Die Tagebücher von Victor Klemperer sind wirklich gelesen worden

Ernst Köhler

Buchbesprechung zu Mihail Sebastian: Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt. Tagebücher 1935-44.

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Mihail Sebastian: „Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt“ .Tagebücher 1935-44, Berlin 2005 (Claassen), broschiert 2006 (List)

Die Tagebücher von Victor Klemperer sind wirklich gelesen worden – nebenher, nicht in den Ferien, in den Abendstunden, über Wochen. Das war ein Bild von der deutschen Gesellschaft unter Hitler, wie man es ungeachtet allen verbürgten Wissens doch immer noch gesucht hatte. Den jetzt auch auf deutsch vorliegenden Tagebüchern von Mihail Sebastian aus den Jahren 1935-44 wäre die gleiche Aufmerksamkeit zu wünschen. Das Rumänien der „Eisernen Garde“, der Diktatur des Generals Jon Antonescu, Südosteuropa im Schatten, unter dem Druck, dann unter der Kontrolle des „Dritten Reichs“ scheint einigermaßen entrückt – bereits nicht mehr ganz gegenwärtige Geschichte.

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Die Wahrheit dennoch nicht zum Schweigen gebracht. Nachdenken über den Mord an Anna Politkovskaja

Ernst Köhler befragt Benno Ennker

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Der Historiker Benno Ennker

Der Mord an der weltbekannten russischen Journalistin Anna Politkovskaja hat bei uns eine besondere und anhaltende Betroffenheit hervorgerufen. Benno Ennker ist Osteuropahistoriker an der Hochschule St. Gallen und an der Universität Tübingen. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Sowjetgeschichte. Aber er ist auch ein Kenner des gegenwärtigen Rußlands. Die Fragen stellte Ernst Köhler.

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Epochenwechsel auf dem Balkan

Ernst Köhler

Mit dem allzu Bekannten sollte man sich vorsehen. Wie mit dem „Balkan“, seiner ewig gestrigen Kleinstaaterei und seinen giftigen Nationalismen, die vielen sattsam, geradezu sprichwörtlich bekannt vorkommen. Aber es gibt einen neuen Balkan, und es wird Zeit, ihn zur Kenntnis zu nehmen. Die Epoche des Zerfalls, der blutigen Zerschlagung Jugoslawiens ist vollendet. Man kann es sich an Serbien verdeutlichen. Die Rückwärtsgewandtheit und Aussichtslosigkeit seiner Kosovo-Politik sind offensichtlich. Sie wirken inzwischen bizarr bis zur Lächerlichkeit – nicht erst seit dem Votum des Internationalen Gerichtshofes zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo Anfang 2008.

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Es ist wie beim Hunger

Ernst Köhler

Buchbesprechung zu Martin Walde: Wie man seine Sprache hassen lernt. Sozialpsychologische Überlegungen zum deutsch-sorbischen Konfliktverhältnis.

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Martin Walde: Wie man seine Sprache hassen lernt. Sozialpsychologische Überlegungen zum deutsch-sorbischen Konfliktverhältnis, Bautzen 2010 (Domowina-Verlag) 184 S., Abbildungen, Broschur, ISBN 978-3-7420-2178-6 19.90 €

Es ist wie beim Hunger. Wenn er erst einmal hungert, wehrt der Mensch sich nicht mehr. Zur Hungerrevolte kommt es nur, wenn es schon wieder ein bisschen bergauf geht. Jeder Protest braucht die Aussicht auf Erfolg, auf eine Machtverschiebung. Sonst bleibt er aus. Die Unterdrückung muss nur umfassend und nachhaltig genug sein, dann wird Widerstand zur absoluten Ausnahmeerscheinung. Für dieses tragische Paradox gibt es in der deutschen Geschichte reichlich Belege. Einen exemplarischen, aber bisher so gut wie unbekannten hat uns jetzt Martin Walde mit seiner Studie über die Geschichte der Sorben in Deutschland geliefert. „Wie man seine Sprache hassen lernt“ – der Titel nimmt bereits die Kernaussage des Buches vorweg. Die staatliche Entrechtung und gesellschaftliche Ausgrenzung dieser slawischen Minderheit in der Lausitz war über die verschiedenen Phasen der modernen deutschen Geschichte hinweg so allgegenwärtig, tiefgreifend und bruchlos permanent, dass die Betroffenen sich nicht mehr zu wehren und zu behaupten wussten. Stattdessen haben sie sich unterworfen, wie das Gesetz des Menschen es will. Sie haben sich in diversen Formen mit ihrer übermächtigen und feindlichen Umwelt identifiziert. Sie haben sich selbst nicht mehr ertragen. Sie haben ihre Muttersprache als einen Makel, als ein Stigma erlebt.

