Primo Levi über die Erinnerung

Ernst Köhler

1.

„Die ersten Berichte über die nationalsozialistischen Vernichtungslager begannen sich im Entscheidungsjahr 1942 zu verbreiten. Sie waren vage, stimmten aber untereinander überein: Sie ließen eine Massenvernichtung von einem derartig großen Ausmaß, von einer so unvorstellbaren Grausamkeit, mit so verworrenen Motivationen deutlich werden, dass die Öffentlichkeit, gerade wegen ihrer Ungeheuerlichkeit, dazu neigte, sie nicht zu glauben. Es ist bezeichnend, dass diese Ungläubigkeit von den Schuldigen selbst lange vorausgesagt wurde. Viele Überlebende erinnern sich daran…, was für ein Vergnügen es den SS-Leuten bereitete, den Häftlingen zynisch vor Augen zu halten: ‚Stellen Sie sich nur vor, Sie kommen in New York an, und die Leute fragen Sie: Wie war es in den deutschen Konzentrationslagern? Was haben sie da mit euch gemacht? Sie würden den Leuten in Amerika die Wahrheit erzählen. Und wissen Sie, was dann geschehen würde? Sie würden Ihnen nicht glauben, würden Sie für wahnsinnig halten, vielleicht sogar in eine Irrenanstalt stecken… Sonderbarerweise taucht dieser Gedanke…in Gestalt nächtlicher Träume aus der Verzweiflung der Häftlinge auf. Beinahe alle erinnern sich, entweder im Gespräch oder in ihren Aufzeichnungen, an einen Traum, der sich in den Nächten der Gefangenschaft häufig einstellte, unterschiedlich in den Einzelheiten, aber im Wesentlichen immer gleichbleibend: Sie waren nach Hause zurückgekehrt, erzählten mit Leidenschaft und Erleichterung einer ihnen nahestehenden Person von den vergangenen Leiden und sähen, dass ihnen nicht geglaubt, ja nicht einmal zugehört würde. In der typischsten (und grausamsten) Version wandte sich der Angesprochene ab und ging schweigend weg.“

Das sind die ersten Sätze von Die Untergegangenen und die Geretteten, dem letzten Werk von Primo Levi. (Im italienischen Original ist es zuerst 1986 erschienen – ein Jahr vor dem Tod des Autors; hier ist es zitiert nach der dtv-Ausgabe von 1993). Die meisten von uns werden das Buch kennen oder richtiger: irgendwann einmal gelesen haben. Wenn man solche Sätze wiederliest, wird einem bewusst, was für eine Art Organ unser Gedächtnis ist. Aber jetzt verschaffen uns unbekannte oder vergessene Texte des gleichen Autors die Chance auf eine Wiederbelebung und Vergegenwärtigung unserer verblassten Eindrücke und Einsichten. Wir haben sie jetzt erstmals auf deutsch:

So war Auschwitz. Zeugnisse 1945 – 1986. Hrsg. Von Domenico Scarpa und Fabio Levi, München 2017 (Carl Hanser Verlag).

Es handelt sich hier nicht um große Literatur wie das eingangs zitierte Werk oder auch Ist das ein Mensch? (im Original zuerst 1958 erschienen), die Primo Levi weltbekannt gemacht haben. Es sind Gelegenheitsarbeiten, Gebrauchstexte – geschrieben jeweils aus einem aktuellen Anlass: wie der gerade in seiner Sachlichkeit kaum erträgliche „Bericht über die hygienisch-medizinische Organisation des Konzentrationslagers für Juden in Monowitz (Ausschwitz- III)“, den Levi im Frühjahr 1945 zusammen mit einem Leidensgenossen, dem Arzt Leonardo De Benedetti verfasste (in Kattowitz, für das russische Kommando des dortigen Lagers für ehemalige Gefangene); wie die Zeugenaussagen für die Prozesse Höss (1947), Eichmann (1960), Bosshammer (1965 – 1971); wie diverse Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften, öffentliche Reden und Würdigungen einzelner Menschen. Der deutsche Durchschnittsleser von heute sieht sich in dieser mit Sorgfalt und Liebe gemachten Edition nirgends allein gelassen: Die Anmerkungen im Anhang des Bandes orientieren ihn auf Schritt und Tritt. Der feine, verständnisvolle Essay der Herausgeber: „Ein Zeuge und die Wahrheit“, viel mehr als Nachwort, zeigt uns einen Primo Levi, der mehr als vier Jahrzehnte lang gegen das Schweigen und das Vergessen ankämpft. Unpathetisch, offen für seine sich wandelnde Umgebung, unverbittert – wann immer man ihn darum bittet.

