Von der Zurückhaltung zur Verantwortungslosigkeit – was aus der Realpolitik werden kann

(Vortrag, 2015)

Auch eine Außenpolitik der Vorsicht und der Zurückhaltung hat ihre Kosten. Und sie können unerträglich sein – für andere. In drei Schritten: zuerst deute ich an, wo mir selbst die dunkle, entsetzliche Seite des durchaus überlegten, rational begründeten Verzichts auf massive politische oder gar militärische Intervention zum ersten Mal aufgegangen ist – nämlich am Schicksal Bosniens in den jugoslawischen Zerfallskriegen der 1990er Jahre. Wer könnte mehr Verständnis für außenpolitische Mäßigung, Selbstbegrenzung, für die möglichste Vermeidung von anmaßenden, ungedeckten Großmachtambitionen haben als wir Deutschen vor dem Hintergrund unserer Geschichte?  Das wäre mein zweiter Punkt – ein Blick auf die deutsche Außenpolitik nach 1990 und ihre inzwischen vielfach hinterfragte und auch international kritisierte Tendenz zur Selbstentlastung, künstlichen Selbstverkleinerung, Drückebergerei. Abschließend streife ich noch die Politik der Obama-Administration im Nahen und Mittleren Osten. Ich stelle sie in den Kontext jenes Rückzugs aus der Rolle eines „Weltpolizisten“ oder „wohlwollenden Hegemon“, für den Präsident Obama erklärtermaßen steht.

1.
Das Lehrstück: die britische Bosnienpolitik 1992-1995

Den Gedanken, den ich hier zur Diskussion stellen möchte, verdanke ich dem Buch des Historikers Brendan Simms über die britische Bosnien-Politik
in den 1990er Jahren: Unfinest Hour. Britain and the Destruction of Bosnia (London 2002,Penguin Books).  Der Superlativ im Titel besagt: „unfinest“ seit „1938“ – seit dem britischen Appeasement gegenüber Hitler.  Simms bietet
eine schonungslose Analyse des britischen Parts im europäisch-amerikanischen
Krisenmanagement der blutigen Zerschlagung Jugoslawiens gegenüber. Es war der führende, strategisch maßgebliche  Part – bis in den Sommer 1995 hinein, als die bosnisch-serbischen Truppen ihren Genozid bei Srebrenica verübten. Das war der Zeitpunkt, da sich die britische Führungsrolle endlich beiseitegeschoben und abgeräumt sah, und die Amerikaner den Vernichtungskrieg gegen die bosnische Zivilbevölkerung abgebrochen haben. Das britisch dominierte Krisenmanagement im zerfallenden Jugoslawien bestand im Wesentlichen aus einem jahrelangen Gewähren lassen des in Belgrad unter der Führung von Slobodan Milosevic erdachten und mit allen Mitteln umgesetzten Versuches, aus dem untergehenden oder besser: systematisch zersprengten multinationalen Staatsverband für Serbien ein „Großserbien“ herauszuholen. Und dieses Laissez faire einer chauvinistischen Aggression gegenüber, die sich über Massenvertreibungen und schon gleich von 1992 an auch über genozidartige Massenmorde an der bosnisch-muslimischen Bevölkerung verwirklichte, fand seine Legitimation in der verlogenen Umdeutung der realen Vorgänge in einen „Bürgerkrieg“ aller gegen alle. Für London waren es angeblich immer die verschiedenen Parteien in Bosnien-Herzegowina selbst – also die bosnischen Serben, Kroaten und Muslime, die da gegeneinander kämpften und die ihren Krieg daher logischerweise auch nur selber beenden könnten. Und alle diese Parteien waren gleich – egal ob es sich um die international anerkannte, multiethnisch zusammengesetzte,  bosnjakische Regierung in Sarajevo handelte oder um von Belgrad unterstützte, finanzierte, bewaffnete bosnisch-serbische Aufständische.  Die jahrelang betriebene, öffentliche Verfälschung eines staatlichen Angriffskrieges – eines Krieges seitens des postjugoslawischen Teilstaates Serbien gegen den Rest: zuerst erfolglos gegen Slowenien, dann erfolgreich über die dortigen serbischen Minderheiten gegen Kroatien und gegen Bosnien – zu einem interethnischen Hexenkessel und Bürgerkrieg erlaubte es der britischen Regierung und den anderen maßgeblichen europäischen Regierungen, ihre Verantwortung kleinzuschreiben. Sie hinter dem resignierten Lamento zu verstecken: was kann man da von außen schon machen?