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Marx beim Scheitern zusehen

Ernst Köhler

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Karl Marx, Hrsg. von Michael Berger, Freiburg i.Br. 2005 (Reihe: absolute, orange press), 18 €

Ein überragender Denker, in seinen Prognosen widerlegt, seines politisches Einflusses gänzlich beraubt – aber abtun, vergessen läßt er sich auch nicht. Das will man sich denn doch nicht antun. Man spürt, daß man sich damit selber schaden, selber ärmer oder dümmer machen würde. Das ist der gegenwärtige Schwebezustand unserer Marx-Rezeption. Und aus ihr kommt die keineswegs rhetorisch gemeinte Frage: Was hat Karl Marx uns heute noch zu sagen? Vielleicht ist sie aber zu steil, zu direkt gestellt. Vielleicht beginnt man besser mit der Frage: Bis wohin können wir Marx heute noch folgen? Und wo müssen wir ihn endgültig einer abgetakelten Geschichtsphilosophie zuordnen – einer dieser „großen Erzählungen“ also, die inzwischen – in unseren Breiten wohlgemerkt, keinewegs global – allesamt abgebaut sind?

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Pathos gespickt mit Ironie

Ernst Köhler

Über den Roman „Im geschlossenen Raum“ von István Eörsi.

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István Eörsi

Wie es die Gedanken-Lyrik gibt und das Theater des Disputs, des Thesenstreits, so auch den Roman, der eigentlich ein Essay ist. Im geschlossenen Raum, das letzte, auf deutsch jetzt postum erschienene Buch des 2005 verstorbenen ungarischen Schriftstellers István Eörsi, ist ein solcher Roman. „Episoden einer Abhandlung“ nennt er es selbst einmal. Die Wirklichkeit, die er gedanklich zu durchdringen und von allen Seiten zu beleuchten versucht, ist der Poststalinismus in Ungarn – also die Jahrzehnte, die auf den von den Sowjets brutal niedergeschlagenen Aufstand von 1956 folgten und mit dem Namen Kádárs verbunden sind.

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Rede bei der Gedenkveranstaltung der Stadt Konstanz für Zoran Djindjic am 23. März 2004

Ernst Köhler

Zum Text erläutert Ernst Köhler: „Die Rede ist ins Serbische übersetzt worden und in der Belgrader Wochenzeitschrift ‚ekonomist‘ erschienen. Der hier erwähnte liberale serbische Oppositionspolitiker Cedomir Jovanovic, nicht nur für mich der eigentliche politische Erbe Djindjics, hat den Text zudem in seine Homepage aufgenommen. Bei uns ist die Rede hingegen unveröffentlicht geblieben.“

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Zoran Djindjic wurde am 12. März 2003 in Belgrad ermordet.

Ich fürchte, es ist keine Rede, was ich Ihnen hier vortragen möchte, sondern eher eine Reportage, ein Bericht über die Stipvisite, die wir Ende Februar in Belgrad gemacht haben. Für mich war es die erste Kontaktaufnahme nach zwei Jahren. Aber es war nicht nur traurig, sondern auch befreiend – befreiend, weil die Leute, die Zoran Djindjic in Belgrad verteidigen, ihn auch verteidigen und sich nicht nach allen Seiten abzusichern suchen. In einem zweiten Anlauf gehe ich dann noch einmal etwas allgemeiner auf die jüngste politische Entwicklung in Serbien ein, so wie sie sich dem Besucher eben darstellt. Wovon soll man in diesem Fall sprechen – von einem Umschwung? Von einem Rückschlag? Von einer Wende?