2.

Wir lernen hier den Bürger Primo Levi kennen, den Patrioten – einen Menschen, der sich nach allem, was er selbst durchgemacht hat und was er gesehen oder von anderen Opfern erfahren hat, von jedem Anzeichen der Nachdenklichkeit in der italienischen Öffentlichkeit dieser Nachkriegsjahrzehnte aufrichten und ermutigen lässt:

„Niemand hatte den Erfolg erwartet, den die Ausstellung über die Deportation und die zwei anschließenden Vortragsabende in Turin hatten, sie waren an die Jugend gerichtet und fanden in den Räumen der Unione Culturale im Palazzo Carignano statt. Nicht nur junge Leute, aber hauptsächlich junge Leute, sind sehr zahlreich herbeigeströmt, haben mit sichtlichem Interesse zugehört, haben wohlüberlegte, triftige Fragen gestellt, und an beiden Abenden haben sie diejenigen, denen die Aufgabe zu sprechen zugefallen war, förmlich umlagert. Sie wollten wissen und suchten zugleich die menschliche Begegnung, das war etwas anderes als die übliche Schulstunde. An den Fragen, die sie stellten, wurde nicht nur ihr Bedürfnis nach Informationen über die Tatsachen deutlich, sondern nach einer tieferen Durchdringung des (nicht nur für sie dunklen) Dickichts des ‚Warum’ und des ‚Wie’…Insgesamt scheint eine ziemlich genau definierte Mentalität darin vorzuherrschen, nämlich die von im Wesentlichen

unwissenden, aber wissensdurstigen jungen Leuten; der Gewalt und Kompromissen abgeneigt; weiter entfernt von jener grausamen Welt von damals, als zu vermuten, und eben deshalb wehr- und schutzlos gegenüber der Gewalt und der Ideologie, die unterschwellig in der Welt von heute fortleben…Das ‚Musterbeispiel’ vom Palazzo Carignano entspricht nicht dem Durchschnitt; dennoch ist es wichtig, feststellen zu können, dass es neben der verbrannten Jugend und neben der kaputten Jugend auch diese saubere, aufmerksame und neugierige Jugend gibt. Überdies wissen wir alle, wie wichtig es ist, dass bestimmte Begriffe, bestimmte Seelenlagen in Umlauf kommen, in bestimmte soziale Umgebungen eindringen, ihr Eigenleben entfalten. – Vielleicht mussten 15 Jahre vergehen, eine halbe Generation, damit in diesen Begegnungen der richtige Ton getroffen werden konnte; aber nun, das ist der einhellige Eindruck aller Anwesenden, ist die Zeit reif, es ist nicht mehr der Augenblick zu schweigen…“

(Das Wunder von Turin, 1959)

„In dieser unserer lauten Zeit voll eitler Meinungskämpfe, voll offener Propaganda und verborgener Manipulation, mechanischer Rhetorik, voller Kompromisse, Skandale und Ermüdung, durch all dies hindurch, erhält die Stimme der Wahrheit, statt sich zu verlieren, einen neuen und deutlicheren Klang. Es scheint zu schön, um wahr zu sein, aber es ist so: Die weitgehende Entwertung des geschriebenen und gesprochenen Wortes ist nicht endgültig, ist nicht allgemein, etwas hat sich gerettet. So seltsam es scheinen mag, aber wer heute die Wahrheit sagt, findet noch Gehör, und man schenkt ihm Glauben.