Dieses Bild vom Versagen Europas beim Untergang Jugoslawiens kann inzwischen als historiografischer Standard gelten. Immer noch erfrischend originell und in unserem Zusammenhang auch von besonderem Interesse ist aber, was Brendan Simms über die Macher der britischen Außenpolitik dieser Jahre zu sagen hat – vor allem über Douglas Hurd, den Außenminister selbst. Sie stellen für diesen Historiker trotz allem – ungeachtet der konkreten Auswirkungen ihrer politischen Entscheidungen auf dem Balkan –  keine abgehobene, verhärtete, eiskalte politische Elite dar, der das unermessliche Leid der Zivilbevölkerung in Kroatien und Bosnien letztlich gleichgültig geblieben wäre. Simms verbietet es sich, die Sensibilität oder Empathie der verantwortlichen Leute in der britischen Regierung anzuzweifeln. Er beschränkt sich ausdrücklich auf ihre Urteilsfähigkeit, die schlecht genug wegkommt, aber nicht unfair und moralisierend heruntergemacht wird. Hier eine charakteristische Passage:  „Es ist kein Zufall, dass die prägenden Jahre vieler der britischen Protagonisten – ganz bestimmt die von Douglas Hurd (Jg. 1930) – im Schatten des Suez-Debakels und des amerikanischen Dilemmas in Vietnam
standen. Im ersten Fall waren sie tief erschrocken vom Resultat eines ebenso grandiosen wie vergeblichen Machtgebarens, das die realen Fähigkeiten der britischen Macht überschritt und das Land in einen Konflikt mit dem engsten Verbündeten führte, den es hatte: mit den Vereinigten Staaten. Vietnam, auf der anderen Seite, enthüllte die Kosten eines ideologischen Kreuzzuges, der sich mit den lokalen Realitäten konfrontiert sah. Was Bosnien anging, so war die Befürchtung, dass ein Druck Richtung Intervention Unruhen zu Hause provozieren könnte – in dem Moment, da hier die Leichensäcke ankämen. Viel besser und auch humaner, so das Argument, sei es da doch, die Grenzen der
britischen Macht – und der internationalen Gemeinschaft insgesamt – anzuerkennen, zu helfen, wo man konnte, aber allen Hoffnungen seitens der Bosnier eine unmissverständliche Abfuhr zu erteilen, Großbritannien könne
Frieden und Gerechtigkeit durchsetzen helfen (peace with justice).“

Das ist der Denkanstoß, dem ich folgen möchte. Es ist eine produktive Verbindung: ungeschönte Aufarbeitung einer verfehlten Politik der Nichtintervention, aber auch vorurteilslose Suche nach dem Entstehungskontext dieser Politik, nach den Erfahrungen, nach dem Selbstverständnis, nach dem Weltbild dahinter. Der Kritiker einer konkreten Außenpolitik – wie der deutschen, der ich mich jetzt zuwende – kommt nicht ohne Rückgriff auf die politische Geistesgeschichte aus, wenn ich es einmal so nennen darf.