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Romeo und Julia in Ex-Jugoslawien

Ernst Köhler

Über den Roman „Meeresstille“ von Nicol Ljubic

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Nicol Ljubic: Meeresstille. Roman. Hamburg 2010. Hoffmann & Campe. 191 Seiten, 17 €.

Schon der „Prolog“ des neuen Romans des Berliner Journalisten und Autors Nicol Ljubic (geb. 1971 in Zagreb) stößt den Leser auf die reale Geschichte des verbrecherischen Krieges in Bosnien 1992 bis 1995. Und das ist etwas grundsätzlich Anderes als die heute eingefahrene Erinnerungspolitik, die sich nahezu ausschließlich auf „Srebrenica“, auf das dort im Sommer 1995 verübte Massaker an 8000 muslimischen Männern und Jungen beschränkt. In diesem Text geht es vielmehr um den bislang so gut wie ignorierten und auch offiziell-juristisch nicht anerkannten Völkermord an den bosnischen Muslimen in den Städten und Ortschaften entlang der Drina – zum Beispiel in Visegrad, dem gebildeten Publikum bekannt aus Ivo Andrics berühmtem Roman „Die Brücke über die Drina“. Ostbosnien war bereits lange vor dem allgemein bekannten, „historischen“ Verbrechen bei Srebrenica der Ort einer systematischen Ausrottung von Menschen. Diese Verbrechen serbischer Soldaten, Milizen, Banden gegen die Menschlichkeit setzen sofort mit Beginn des Krieges ein und haben tausenden Menschen, Zivilisten das Leben gekostet. Ahnungslosen, vom multiethnischen Mythos ihres Landes eingelullten Menschen, die mit dieser vernichtenden Gewalt niemals im Leben gerechnet hätten; Opfern, die bis heute – anders als die von Srebrenica – in unserem Geschichtsbild gar nicht vorkommen.

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Totale Macht über den Menschen

Ernst Köhler

Über den Gefängnisbericht des chinesischen Schriftstellers Liao Yiwu.

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Liao Yiwu: Für ein Lied und hundert Lieder. Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann, Frankfurt am Main 2011 (S. Fischer Verlag), gebunden, 592 Seiten, 24,95 €

„Ehrlich gesagt, bevor ich im Knast gewesen bin, hatte ich im Grunde keine Ahnung von Politik, bis heute habe ich keine nennenswerten reiferen politischen Ansichten. Ich bin Individualist, das Vagabundentum steckt mir noch im Blut, und nur als es zu einer dramatischen Kollision zwischen der Staatsideologie und meiner Eigenart als Dichter gekommen ist, blieb mir nichts anderes übrig, als mich zu wehren und sogar bis zur Selbstzerstörung Widerstand zu leisten. Ich kann keine Regierung akzeptieren, die aus Henkern besteht … Ich bin jemand, der sich an seine Todfeinde erinnert …“. Das sagt Liao Yiwu im Gefängnis einmal zu einem anderen politischen Gefangenen.

Der Leser dieses Erfahrungsberichts aus chinesischen Gefängnisses in den 90er Jahren – in der Phase unmittelbar nach dem Massaker vom 4.Juni 1989 in Peking – kann es nur als Glücksfall empfinden, dass der Autor so bei sich selbst bleibt. Die hier vorgelegten Erinnerungen werden so zu einem persönlichen, intimen Zeugnis jenseits bloßer politischer Analyse und Aufklärungsabsicht. Es ist die reine Defensive gegen das Vergessen. Man kann dieses Werk nicht in einem Zug lesen. Was dieses Regime mit seinen Gefangenen macht, und was die Gefangenen mit sich selber machen, tritt hier in einer imaginativen Sprache vor uns. Sie arbeitet immer wieder mit einer expressiven oder visionären Bildhaftigkeit. Es ist die Verfremdung und Destruktion der gewohnten sachlichen Darstellung im Interesse der Annäherung an eine kaum vorstellbare Wirklichkeit.

