuerer, weniger anfälliger Industrien, die typischerweise Arbeitskräfte mit College-Abschluss in Dienstleistungs- und Tech-Branchen. Abnehmende Chancen gab es in ländlichen und halbländlichen Gegenden mit Arbeitsplätzen für Arbeiter in älteren Fertigungsindustrien, die anfälliger für Verlagerung ins Ausland und für Automatisierung waren. Dazu gehören auch Regionen mit Arbeitsplätzen in der Förderung von Öl, Kohle und anderen Mineralien, bei denen die Nachfrage von den Schwankungen am Weltmarkt abhängt. Die urbane Mittelschicht, die zu den Demokraten tendiert, entwickelte sich zu einem sogenannten Mobilitätsinkubator, während viele ländliche, von Arbeitern dominierte Gegenden, die nun zu den Republikanern tendierten, zu Mobilitätsfallen wurden….
Der zweite Teil des Paradoxes liegt in Kernvorstellungen über harte Arbeit und die individuelle Verantwortung für die eigenen wirtschaftlichen Geschicke. Bei den meisten von uns sind die Ansichten des amerikanischen Traums mit einer Vorstellung von Individualismus verknüpft. Das ist der grundlegende Glaube an das, was der Soziologe Max Weber als protestantische Ethik bezeichnet und als Triebkraft des Kapitalismus einstufte. Harte Arbeit geht mit der Vorstellung von individueller Verantwortung einher. Wenn du erfolgreich bist, rechne es dir voll an. Wenn du scheiterst, bist du ebenfalls allein dafür verantwortlich…Mehr Republikaner als Demokraten halten an der uralten protestantischen Ethik fest, so schwer die Mitglieder beider Parteien auch arbeiten mögen…
Unbewußt setzen Republikaner also härtere Bedingungen für verdienten Stolz an, obwohl sie damit zu kämpfen haben, in den am härtesten getroffenen Regionen- die anfälliger für Werkschließungen und Lohnkürzungen sind – ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Demokraten führe ihre bessere Lage mit größerer Wahrscheinlichkeit auf „allgemeine Umstände“ zurück…Besonders bei den Republikanern war der individuelle amerikanische Traum mit dem der Unternehmen verknüpft – mit dem Traum größerer Aktionärsgewinne. Über weite Teile des 20.Jahrhunderts funktionierte diese Verknüpfung recht gut. Aber ab den 70er Jahren gerieten diese beiden Träume zunehmend in Konflikt…“ (Arlie Russel Hochschild, a.a.O., S.40 ff.)
Schon diese erste, noch summarische Skizze des bitteren, um nicht zu sagen, tragischen Dramas, das Amerika politisch zerreißt, lässt mich erahnen, dass mein bisheriges Bild von dieser Situation eine Verharmlosung gewesen ist. Brauchte Donald Trump für seinen Aufstieg und seine zweifache Wahl an die Macht im Staat denn überhaupt die vielen Kulturkämpfe – gegen die Frauen, gegen die Schwarzen, gegen die anderen Farbigen, gegen die Immigranten, gegen die gleichgeschlechtlichen Eheschlüsse, um die Arbeiter, wie ich es unterstellte, zu vernebeln und davon abzulenken, dass er eine Politik gegen sie und ihre eigentlichen Interessen machen würde? Es spukte da wohl noch so etwas wie ein Schatten des ewig zumindest ein bisschen klassenbewussten „Proletariats“ in meinem Kopf herum. Aber es sind ja doch Arbeiter, die – in den Worten von Hochschild – an eben jenen „ungezügelten Kapitalismus“ glauben, der „den Menschen das Leben schwer macht“: „ohne staatliche Unterstützung oder Regulierung“. Und ohne Gewerkschaften, die sie vielleicht nicht einmal mehr vermissen. Aber die Forscherin, eine emeritierte Soziologieprofessorin an der University of California, Berkeley, will näher an dieses spezifische Szenarium heran:
Meine Fragen erwuchsen aus einer Reihe von Vermutungen, die ich aus meiner früheren Forschungsarbeit zu rechtsgerichteten Einwohnerinnen von Louisiana in den Jahren vor der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten 2016 durchgeführt hatte. ( „Fremd in ihrem Land. Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten“, Frankfurt, New York, 2017, Campus Verlag, E.K.) Ich ging von der Annahme aus, dass dem Reiz politischer Kandidaten fast immer Emotionen zugrunde liegen. Ein Mann erklärte mir. „Das Erste, was ein politischer Führer anspricht, ist Angst, dann Leid, dann Stolz, dann Scham, vor allem unberechtigte Scham.“