2.
„Vormacht wider Willen“ – über die deutsche Außenpolitik seit 1990

Das wäre also das Beispiel eines Staates, der sich von der Ernüchterung über seinen real geschrumpften Rang und Stellenwert in der internationalen Politik auf ein folgenschweres Nichthandeln zurücknimmt, das ein ganzes Land – Bosnien –  dem Ruin preisgibt. Die deutsche Spielart jener Unschärfe oder Grauzone von politischer Zurückhaltung und politischer Verantwortungslosigkeit, die einer demokratischen Öffentlichkeit immer ihre ganze Präsenz abverlangt, ist anders gelagert. Die Zurückhaltung war hier die conditio sine qua non für den Wiederaufstieg Westdeutschlands nach NS-Zeit und Zweitem Weltkrieg und für die Integration unseres Landes in die Nato und das europäische Staatensystem. Das ist eine Binsenweisheit der europäischen Zeitgeschichte. Die Neigung zur Verantwortungslosigkeit, die wir uns in dieser unbestreitbaren Erfolgsgeschichte  antrainiert haben, liegt weniger klar zu Tage. Sie ist eine gern verdrängte, wenn überhaupt begriffene,  ernste politische Hypothek, die auf uns lastet und die uns in den Augen unserer Bündnispartner zu notorisch unsicheren Kandidaten macht.

Man kann vielleicht sagen: Weil die politische Macht im Fall der Bundesrepublik verdeckt und versteckt bleibt, bleibt es auch die politische Verantwortungslosigkeit. Die amerikanischen Autoren Andrei S. Markovits und Simon Reich haben die spezifisch deutsche Situation in einem klassischen Buch über „Das deutsche Dilemma“ schon vor mehr als anderthalb Jahrzehnten gut getroffen – Untertitel: „Die Berliner Republik zwischen Macht und Machtverzicht“ (Berlin 1998). Hier eine Kostprobe: „Deutschland wollte immer  mehr – mehr Land, mehr Bodenschätze, mehr Nahrungsmittel. In jüngster Zeit stehen wir jedoch einer völlig neuen Situation gegenüber: Die Bundesrepublik übt weit mehr Macht aus, als sie eigentlich will. Sie verfügt über Möglichkeiten der Machtausübung, die sie am liebsten gar nicht hätte. Deutsche Macht tritt heute nicht in Form von Panzern und Kanonen auf. Es handelt sich auch nicht um Macht, die aus zweckgerichteter Absicht entstanden ist, und ebenso wenig um die Fähigkeit, andere dahin zu bringen, das zu tun, was man selber möchte. Deutschlands Macht liegt vielmehr in dem Vermögen, Prioritäten setzen und die Handlungsalternativen seiner Nachbarn begrenzen zu können…Die strukturelle Macht der Bundesrepublik beruht vor allem auf der Größe und Stärke ihrer Wirtschaft. Sie äußert  sich auch im diplomatischen Einfluss der Deutschen in mulilateralen Organisationen und in ihrer Fähigkeit zu unabhängigem Handeln. In den letzten 50 Jahren hat die Bundesrepublik es jedoch vorgezogen, keine Alleingänge zu machen, sondern als vollendeter Mannschaftsspieler aufzutreten – als vorbildlicher Europäer.“ Soweit die Zurückhaltung. Und jetzt zur Verantwortungslosigkeit: “Die Bürger  und wohl auch die meisten Politiker sind davon überzeugt, dass Deutschland weder eine Großmacht ist noch werden sollte, und folglich wollen sie auch keine internationale Verantwortung übernehmen. Zwar hat der Bundestag im Dezember 1995 beschlossen, Friedenstruppen nach Bosnien zu entsenden, aber der heftige Widerstand gegen diese Entscheidung…zeigt, dass die neue Rolle ihres Landes viele Bürger mit Unbehagen erfüllt.“ Seitdem ist bekanntlich viel passiert. An der Bombardierung Belgrads und Serbiens durch die Nato im Krieg um das Kosovo 1999 waren auch deutsche Flugzeuge beteiligt. Am Afghanistaneinsatz waren über mehr als ein Jahrzehnt deutsche Soldaten beteiligt, um nur diese beiden militärischen Interventionen zu nennen. Aber wäre damit die Diagnose von der deutschen „Ideologie der Kleinheit“ , von der verleugneten, leisetreterischen Macht und der gern in Anspruch genommenen weltpolitischen Unverantwortlichkeit schon überholt und erledigt?

