Der nine eleven des Karl Marx

Umschlag der Erstausgabe 1867

Gastbeitrag von Ivan Glaser zum 150sten Editionsjubiläum des ersten Bandes des „Kapitals“

Dem Andenken an Erhard Lucas (1937-1993) gewidmet

  1. Was im Jahr 1867 mit dem Text des „Kapitals“ geschah
  2. Wie Marx 1867 die Druckvorlage auf 60 Bögen brachte
  3. Die editorische Bilanz des Jahres 1867
  4. Marx´ desaströse Entdeckung: Krisen der kapitalistischen Produktionsweise nicht Vorzeichen ihres Zusammenbruchs, sondern Formen ihrer Durchsetzung
  5. „Das Kapital“ – Klassiker des Historischen Materialismus oder Mystifikation von Friedrich Engels?

1. Was im Jahr 1867 mit dem Text des „Kapitals“ geschah

Den ersten Band des „Kapitals“, beinahe so wie wir ihn noch heute in Händen halten, wenn wir Band 23 der Marx-Engels-Werke (MEW) oder eine der vielen dieser Ausgabe folgenden Editionen oder Übersetzungen konsultieren, hat Marx im Jahr 1866 und in den ersten drei Monaten des Jahres darauf ausgearbeitet. Die Erstausgabe aus dem Jahr 1867 ist für die zweite Auflage (1872) strukturell von Marx und für die dritte und vierte, auf der Grundlage der ersten französischen unter Mitwirkung von Marx entstandenen Übersetzung, sprachlich-stilistisch von Engels überarbeitet worden. Die Ausgabe MEW Band 23 folgt der 4. Auflage aus dem Jahr 1890.

Mit der endgültigen Ausarbeitung des Werks hat Marx nach eigenen Worten Punkt 1. Januar 1866 begonnen und das fertige Manuskript am 12. April 1867 dem Verleger Otto Meißner in Hamburg persönlich übergeben. Das genaue Erscheinungsdatum des 1. Bandes ist nicht mehr ermittelbar. Sicher lag es im September 1867, wahrscheinlich war es der 11. September. Nach der Übersendung eines ersten Manuskriptteiles bereits im November 1866 lief parallel zur Arbeit am Manuskript die Auseinandersetzung zwischen Marx und Meißner darüber, in welcher Weise die Publikation erfolgen sollte – vielleicht in kleinere Einheiten aufgeteilt, die nacheinander erscheinen würden – und wann der Verleger mit ihr oder mit dem Druck zu beginnen hätte.

Marx ging mit Selbstverständlichkeit davon aus, dass der Verleger das Werk, wie das auch mit dem Vorläuferwerk „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ Ende der fünfziger Jahre geschehen war, in kleinen Tranchen veröffentlichen, zumindest aber in Vorbereitung seiner Veröffentlichung in Satz geben würde. Dem Verleger war jedoch sicherlich nicht entgangen, wie jenes frühere Unterfangen endete: Es sollte niemals über die Publikation eines ersten Heftes hinausgelangen. Von daher lässt sich verstehen, dass Meißner sich weigerte, sich auf entsprechende Vorstellungen von Marx einzulassen.

So kam es, dass Marx in einem an Engels gerichteten Schreiben am 19. Januar 1867 enttäuscht berichten musste, der Verleger weigere sich, mit dem Druck zu beginnen, ehe er das Manuskript des ganzen Werks in den Händen halte. Und das dürfte Marx in der Tat in eine große Verlegenheit gebracht haben.

Zwischen Marx und Meißner war nämlich die Publikation eines Werkes vom Umfang von 60 Druckbögen vorgesehen, das in zwei Bänden hätte erscheinen sollen. Dabei war eine Aufteilung in vier Bücher geplant, von denen je zwei in einem Band hätten vereinigt werden sollen. Die ersten Bücher 1-3 hätten theoretischen Charakter getragen, im vierten hätte der Inhalt historisch „rekapituliert“ werden sollen. „Historisch“ meint hier die historische Darstellung der Vorläufer von Marx´ theoretischen Positionen. Der Ausdruck muss in diesem Zusammenhang ganz anders verstanden werden als dort, wo es sich auf historische Momente im Inhalt des 1. Bandes bezieht. Denn dort ist mit „historisch“ die Geschichte der Etablierung der industriellen Produktion insbesondere in England im 18. und 19. Jhs., die Zeitgeschichte eingeschlossen, gemeint.