Bevor ich fortfahre, möchte ich einige Prämissen umreißen, da sie den Hintergrund dieser Geschichte bilden. Stolz und Scham signalisieren die Verbindungsstelle zwischen Identität, die wir in der Welt repräsentieren, und der Reaktion der Welt auf unsere Identität. Stolz fungiert sozusagen als emotionale „Haut des Selbst“, er signalisiert, wann unsere Identität sicher ist, akzeptiert und bewundert wird und wann wir Gefahr laufen, Zurückweisung zu erfahren. Er ist unsere innere Reaktion auf unser äußeres Erscheinungsbild. Auch Scham fühlt sich an wie eine „Haut“, die wir ablegen wollen. Wir alle verspüren den Wunsch nach Stolz und die Furcht vor Scham…Zusammen mit Stolz und Scham erleben wir sekundäre Einstellungen zu diesen Gefühlen. Wenn man mich beschämt, verdiene ich es, mich zu schämen? Oder verdiene ich es, stolz zu sein? Auf welcher Grundlage? Über solche Gründe gibt es zwar gewisse Streitigkeiten, aber im Grunde – wenn die Gesellschaft zusammenhält- leben wir in einer nationalen Stolzökonomie. In meiner Studie zum Petrochemiegürtel um Lake Charles in Louisiana hatte ich einen gewissen trotzigen Stolz entdeckt, daher konnte ich Vermutungen über eine größere, ähnlich wählende Region im nach rechts tendierenden Süden anstellen…Als Kindern wird uns ein Platz in der materiellen Wirtschaft zugewiesen, in der wir unseren Weg machen. Das Gleiche gilt für unseren Platz in der Stolzökonomie. Wir werden in die Region, eine Gesellschaftsschicht, eine r a c e, eine Genderidentität hineingeboren – und sie alle erhöhen oder senken unseren Wert in der größeren Stolzökonomie…So hat die Kohleregion Appalachia, einst die Hauptquelle von Strom in den USA, einen Niedergang erlebt. Stolz auf den Beruf des Bergarbeiters und auf die moralische Stärke und die Kenntnisse, die er erfordert, und der Stolz, zu einer für die Nation so bedeutenden Region zu gehören – all das hat sich verändert. – In der Folge fühlten sich viele, die ich kennenlernte, gesellschaftlich angegriffen, weil sie einen Verlust an „strukturellem“ oder „übertragenen“ Stolz erlitten hatten. Die meisten Menschen sind Träger des Stolzes oder der Scham einer größeren Einheit – einer Region, einer Nation, einer Football-Mannschaft, einer Familie -, deren Stellung in der Stolzökonomie sich ihrer Kontrolle entzieht (also strukturell ist).…(A.a.O., S. 36 f.)
„Wir“, sagt Arlie Russel Hochschild hier überall: Wir Menschen. Wir Amerikaner einbezogen, samt unseren nicht untypischen Eigenheiten in Habitus, Denken, Lebensführung natürlich. Ein generöser, universeller, sozusagen anthropologischer Tonfall, der eingeholt und eingelöst werden will. Als die Forscherin dann ernstmacht und von Berkeley tatsächlich nach Pikeville, eine ländliche Kleinstadt in Ostkentucky, umzieht, dann gleich für mehrere Jahre. Eine methodische Grundentscheidung: Wie hätte es auch anders erreicht werden können, dass es im gesamten Text keinerlei Gefälle zwischen der Fragestellerin und den von ihr Befragten gibt. Es gibt nur gleiche Augenhöhe, gute Manieren, abwartende, geduldige Suche nach Kontakten, besser Begegnungen, auch immer wieder mit dem gleichen Menschen. Neben dichten, instruktiven Informationen zum jeweiligen gesellschaftlichen Kontext kommen in dem Buch nur unverwechselbare Menschen vor. Keine Forschungsklientel, kein Menschenmaterial, nur Persönlichkeiten, die man – wie auch sonst im Leben – nur mit der Zeit kennenlernen kann. Mit Glück und auch nur, wenn die entdeckten Gesprächspartner es selber wollen. Und eines schönen Tages aus sich herausgehen und vielleicht etwas sehr Intimes, sehr Schmerzliches über sich preisgeben.
Auch wenn die meisten von ihnen Trump gewählt haben, dazu auch stehen und – allen längst breit veröffentlichten Fakten zum Trotz – an der Lüge festhalten, 2020 sei ihm die Wahl „gestohlen“ worden.
Die Studie zerfällt in drei Teile: Ankunft in Pikeville, erste Gespräche mit führenden Leuten und Honoratioren aus Verwaltung und Kulturleben des Provinznests (mit Universität), das sich in dem Moment gerade mit dem Antrag aus Neonazi-Kreisen auf die amtliche Genehmigung eines Marsches mitten durch die Stadt konfrontiert sieht. („Der Protestmarsch“). Und vor eine schwierige Entscheidung gestellt: Pikeville steht hinter Trump, und zwar ohne Schwanken und Zweifel, aber keiner der Verantwortlichen will diese militante Demonstration. Sie kennen ihre Bürger, man sieht sich als konservativ, man will keinen öffentlichen Auftritt des brutalen amerikanischen Rassismus – alt oder neu – in seiner Stadt, auf die man schon immer stolz war. Und die Extremisten werden zudem bewaffnet sein, wie hier nicht anders zu erwarten. Sie erhalten die Erlaubnis. Die Verfassung garantiert ihnen die Meinungsfreiheit. Sie werden aber zwischen lückenlos aufgetürmten Barrikaden beiderseits der Straße marschieren müssen. Was für die Krawallmacher selbst – unwillkommen, aber zugelassen; in ihrem Recht respektiert, aber durchgreifend gezähmt – eher eine Demütigung werden dürfte denn die nassforsche Propagandaschau, die sie wollten. Es passiert dann auch nichts.