Liao Yiwu hat nicht aufgehört ein Dichter zu sein, als er nach der militärischen Repression der Studentenbewegung glaubt, künftig keine Gedichte mehr schreiben können. Wenn die Willkür der Staatsmacht, die Ungerechtigkeit der politischen Ordnung so heillos ist wie im China dieser Jahre, dann gerät für diese Sprachkunst auch der Kosmos aus den Fugen. Alles ist dann verkehrt, alles pervers. Der Himmel selbst driftet in ein unkontrollierbares Chaos ab. Für einen chinesischen Leser dürfte die übergreifende Verknüpfung der Unordnung auf der Erde und im Weltall vertrauter sein als für uns.

Dabei ist es das China Deng Xiaopings und seiner im Westen bis heute hochgeschätzten Wirtschaftsreformen. Das jetzt in der literarisch kongenialen Übersetzung von Hans Peter Hoffmann vorliegende Buch von Liao Yiwu stößt uns auf die Gleichzeitigkeit von kapitalistischer Reform und totalitärer Machtsicherung der kommunistischen Partei. Dass der Text überhaupt zu uns gelangt ist – von seinem Autor immer wieder versteckt, dreimal neu geschrieben, schließlich zuletzt nach Deutschland hinausgeschmuggelt, ist fast ein Wunder. Das Nebeneinander, die funktionale Verklammerung der beiden kommunistischen Strategien – Entfesselung der Wirtschaftskräfte, Abwürgen jeder Demokratisierung – war im Prinzip bekannt. Aber nur in der abstrakten, klischeehaften Form, wie sie uns schon unsere Interessenlage nahe legte. So ist etwa die bei Liao Yiwu dokumentierte tiefe Resonanz der protestierenden Studenten in der breiteren Bevölkerung bei uns kaum zur Kenntnis genommen worden. Es gab und gibt auch eine chinesische Spielart dieser Halbverdrängung und Gleichgültigkeit. Bei Liao Yiwu nimmt sie sich so aus: „Elf Jahre, eine Demokratiebewegung von gewaltigen Dimensionen hat sich in nichts aufgelöst, eine Seifenblase, die politischen Gefangenen … bilden ein nicht gerade glorreiches Erbe der Gesellschaft und werden von der überwiegenden Mehrheit der Menschen, die dafür gelobt werden, ‚nicht zu viel nach Politik zu fragen’, abgelehnt – von denselben, die sich einmal in Massen und begeistert in die Politik der Straße gestürzt haben!“

Das erste Kapitel des Buches („Es geschah am Ostfenster“) ist noch in einem anderen Ton gehalten. Das Volk in seiner Vielstimmigkeit ist hier noch präsent. Es ist noch nicht eine zynische, entpolitisierte Masse. Der Autor ist (formell) damals noch in Freiheit, wenn er sich wegen seiner im Land bald berühmten großen Gedichte „Massaker“ und „Requiem“ – beide im Text dokumentiert – auch schon intensiv verfolgt sieht. Man bedauert etwas, dass die Einschübe über das jahrelange, schubhafte Schreiben an diesem Zeitdokument eher selten bleiben und in der Regel knapp ausfallen. Die mit dem zweiten Kapitel einsetzende dichte, sinnlich detaillierte Beschreibung der Qual der auf engstem Raum zusammengedrängten und oft zur Strafe auch noch an ihren Gliedmaßen gefesselten Gefangenen erdrückt diese Reflexion dann fast ganz. Erst im letzten Kapitel („Zur Umerziehung durch Arbeit“) öffnet sich der Text wieder dafür.

Die Methodik der Entmenschung von Menschen, deren sich die chinesischen Kommunisten bedienen, ist aber auch unfassbar. Sie lassen die Gefangenen auf weite Strecken hin von Gefangenen verwalten, beherrschen, unterdrücken, foltern, fertig machen. Die eigentliche Macht über dieser „Selbstverwaltung“, über den Marionetten-Despotien in jeder einzelnen Zelle, bleibt in der Hinterhand. Abgesehen von den unvermeidlichen Großinszenierungen des totalen Machtanspruchs über den Menschen, greift „die Regierung“, wie die Gefangenen das Gefängnisestablishment nennen, mit ihren Elektroknüppeln oder ihren unsäglichen anderen Disziplinierungsverfahren meist nur im Fall des Konflikts oder Aufruhrs ein.