Das ist ein Anlass zur Freude, doch diese Kundgebung des Vertrauens bringt für uns alle eine Gewissensprüfung mit sich. In dieser heiklen Frage, wie wir ein moralisches und gefühlsmäßiges Erbe, das wir für wichtig erachten, an unsere Kinder weitergeben können, haben da nicht auch wir Fehler gemacht? Wahrscheinlich ja, wir haben Fehler gemacht. Wir haben gefehlt durch Auslassung (ommissione) und Delegierung (commissione), Indem wir schwiegen, haben wir gefehlt, durch Faulheit und mangelndes Vertrauen in die Macht des Wortes, und wenn wir sprachen, haben wir oft gefehlt, indem wir eine Sprache verwendeten und akzeptierten (attotando e accentando), die nicht die unsere war. Wir wissen es, die Resistenza hatte Feinde und hat sie immer noch, und die setzen, wie nur natürlich, alles daran, dass so wenig möglich von der Resistenza gesprochen wird. Ich habe den Verdacht, dass diese Knebelung mehr oder weniger bewusst auch mit subtileren Mitteln vor sich geht, indem man nämlich die Resistenza vor der Zeit einbalsamiert und voller Hochachtung ins hehre Schloss der Nationalgeschichte versetzt.“

(Die Zeit der Hakenkreuze, 1960)

3.

Es geht um eine authentische Sprache. Die Aufmerksamkeit und Neugier eines Teils der jungen Italiener seit Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre könnte den ehemaligen antifaschistischen Widerstandskämpfern ihre eigene Sprache zurückgeben. Das ist der Gedanke. Den Partisanen von damals, denen sich auch der bis dahin eher indifferente junge Chemiker Primo Levi 1943 – mit dem Zusammenbruch der Mussolini-Herrschaft – anschließt. Bis er dann Anfang 1944 von der politischen Polizei des Salo-Rumpfregimes verhaftet und von der SS nach Auschwitz deportiert wird – einen Ort, von dem er bis zu diesem Moment noch nie etwas gehört hatte.

Aber Levi geht viel weiter. Der „Hunger nach Wahrheit“, den er in der jungen Generation seines Landes wachsen spürt, tangiert auch den Kernbereich der publizistischen und literarischen Aufgabe, die er zunächst einmal sich persönlich stellt. Sonst wäre es auch nicht Primo Levi. Aber die erwachende Wahrheitsliebe der Zeitgeschichte und ihren dunkelsten Tatsachen gegenüber sollte die Überlebenden von „Auschwitz“ überhaupt dazu inspirieren, mehr aus sich herauszugehen und ihre Erfahrungen schonungsloser mitzuteilen – ohne Stilisierung, ohne verhüllende Vereinfachungen. Realitätsgerechter, als es ihnen in ihrer Randständigkeit, Isolierung und Vereinsamung unmittelbar nach dem Krieg zunächst möglich gewesen ist. Was Levi hier sich selber, aber letztlich auch seinen Schicksalsgenossen abverlangt, ist eine unerhörte Leistung. Man denke nur an das Kapitel „Die Grauzone“ in Die Untergegangenen und Geretteten :

„Nun war das Netz menschlicher Beziehungen innerhalb der Lager nicht einfach: Es war nicht auf zwei Blöcke reduziert, auf Opfer und Verfolger. Bei denen, die heute über die Geschichte der Konzentrationslager lesen (oder darüber schreiben), wird die Neigung, ja geradezu das Bedürfnis offenkundig, das Böse vom Guten zu trennen, Partei zu ergreifen, die Geste Christi beim Jüngsten Gericht zu wiederholen: hier die Gerechten und dort die Verdammten. Vor allem junge Menschen wollen Klarheit, einen sauberen Schnitt; da ihre Erfahrung mit der Welt noch gering ist, lieben sie keine Doppelbödigkeit. Ihre Erwartungshaltung spiegelt übrigens genau jene der Neuankömmlinge im Konzentrationslager wider, ob sie nun jung waren oder nicht: Alle, mit Ausnahme jener, die bereits eine ähnliche Erfahrung durchgemacht hatten, erwarteten sich eine zwar grauenhafte, aber doch immer noch entzifferbare Welt, die jenem einfachen Modell entsprach, das wir atavistischerweise in uns tragen, wobei ‚wir’ drinnen sind und der Feind draußen, abgetrennt durch eine klare geographische Grenzlinie. – Statt dessen war der Eintritt in das Lager ein Zusammenprall, und zwar wegen des Unerwarteten, das er mit sich brachte. Die Welt, in die man hineinstürzte, war nicht nur grauenvoll, sondern auch noch unentzifferbar: Sie entsprach keinem der bekannten Modelle, der Feind war draußen und zugleich drinnen, das ‚wir’ verlor seine Grenzen, es gab keine zwei gegnerischen Parteien, man erkannte nicht nur eine Grenzlinie, sondern viele und unklare, vielleicht unzählige, jeweils eine zwischen dem einen und einem anderen. Beim Eintritt hoffte man zumindest auf die Solidarität der Schicksalsgenossen, aber die erhofften Verbündeten – ausgenommen ganz besondere Fälle – gab es nicht. Statt dessen gab es tausend versiegelte Monaden und zwischen diesen einen verzweifelten, verborgenen, fortwährenden Kampf.“