Aus der Vorphase der Arbeit am definitiven Manuskript verfügt Marx am Anfang des Jahres 1866 über einen Gesamtentwurf des Werkes, der sich aus einem relativ knappen Entwurf des ersten, einem extrem knappen Entwurf des zweiten und einem ins Uferlose geratenen Entwurf des dritten Buches zusammensetzt. Im April 1867 kann Marx dem Verleger eine abgerundete Version des 1. Buches vorlegen, aber die Arbeit am 2. Buch steht ihm erst bevor. Marx wird sie vom Wesentlichen her gesehen erst um das Jahr 1870 herum abschließen.

Am Entwurf des dritten Buches hat Marx nach 1867 kaum mehr gearbeitet. Daran kann man ermessen, dass er mehr als recht hat, wenn er an in seiner Korrespondenz mit Engels, ebenfalls am 19. Januar 1867, einräumt, das Erscheinen des Werkes würde sich um Jahre verzögern, wenn er dem Verleger das ganze Manuskript vorlegen müsste, damit dieser mit dem Druck beginne. Und weshalb er darauf drängt, dass der Verleger den Druck sofort in Angriff nimmt.

Tatsächlich gelingt es Marx im Jahr 1867, seinen Verleger umzustimmen. Einerseits dadurch, dass er sich auf unrealistische Fristen im Hinblick auf die Fertigstellung weiterer Teile des Werkes verpflichtet. Es kommt aber andererseits noch ein weiterer Umstand hinzu, der vermutlich für Marx‘ Erfolg die Schlüsselrolle spielt. Zwar kann er Meißner nicht das Manuskript des ganzen Werkes überreichen, ja nicht einmal das des 1. Bandes in der Form, in der dieser ursprünglich hätte zusammengesetzt werden sollen – denn dazu hätte auch das 2. Buch fertig vorliegen müssen – , sondern nur den Text des 1. Buches. Dieser hat indes den Umfang erreicht, den nach der Vereinbarung zwischen den beiden das vollendete Werk hätte erreichen sollen: 60 Druckbögen. Und diese Tatsache hatte unzweideutig die Wirkung eines starken Argumentes.

2. Wie Marx 1867 die Druckvorlage auf 60 Bögen brachte

Mit dem eigentlich theoretischen Teil konnte ich nicht vorangehen. Dazu war das Hirn zu schwach. Ich habe daher den Abschnitt über den „Arbeitstag“ historisch ausgeweitet, was außer meinem ursprünglichen Plan lag.

Karl Marx in einem Brief an Friedrich Engels vom 10. Feb. 1866

Marx hat erst bei der letzten Bearbeitung von Buch 1 in den Jahren 1866 und 1867, also unmittelbar vor seiner Publikation, das Buch mit historischen Illustrationen ausgefüllt. Der entsprechende Vorentwurf ist uns nicht erhalten. Aus Marx‘ Briefen wissen wir allerdings, dass er sich bereits bei der Arbeit am Vorentwurf mit Materialien befasst hat, die er für seine Illustrationen benutzt oder benutzen wird. Aber erst im Jahr 1866 wird er diese historischen Materialien derart massiv in das Manuskript einarbeiten, dass sie das Buch 1 auf den für das ganze Werk geplanten Umfang von 60 Druckbögen bringen.

Ohne Marx unterstellen zu wollen, er habe die eingetretene Entwicklung angestrebt, können wir Überlegungen anstellen, welche Vorteile sie ihm brachte.

An erster Stelle ist noch einmal die rein quantitative Seite zu nennen. Das Buch 1 hat nunmehr derart an Volumen gewonnen, dass es für Marx leicht geworden ist, seinen Verleger zum Anfang des Drucks zu überreden.