Indirekte Verfahren der Herrschaftsausübung waren bekanntlich auch bei den Nazis in Gebrauch. Die chinesischen Machthaber können den Nazis durchaus das Wasser reichen. Sie sorgen dafür, dass in ihren Gefängnissen alles Böse, alle Verkommenheit, alle Infamie, das abgründige Rachebedürfnis einer uralten und niemals freien Gesellschaft zum Einsatz kommt. Es gibt trotz allem eine Grenze für diese von oben gesteuerte Selbstzerstörung. Das sind die „Toten“, wie im Jargon des Gefängnisses die zum Tode verurteilten Gefangenen bezeichnet werden. Wenn sie sich auf ihre Hinrichtung vorbereiten, können die Mechanismen des Kapo-Systems in der Zelle aussetzen und schweigen. Egal, wer dieser Todeskandidat ist und was er in seinem Leben getan hat – und sei er auch ein brutaler Frauenmörder gewesen: jetzt hört man ihm zu, jetzt übernimmt man seine Arbeitsleistung, jetzt hilft man ihm beim Essen, wenn es sein muss.

Über Abraham Sutzkever (1913 – 2010)

Ernst Köhler

„Wie hilflos bewegt sich ein Fremder in der unversehrten Stadt, die dennoch ausgelöscht wurde! Kaum einer vermag ihm Auskunft zu geben, wo er eine Spur finden könnte. Wilnas Bevölkerung scheint ausgewechselt nach dem Krieg … Den einzigen Hinweis, wo die alte Hauptsynagoge gestanden hat, erhält er von einem alten Juden, der Deutsch spricht und das Lager von Schiaulen überlebt hat.“ Das hatte Karl Schlögel 1986 über einen Besuch in Vilnius geschrieben.

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Abraham Sutzkever: Wilner Getto 1941 – 1944. Aus dem Jiddischen übertragen von Hubert Witt, Ammann Verlag, Zürich 2009, 22,95 €

Mit der Veröffentlichung zweier Bände mit Werken des jiddischen Dichters Abraham Sutzkever aus Wilna gibt uns der Züricher Ammann Verlag eine unvergleichliche Chance der Erinnerung. Es handelt sich um den Bericht „Wilner Getto 1941-1944“ und um eine Auswahl von Gedichten („Gesänge vom Meer des Todes“). Bericht und Gedichte sind von Hubert Witt, einem ausgewiesenen Kenner und Übersetzer jiddischer Literatur, erstmals ins Deutsche übertragen worden. Die vom Verlag vorgegebene und dann gemeinsam mit dem Übersetzer erweiterte Idee, dem Erfahrungsbericht Lyrik an die Seite zu stellen – lyrische Texte aus der Zeit der Katastrophe selbst, aber auch aus späteren Phasen dieses Schriftstellerlebens – kann man nur als glücklich bezeichnen. Die Gedichte hindern den Leser daran, den Bericht über die Verfolgung und Ermordung der Wilnaer Juden durch die Nazis und ihre litauischen Helfer einfach nur seinem gesammelten Wissen über den Holocaust zuzuschlagen. Sie verweisen, sie stoßen ihn auf etwas, was ihm beim Abheften als Erstes verloren ginge: auf die „Fassungslosigkeit“ der Erzählung, um mit Saul Friedländer zu sprechen. Der Erfahrungsbericht ist kein Tagebuch. Er ist im Nachhinein niedergeschrieben worden – am Ende des Krieges in Moskau, wohin man den bereits anerkannten Dichter aus den Wäldern um Wilna mit einem kleinen Flugzeug ausgeflogen und gerettet hatte. Aber der Text wählt die Form des Tagebuchs. Und umgekehrt eröffnet das Zeugnis auch dem durchschnittlichen Leser einen Zugang zu den Gedichten, die zur experimentellen, avantgardistischen Dichtung dieser Zeit und dieses Raumes gehören und sonst hermetisch bleiben könnten.