Niemand kann einfach die Wahrheit sagen, die ganze Wahrheit. Es ist dies eine Herausforderung, die nicht voraussetzungslos zu meistern ist. Auch in einer westlichen Demokratie nicht. Sie bedarf auch hier bestimmter persönlicher, politischer, institutioneller, kultureller Bedingungen, die ihr günstig sind. In der hier angezeigten Textsammlung können wir verfolgen, wie Primo Levi ihrer gewahr wird und wie er sie in seiner öffentlichen Denkarbeit nutzt:

„Seit dem Ende der Nazilager sind mittlerweile viele Jahre vergangen. Für die Welt waren es Jahre voller Ereignisse und für uns Überlebende Jahre der Sichtung und Klärung. Daher sind wir heute imstande, Dinge zu sagen, die wir unmittelbar nach der Befreiung, sozusagen geblendet vom wiedergewonnenen Leben, nicht mit solcher Deutlichkeit gesagt hätten. In uns und in allen ist an die Stelle der unmittelbarsten Seelenregungen der Empörung, des Mitleids und des fassungslosen Staunens eine entspanntere, offenere Haltung getreten. Unsere individuellen Geschichten, die zunächst erregte Berichte waren, beginnen Geschichte zu werden…Man denke nur: Vor nicht mehr als zwanzig Jahren wurde im Herzen dieses zivilisierten Europa ein wahnsinniger Traum geträumt, nämlich der, auf Millionen von Leichen und Sklaven ein tausendjähriges Reich zu errichten. Das Wort wurde auf den Plätzen verkündet. Nur sehr wenige haben sich geweigert, sie wurden ausgeschaltet; alle anderen haben zugestimmt, teils mit Abscheu, teils mit Gleichgültigkeit, teils mit Begeisterung. Es war nicht nur ein Traum, das Reich, ein vergängliches Reich wurde errichtet: Die Leichen und die Sklaven hat es gegeben… Schamlos wurde vorgeführt, wie leicht das Böse obsiegt. Und das wohlgemerkt nicht nur in Deutschland, sondern überall da, wo die Deutschen ihren Fuß hinsetzten. Überall, das haben sie gezeigt, ist es ein Kinderspiel, Verräter zu finden und sie zu Satrapen zu machen, Gewissen zu korrumpieren, jene Atmosphäre eines ambivalenten Konsenses oder des offenen Terrors zu schaffen oder aufrechtzuerhalten, die notwendig war, um ihre Absichten in die Tat umzusetzen. – So war die deutsche Besetzung in Frankreich, im seit jeher verfeindeten Frankreich; so im liberalen und starken Norwegen; so in der Ukraine, trotz zwanzig Jahren Sowjetdisziplin. Und dieselben Dinge geschahen selbst in den polnischen Gettos, man erzählt es sich mit Grauen, sogar in den Lagern. Es war ein Flutwelle der Gewalt, des Betrugs und der Knechtschaft, was da hervorbrach. Kein Damm hat dem standgehalten, außer den verstreuten Inseln der europäischen Widerstandsbewegungen. – Sogar in den Lagern, habe ich gesagt. Wir dürfen nicht zurückschrecken vor der Wahrheit, wir dürfen nicht der Rhetorik verfallen, wenn wir wirklich vor der Ansteckung gefeit sein wollen. Die Lager waren, außer Orten der Vernichtung und des Todes, Orte des Verderbens. Nie wurde das menschliche Gewissen so sehr vergewaltigt, gedemütigt und verzerrt wie in den Lagern. An keinem anderen Ort war diese Vorführung, von der ich sprach, eklatanter, der Beweis, wie anfällig jedes Gewissen ist, wie leicht es zu zerrütten und zugrunde zu richten ist.“

(Aussage für Eichmann, 1961)