Man darf hier an die geradezu paradigmatische deutsche Enthaltung im Fall Libyen 2011 erinnern, die Deutschland bis heute nachhängt und es zeichnet – zeichnet im Sinne von herabsetzt. Und es gibt einen laufenden Testfall vor jedermanns Augen: die deutsche Antwort auf die russische Annexion der Krim und auf den Krieg Russlands in der Ostukraine. Der Regensburger Politikwissenschaftler Stephan Bierling charakterisiert in seinem jüngsten Buch über die  deutsche Außenpolitik von der  Wiedervereinigung bis heute (Vormacht wider Willen, München 2014)  die Ukraine-Politik der deutschen Regierung wie folgt: „Die Ukraine-Krise verdeutlichte beispielhaft die Stärken und Schwächen der deutschen Außenpolitik unter Merkel. Sie war abgewogen, multilateral, deeskalierend, die Kanzlerin agierte besonnen und kompromissbereit und erwies sich wie schon früher als versierte Vermittlerin. Aber die Berliner Politik war mehr am Prozess und an Symbolik denn an Substanz orientiert, den richtigen Worten folgten nicht immer Taten. Innen- und wirtschaftspolitische Überlegungen dominierten, strategische und bündnispolitische Fragen schienen bisweilen ein Nachgedanke zu sein. ‚Führen’ hieß für die Bundesregierung ‚moderieren’, nicht inhaltliche Impulse geben. Ob dies ausreicht, das verringerte Engagement der USA in der Alten Welt zu kompensieren und die EU zu einem ernstzunehmenden Akteur im Ringen mit Putin um die Zukunft Osteuropas zu machen, bleibt eine offene Frage.“
In der monumentalen politischen Biografie Helmut Kohls von Hans-Peter Schwarz (Pantheon Ausgabe 2014)  kann man nachzulesen, mit welchem ungebrochenen Optimismus und mit welchem wie selbstverständlichen Gestaltungsanspruch der „Kanzler der Einheit“ nach dem großen, glücklichen Umbruch „zwischen den neuen Demokratien von Estland über Polen bis Ungarn und Bulgarien einerseits und Russland andererseits an Kompromisslösungen für die Sicherheitssysteme“ arbeitet –  „ohne die Ukraine ganz zu vergessen“. Jetzt ist auf einmal alles anders. Die Perspektive einer weitgespannten deutschen Vermittlungspolitik Osteuropa und Russland gegenüber  – als Fortführung der alten, authentischen, konstruktiven bundesdeutschen Europafreundlichkeit nach Osten –  hat sich als illusionär entpuppt. Es ist ein verstörender Verlust an politischer Orientierung, den wir alle empfinden. Das macht die unentwegte, eigenartig repetitive, inhaltsleere Dialogbereitschaft Angela Merkels gegenüber Wladimir Putin verständlicher. Und auch die Hilflosigkeit ihres Außenministers, der immer noch so wirkt, als könne und wolle er einfach nicht glauben, was er sieht.

3.
Amerika ohne politische Strategie im Nahen und Mittlern Osten

Die dritte und letzte Ausformung zeitgenössischer Realpolitik, die ich in meiner kleinen Typologie ansprechen möchte, beginnt wiederum mit der Distanzierung von machtpolitischer Hybris und nationaler Selbstüberhebung und landet dann bei der untätigen Hinnahme von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In diesem Fall – dem der USA unter Präsident Obama – hat  buchstäblich die ganze Welt die neue  Besonnenheit und pragmatische Selbstbescheidung der Weltmacht erleichtert begrüßt, während  die Zuschauerrolle Amerikas in der syrischen Menschheitskatastrophe seit 2011 bislang schweigend hingenommen wird. Es sagt einiges über die Weltöffentlichkeit und ihre Reaktionsvermögen aus, dass der Irakkrieg George W. Bushs massive weltweite Proteste hervorgerufen hat – das Nichthandeln Amerikas unter Clinton in Ruanda 1994 und unter Obama heute in Syrien hingegen kaum einen Muckser. Amerika sieht sich nur angegriffen, wenn es zuviel interveniert – nicht hingegen, wenn es zu handeln versäumt, mit welchen verheerenden Folgen auch immer. Von den jeweiligen Opfern und Leidtragenden der beiden Politiken her betrachtet, ist das eine gänzlich inakzeptable Schlagseite und Voreingenommenheit in der globalen Wahrnehmung Amerikas. Ironischerweise blieb es Samantha Power, der Botschafterin Obamas bei den Vereinten Nationen, vorbehalten, in einer großen Studie aufzuzeigen, dass Amerika noch niemals in seiner Geschichte einen Völkermord rechtzeitig gestoppt hat. („A Problem From Hell“, New York 2002) Sonst war es nicht groß aufgefallen.