Zu dem quantitativen Aspekt gesellt sich der qualitative hinzu. Wenn sich Marx an seine ursprünglichen Pläne gehalten hätte, dann wäre unmittelbar nach der Vollendung des 1. Buches das 2. Buch an die Reihe gekommen, womit der 1. Band abgerundet worden wäre. Ein wichtiger, wenn nicht sogar der wichtigste Bestandteil der Thematik des 2. Buches sind die sog. Reproduktionsschemata. Statt aber diese systematische Thematik zu bearbeiten und mit ihr den ersten Band abzuschließen, greift Marx vielmehr auf das historische Material zurück, um – wie er das nennt – die Thematik des ersten Buches (z.B. die Herauspressung des Profits aus der Industriearbeiterschaft) historisch auszudehnen.

Woraus schöpft er dieses Material? Aus den amtlichen britischen Berichten der Zeit. Jenen, die verschiedene Kommissionen des Parlaments anfertigen und dem Parlament vorlegen. Jenen, die verschiedene zentrale Behörden wie das Board of Health anfertigen und veröffentlichen, genauso wie das auch mit den an das Parlament gerichteten Berichten geschieht.

Es sind geradezu bodenlos skandalöse soziale Verhältnisse, die ihre emsige amtliche Erfassung aufgedeckt hat und die nunmehr unverdeckt und ungeschminkt in den Berichten zum Ausdruck kommen.

Marx steht selbst unter ihrem Eindruck. Er benutzt in den Monaten der endgültigen Ausarbeitung des 1. Buches ältere von ihnen, aber auch die neueren und neuesten nimmt er begierig entgegen, um sein Bild der aktuellen englischen Verhältnisse vollständiger zu machen. Er muss dabei ein gutes Gefühl gehabt haben. Denn schon allein im Weitertransport der Befunde beteiligt er sich an der Ablehnung, ja der Ächtung der bestehenden Verhältnisse. Er bezeugt mittelbar, dass ihre Veränderung das dringende Gebot der Stunde ist.

3. Die editorische Bilanz des Jahres 1867

Und was steht dem als systematischer Inhalt gegenüber? Welche Tragweite hätte das Werk bekommen, wenn es Marx gelungen wäre, ihm an dieser Stelle seine geplante Fortsetzung zu geben?

Nehmen wir uns noch einmal die Reproduktionsschemata als den zentralen Inhalt des 2. Buches vor. Sie demonstrieren, wie sich unter kapitalistischen Bedingungen der Produktionsprozess harmonisch wiederholen kann: nicht nur in dem immer gleichen Umfang, sondern sogar auf einer höheren Stufe der Leiter – erweitert.

Auch Engels wird noch bei der posthumen Edition des 2. Buches im Jahr 1885 in mehreren Äußerungen, so am 3. Juni 1885 in einem Brief an Friedrich Adolph Sorge und knappe 3 Wochen später (am 21. Juni 1885) in einem Brief an Karl Kautsky, die Vermutung äußern, der streng theoretische Gehalt des Buches werde so einige Erwartungen enttäuschen. Ja, sicherlich, so Engels, es fehle ihm die revolutionäre Würze. Aber man müsse nun nur die Fortsetzung abwarten: Das in Kürze erscheinende 3. Buch werde diese Würze bringen, soweit die Zensurbehörden überhaupt zulassen würden, dass es das Licht des Tages erblicke.

Darauf, auf das 3. Buch, kommen wir später nochmal zurück. Festgehalten werden sollte an dieser Stelle die tiefe Hochschätzung, die Marx den Reproduktionsschemata und ihrem Schöpfer, dem Franzosen Francois Quesnay, entgegenbringt: Sie seien die größte, die genialste Erfindung der Ökonomie überhaupt. Und dennoch versteckt er die eigene Beschäftigung mit ihnen vor seinem Publikum.