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Abraham Sutzkever: Gesänge vom Meer des Todes. Ausgewählt und aus dem Jiddischen übertragen von Hubert Witt, Ammann Verlag, Zürich 2009, 22,95 €

Vor allem in ihrem ersten Teil – „In den Klauen der Deutschen“ – sind diese Aufzeichnungen über die Auslöschung der Juden von Wilna große dokumentarische Literatur. Sie stellen die bereits vernichtenden Maßnahmen der Deutschen unmittelbar nach der Okkupation im Juni 1941 dar. Wiedergeben lassen sie sich nicht. Sie zeigen den verfolgten Menschen in seiner ganzen Ausgesetztheit. Und sie zeigen den Verfolger in seiner bestialischen Menschlichkeit. Es ist ein Massenmörder von Geist, mit einer raffinierten Seele; die historische Forschung wird dann Jahrzehnte brauchen, bevor sie zu ihm aufschließt. Der nationalsozialistische Massenmörder ist ein Initiant, ein Neuerer. Er bedarf keiner Anweisungen von oben. Auch zum Völkermord braucht er keinen Befehl, wie er nach dem Krieg behaupten wird. Der zweite Teil ist dem Ghetto gewidmet. Er ist in einem verhalteneren Stil geschrieben und zeichnet sehr genau die auf Desinformation und Verwirrung der Insassen abzielenden Herrschaftstechnik der Besatzer nach: mit dem gewollten Chaos von dauernd wieder veränderten Spezialausweisen und Berechtigungszetteln, die den Menschen immer wieder die Hoffnung auf eine Überlebensmöglichkeit machen und sie ihnen gleich wieder nehmen. Vor den schubweisen Deportationen aus dem Ghetto in den Tod versuchen sich die Menschen in die ausgeklügeltsten Verstecke zu retten, die sie mit der Zeit zu einer „unterirdischen Stadt“ ausbauen. Aber sie bauen sich auch über der Erde eine heimliche „Stadt“, eine vor der Macht verborgene Parallelwelt auf: mit einer Lebensmittelwirtschaft, mit einem Gesundheitswesen, mit sozialen Transferleistungen, Schulen und einem intensiven kulturellen Leben. Und da Abraham Sutzkever hier keineswegs nur Beobachter bleibt, sondern sich als Künstler, Mentor, Aktivist praktisch und höchst riskant engagiert, gehören die Passagen über zivile Selbstbehauptung unter den Bedingungen der Barbarei zu den schönsten des ganzen Buches. Ein dritter Teil ist schließlich dem bewaffneten Widerstand vorbehalten, dem sich auch Sutzkever anschließt. „Lasst uns nicht wie Schafe zur Schlachtbank gehen!“ Der berühmte, aber oft isoliert zitierte und fälschlich heroisierte erste Satz aus dem von Aba Kowner formulierten ersten Aufruf der Wilnaer Untergrundkämpfer (vom 1.Januar 1942) sieht sich hier in den Kontext gestellt, in den er gehört. Es ist der Bruch mit dem Illusionismus der Verzweifelten. Es ist die Erkenntnis, dass die Nazis die physische Vernichtung ausnahmslos aller Juden planen. Die unfassbare Wahrheit ist im jüdischen Wilna früher erfasst worden als anderswo in Osteuropa, früher als in Warschau etwa.

In einem Gedicht, das Abraham Sutzkever nach seiner Zeugenaussage vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg im Februar 1946 schreibt, wird es dann heißen: „Mein Volk, du musst dich für dein Schwert entscheiden, wenn Gott zu schwach ist für Gerechtigkeit.“ Aber die Verbindung dieses Dichters mit seinem Volk geht sehr viel weiter als bis zur Auseinandersetzung mit einem Gott, der ausfällt, wenn man ihn braucht. „Ich bin das Kind, das einen Grashalm trägt, während man es zur Erschießung führt“ („Abschied“, Wilner Getto – Narotscher Wälder, 1943-1944). Er trauert in diesen Texten nicht nur um Menschen, die er kennt, die ihm nahe stehen – wie seine Mutter, deren Festtagsschuhe er zufällig auf einem für den Transport nach Deutschland bestimmten Wagen voller Schuhe entdecken muss. Die fast mystisch anmutende Radikalität dieser Vereinigung mit dem unbekannten Anderen erschließt sich vielleicht am klarsten in dem kleinen Gedicht „Abend“ (Wilner Getto, 10. Januar 1943). Die Schlusszeile lautet: „ Es offenbart sich im Licht meiner Blindheit: Aus wie vielen Seelen besteht mein Ich…“.