Für eine Gesamtbilanz der Obama-Regierung ist es zu früh. Aber auch wenn man die – nach dem maßlosen imperialen Auftritt des jüngeren Bush – überfällige und unvermeidliche außenpolitischen Korrektur würdigt, muss man so etwas wie eine Gegenrechnung aufmachen. So ist die Außenpolitik Obamas von Anfang an einer strategischen Linie des vorschnellen, um nicht zu sagen; bedenkenlosen militärischen Disengagements gefolgt – wie sie innenpolitisch, in einem kriegsmüden und zudem politisch tief gespaltenen Land opportun war, aber den realen Verhältnissen vor Ort im Irak und dann in Afghanistan in keiner Weise entsprach. Was diese Art von Rückzug für Afghanistan bedeutet, bleibt abzuwarten. Im Irak liegen die Folgen schon offen zu Tage. Obama kann sich gewiss zugute halten, dass er den Irakkrieg seines Vorgängers immer für verfehlt gehalten und strikt abgelehnt hat. Aber er hat auch die zur Stabilisierung des Irak dringlich gebotene sogenannte Surge-Strategie abgelehnt, die Bush am Ende seiner Amtszeit im mutigen Alleingang und gegen seinen ebenso autoritären wie unfähigen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld im letzten Moment verfügt hat. (Stephan Bierling, Geschichte des Irakkriegs, München 2010). Die eigene Irakpolitik wird dann gekennzeichnet sein durch ein überlanges Festalten an der schiitischen, von Iran gestützten Maliki-Diktatur – ohne Rücksicht auf die nach dem Bürgerkrieg im Land doch erkennbare Gefahr, dass sich die systematische Ausgrenzung der sunnitischen Minderheit von der Macht schwer rächen könnte. Es war dies ein kurzsichtiger, ad hoc unternommener Versuch der Stabilisierungspolitik – ohne Begriff von der tektonischen Erschütterung der gesamten Region , wie sie dann im Aufstieg des „Islamischen Staates“ im Irak und in Syrien aufbricht. Die Welt muss den USA dankbar dafür sein, dass sie sich zu einem begrenzten militärischen Eingreifen gegen den IS entschlossen haben. Es ist aber klar: mit Bomben allein lässt sich gegen die Resonanz und die Anerkennung, die der IS ungeachtet seiner monströsen Grausamkeit bei einem Teil der sunnitischen Araber der Region bislang immer noch findet, nicht ankommen. Nicht nur die Amerikaner, der Westen überhaupt und wir alle haben ein Problem damit, diesen Hass und ungehemmten Vernichtungswillen auch nur zu begreifen. Zuerst die Welle des „Arabischen Frühlings“ und dann – nach seinem Scheitern, nach seiner gnadenlosen Unterdrückung durch die arabische Konterrevolution wie in Ägypten, in Saudi-Arabien oder in Syrien – eine machtvolle Welle islamistischer Terrorgewalt: Wie ist diese Abfolge oder dieses Nebeneinander des Unvereinbaren, des für unsere Begriffe absolut Gegensätzlichen zu verstehen?  Soviel ist aber evident: Das „missing link“ ist die arabische Diktatur. Die beiden konträren, antagonistischen Formen der Auflehnung und des Widerstands – die emanzipatorische und die extremistisch-islamische –  sind vermittelt durch die repressiven Herrschaftssysteme Arabiens, die in den von ihnen beherrschten Ländern dem normalen, macht- und mittellosen Menschen, vor allem der Jugend die Entfaltungsmöglichkeiten abschneiden. Selbst in Tunesien, das sich doch auf dem Weg zur Demokratie befindet, gibt es heute Hunderte junger Rückkehrer aus Syrien. „Viele sind desillusioniert, nachdem sie anstatt eines Heeres des Propheten Mohammed und eines utopisch gerechten Systems einen brutalen Krieg vorgefunden haben, in dem Muslime Muslime bekämpfen, anstatt dem Regime Assad geeint die Stirn zu bieten. Andere, nihilistischer eingestellte Militante scheinen weiterhin an das ‚Kalifat’ zu glauben. Sie drohen, die noch fragile tunesische Demokratie in den Abgrund zu stürzen.“ (Monika Bolliger, Das Versprechen islamischer Gerechtigkeit, NZZ 20.03.2015).