Schon gleich bei der Eröffnung einer Studie über die neue Rechte in den USA also das Bild einer Kleinstadt mit nicht einmal 10 000 Bewohnern, die sich politisch zu behaupten weiß. Die Unvoreingenommenheit und Fairness der Darstellung ist nicht so selbstverständlich. Oder wäre die Geschichte bei uns vermutlich nicht ein wenig anders erzählt worden? Ganz abgesehen davon, dass es sie gar nicht gäbe – der Marsch wäre verboten worden, auch ohne die Waffen in diesen Händen. Aber hätten unsere Medien ihn nicht auch eher als ein Symptom der Dunkelheit gewertet, hochgestuft, die uns längst überflutet?
Was dann folgt, ist große Dokumentarprosa: eine Reihe von individuellen Schicksalen, gescheiterten Existenzen, die sich der Forscherin irgendwann einmal offenbaren. Kleine Leute, die es wagen, der ausgewiesenen, vertrauenswürdigen, noblen Besucherin gegenüber rückhaltlos offen zu sprechen: über alles – über ihre höchst realen Verluste auf dem Arbeitsmarkt; über ihre so imaginäre wie als schlagend, als kaum erträglich empfundene Beschämung; über ihr Ringen um irgendein Gleichgewicht, und sei es mit Hilfe von Drogen („Gesichter in der Menge“). Einer dieser Männer sitzt im Gefängnis und versteift sich unerreichbar auf seinen Ersatzstolz als Krimineller, Gesetzloser ohne Skrupel und Reue. Aber dann fangen sie sich auch wieder (letzterer nicht gerade) – sonst wären sie ja auch gar nicht mehr da und könnten kein Zeugnis mehr ablegen für ihr Elend und ihre Rettung – und schaffen sich eine neue Perspektive und Existenz. Wie Tommy Ratcliff:
Als Tommy in die Entzugsklinik kam, saß er vor einer freundlichen Angestellten, die für die Aufnahme zuständig war und ihm Fragen zu seinem Leben stellte. „Sie fragte mich, ob meine Eltern tranken und ob sie Alkoholiker waren. Ich sagte ihr, dass beide es waren, und sie sagte: ‚Das ist nicht Ihre Schuld.‘ Ich weinte.“
Am dritten Tag seiner Entziehungskur ging Tommy nach draußen und setzte sich auf einen Gartenstuhl. „Ich ließ den Kopf hängen und starrte auf den Boden zwischen meinen Beinen. Plötzlich bemerkte ich eine Ameisenstraße. Jede Ameise trug eine winzige Ladung – einen Krümel, ein Blattstück, ein bisschen Erde. Dann sah ich es: Eine Ameise trug eine andere, die genauso groß war wie sie selbst, Die tote Ameise war nutzlos, trug ihren Teil nicht bei, war eine Last, statt eine Last zu tragen. Ich dachte: ‚Siehst du diese tote Ameise? Genau das bin ich. Ich könnte die Transportameise sein. I c h w i l l n i c h t d i e s e g e t r a g e n e A m e i s e s e i n . Das war einer der großartigsten Augenblicke meines Lebens. Diese Transportameise holte mich zurück.“
Tommy Ratcliff wird später dann beruflich als Therapeut andere Drogenabhängige betreuen, jetzt, wie so sehnsüchtig erhofft, „Transportameise“, Staatsbürger im Sinne von Judith N. Shklar.
Zum Schluss bekommen wir dann eine Analyse des Demagogen und seiner Methode, seines Erfolgsrezepts, wie man sie sonst kaum irgendwo lesen kann. („Donnergrollen“). Das Verfahren besteht darin, die Angespanntheit, die Verstörtheit, die Wut von Millionen von Amerikanern nachzuäffen, verzerrt zu spiegeln, in das täuschend ikonische, zum paradigmatischen Abbild und Inbegriff der nationalen Wirklichkeit aufgemotzte Höllentheater des Donald Trump zu verwandeln. Mit ihm selbst nacheinander in allen Rollen: der des Opfers von unverdienter Beschämung, des Helden von Protest und Widerstand auch vor Gericht, des Rächers für die erlittene Ungerechtigkeit hinterher. Unaufhörlich, immer wieder die gleiche Abfolge , das gleiche „Ritual“, seit anderthalb Jahrzehnten.