Marx beim Scheitern zusehen

Ernst Köhler

karlmarxx
Karl Marx, Hrsg. von Michael Berger, Freiburg i.Br. 2005 (Reihe: absolute, orange press), 18 €

Ein überragender Denker, in seinen Prognosen widerlegt, seines politisches Einflusses gänzlich beraubt – aber abtun, vergessen läßt er sich auch nicht. Das will man sich denn doch nicht antun. Man spürt, daß man sich damit selber schaden, selber ärmer oder dümmer machen würde. Das ist der gegenwärtige Schwebezustand unserer Marx-Rezeption. Und aus ihr kommt die keineswegs rhetorisch gemeinte Frage: Was hat Karl Marx uns heute noch zu sagen? Vielleicht ist sie aber zu steil, zu direkt gestellt. Vielleicht beginnt man besser mit der Frage: Bis wohin können wir Marx heute noch folgen? Und wo müssen wir ihn endgültig einer abgetakelten Geschichtsphilosophie zuordnen – einer dieser „großen Erzählungen“ also, die inzwischen – in unseren Breiten wohlgemerkt, keinewegs global – allesamt abgebaut sind?

Dafür brauchen wir freilich die Handreichung einer schmalen, lesbaren, gleichwohl repräsentativen Auswahl von Marx-Texten. Ohne geht es nicht. Sonst können sich nur Experten an der Diskussion beteiligen – wie gehabt. Und die ausgewählten Texte oder Schlüsselpassagen dürfen auch nicht nur und nicht einmal in erster Linie aus dem „Kapital“ (erster Band 1867) herausgezogen sein, sie müssen vielmehr alle Felder des Marxschen Denkens, der Marxschen Geistesgegenwart abdecken. Sie müssen auch den Philosophen, den Redakteur, den Publizisten, den zeitweiligen Arbeiterführer Karl Marx vergegenwärtigen.

Von den Gelegenheitsarbeiten zum Hauptwerk führt der Weg des interessierten Laien, nicht umgekehrt. Der soeben erschienene Marx-Band in der von Klaus Theweleit herausgegebenen Reihe „absolute“ (orange press, Freiburg i.Br.) erfüllt diese Bedingung einer leserfreundlichen Einführung. Die Texte sind von Michael Berger zusammengestellt, einem ausgewiesenen Kenner des Marxschen Gesamtwerks, und durch eine informative, ja dichte Biografie in vier knappen Portionen miteinander verbunden. An die Adresse des Verlags: Ein Mangel dieser willkommenen Publikation ist nur, daß es an Anmerkungen fehlt. Vor allem die abgedruckten Briefe mit ihren Namen und Anspielungen erschließen sich so nur halb.

Geradezu ins Auge springt das Umkippen von visionärer Geschichtsschreibung in pure Vision im „Manifest der kommunistischen Partei“ (1848). Die Abschnitte über die umstürzende Gewalt, die vernichtende Übermacht des Kapitalismus allen älteren Gesellschaftsformen gegenüber lesen sich auch heute noch taufrisch. Es ist dies offenkundig immer noch unsere Welt. Man braucht nur an die verzweifelten Proteste asiatischer Bauern bei der letzten Welthandelskonferenz in Hongkong zu denken. Auch der im Band abgedruckte Beitrag „Die britische Herrschaft in Indien“ (1853) gehört hierher. Mit dem seit unvordenklichen Zeiten existierenden altindischen Dorf und seiner Subsistenzwirtschaft zerstört die britische Kolonialherrschaft freilich auch uralte Formen der Abhängigkeit, sozialen Erstarrung, dumpfen Isolierung – auch das höchst aktuell, wenn auch unbequem zu denken. Aber dann meint Marx zu erkennen, daß die nächste epochale Umwälzung der Produktionsverhältnisse sich bereits ankündige, daß die „Expropriation der Expropiateure“ sich schon vorbereite.

Interessanter als das verirrte Sehertum in diesem grandiosen Stück agitatorischer Literatur ist aber der unvermittelte, überfliegende Emanzipationsgedanke eines etwas früheren Textes: „Zur Judenfrage“ (1844). Die hier vorgetragene Interpretation der Bürger- und Menschenrechte, wie sie die Französische Revolution und auch die Amerikanische Revolution verkündet haben, ist an sich immer noch überzeugend. Ungeachtet ihres humanistischen Pathos garantieren diese neuen Freiheitsrechte danach nur die freie Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Privatinteressen. Aber warum muß Marx diesen realen Durchbruch unbedingt mit einem imaginären noch übertrumpfen – die „politische Emanzipation“ mit der „menschlichen Emanzipation“? Es hätte sich ja auch fragen können, wie die neuen Spielräume des zu seiner Zeit erst halbdemokratischen Rechtsstaates von unten genutzt, ausgeweitet, umgeformt werden könnten. Uns jedenfalls, die wir die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts kennen, drängt sich das zwingend auf. Marx tut es auch gelegentlich. Aber nur wenn er die konkrete Arbeiterklasse und die Arbeiterbewegung seiner Zeit vor Augen hat oder sich gar direkt an sie wendet – wie in der „Inauguraladresse der internationalen Arbeiter-Assoziation“ (1864) oder auch in dem schönen Gespräch mit dem Journalisten R. Landor (1871), das Michael Berger zu Recht an den Anfang seiner Auswahl stellt.

„Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ (1851/52) ist das Meisterstück unter den hier vorgelegten Auzügen. Karl Marx hätte der Vordenker für einen linksdemokratischen Pragmatismus sein können. Er war es in gewisser Weise. Dem Schwachen und Abhängigen wird nichts geschenkt. Er muß sich alles selber holen. Er muß unter allen Umständen seine Verhandlungsstärke vergrößern. Alles ist Macht. Und für immer: der Machtkampf ist nicht aus der Welt zu bringen. Die Machtfrage ist allgegenwärtig – auch und gerade in der angeblich autonom und gesetzhaft funktionierenden Wirtschaft. Aber der große Autor hat sich selbst mißverstanden. Er hat es vorgezogen, sich einer trügerischen Dramatik oder „Dialektik“ des menschheitlichen Fortschritts zu überlassen – verführerisch, betörend zu seiner Zeit, heute nur noch Philosophiegeschichte.