Welche Antwort hätten Amerika und der Westen darauf?  Sie setzen heute – wie in der Epoche vor dem „Arabischen Frühling“ –  erneut auf die Diktaturen als den letzten, festen Anker regionaler Stabilität. Oder halten an ihren alten Bündnissen mit diesen reaktionären Regimes fest. Als wären nicht gerade diese Gewaltsysteme die tiefere Ursache für den Schub von Instabilität und Staatszerfall, der gegenwärtig die ganze Region zu erfassen droht.  (Grundlegend dazu: Jean-Pierre Filiu, The Arab Revolution, London 2011)

In Syrien haben die ursprünglichen Rebellen gegen das Assad-Regime – in ihrer Masse ebenfalls sunnitische Araber – durch das großmäulige Spiel Obamas mit seiner „roten Linie“ viel an Boden verloren. Ein Teil von ihnen hat sich inzwischen den Dschihadisten angeschlossen. Wir erinnern uns: Der Gas-Angriff kam – was nicht kam, war die angekündigte Intervention Amerikas. Stattdessen sah sich Assad, den Obama und Kerry vorher schon öffentlich mit Hitler verglichen hatten, auf russischen Vorschlag zum Partner eines Deals über die Entsorgung der chemischen Waffen in Syrien aufgewertet.
Niemand spricht von amerikanischen Bodentruppen.  Aber die ganzen schrecklichen Jahre dieses Vernichtungskrieges des Assad-Regimes gegen das eigene Volk: keine relevante Aufrüstung der Rebellen durch die USA; keine international erzwungenen humanitären Korridore; keine Flugverbotszone über Syrien, obwohl es vor allem die Luftwaffe des Regimes ist, die der Bevölkerung der Städte und Dörfer alle Lebensgrundlagen entzieht. (Vgl.  Innenansichten aus Syrien. Hg. von Larissa Bender,   2014 – dort bes. die Beiträge von Petra Becker und Friederike Stolleis)

Ich komme zum Schluss:  In der Auseinandersetzung mit der Realpolitik unserer Zeit, wie ich sie an drei Fallbeispielen zu charakterisieren versucht habe, sollte man nicht mit der Moral anfangen, sondern mit der Zeitgeschichte – mit dem falschen, aber echten politischen Lernprozess hinter einem Typus von politischem Realismus, der sich in Wirklichkeit auf der Flucht vor der Realität befindet. Dann aber ist der Preis für diese Sorte von Politik zu konfrontieren. Die gedankliche Spannung zwischen diesen beiden Schritten muss man schon aushalten. Kalt, heiß. In Bosnien und in Syrien liegt der Preis im Verrat an den Menschenrechten und an den elementarsten Lebensinteressen ganzer Völker. In der Ukraine ist der Preis noch offen. Er könnte in der definitiven Hinnahme der russischen Aggression liegen –  seitens eines Europas, das gar nicht ist, was es zu sein beansprucht.