Offenbar wohnen zwei Herzen in seiner Brust, das revolutionäre und das intellektuelle. Eines, das sich mit den bestehenden Verhältnissen nicht aussöhnen kann und das der Klasse der Arbeiter die Kraft zuspricht, sie verändern zu können. Ein anderes, das an geistreich konstruierten wissenschaftlichen Modellen Gefallen findet und dem es Vergnügen bereitet, sie überprüft und verfeinert in sein Werk einzubauen.

Mit einem Wort: das intellektuelle Herz hat seine Vorlieben unabhängig davon, was das revolutionäre ihm zu sagen hat. Es ist daher ein grundlegender Fehler, an Marx‘ theoretischen Modellen unbedingt den Punkt finden zu wollen, aus welchem sich dann revolutionäre Perspektiven ergeben – ein Fehler, den, die Eingeständnisse von Engels nicht kennend oder überhörend, bereits viele Marxisten der ersten Stunde gemacht haben – aus der Überzeugung heraus, wenn Marx sich ein theoretisches Modell zu eigen gemacht habe, so müsse es eben diese Perspektiven beinhalten.

Als Fazit bleibt auf jeden Fall, dass Marx in den Jahren 1866 und 1867 seine theoretischen Konstrukte zugunsten des Studiums der amtlichen britischen Berichte der Zeit und zugunsten der gleichzeitigen Eingliederung der Auszüge aus ihnen in sein Werk in den Hintergrund treten lässt. Die Publizierung der theoretischen Konstrukte sollte ihre nochmalige Überprüfung abwarten müssen. Marx wird sich nach 1867 tatsächlich mit ihnen noch mehrfach befassen, zu einer Publizierung wird es indes zu Lebzeiten von Marx überhaupt nicht kommen.

4. Marx´ desaströse Entdeckung: Krisen der kapitalistischen Produktionsweise nicht Vorzeichen ihres Zusammenbruchs, sondern Formen ihrer Durchsetzung

Kehren wir aber nun auf den von Engels bei der Publikation des 2. Bandes in Aussicht gestellten revolutionären Inhalt des 3. Bandes zurück. Worin kann dieser bestanden haben? Von Engels bekommen wir keinen Hinweis, in welcher Richtung wir suchen sollten. Dabei ist, entsprechend dem umfangreichen Entwurf von Marx, auch das von Engels edierte 3. Buch sehr umfangreich ausgefallen. In seiner Gesamtheit eignet es sich ausgezeichnet als Beispiel für die Richtigkeit der interpretativen Position der „Neuen Lektüre des ‚Kapitals‘“ – einer um das Jahr 1970 entstandenen Deutungsrichtung, die den philosophischen Kern des Werks in den Vordergrund stellte. Im 3. Buch werden überwiegend verschiedene Erscheinungsformen des Mehrwerts „hergeleitet“: Profit und seine Spaltung in Zins und Unternehmergewinn, Grundrente usw. Mit der Pointe, dass für alle Einkommensformen ihr Ursprung im Mehrwert bzw. in der Mehrarbeit nachgewiesen wird.

Können aber als möglicherweise „gepfeffert“ aus ihm die in seinem 5. Abschnitt enthaltenen Ausführungen über Konjunkturzyklen, über Zusammenbrüche des Kreditsystems und monetäre Krisen betrachtet werden?

Der Kredit regt die Produktion an und verbreitert ihren Umfang. Der Phase der Blüte folgen indes regelmäßig Phasen der Kontraktion und des Zusammenbruchs. Warum? Der Austausch der Produkte – so die Antwort von Marx – nach Maßgabe der für ihre Herstellung gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit zwingt die untereinander konkurrierenden Produzenten, ihre Produktion technisch zu vervollkommnen. Der Kredit schwächt diesen Ansporn. Auf dem Höhepunkt der Erweiterung der Produktion auf der Basis des Kredits kommt alles durch, Produkte von geringer Qualität, selbst der Bluff. Das kann sich aber nicht ins Unendliche fortsetzen. Für die Funktion des Kapitals, für seinen Dienst zum Nutzen des technischen Fortschritts zeigt sich der Kredit in seiner potenziellen Unbeschränktheit als störender Faktor. Daher muss es zum Zusammenbruch des Kredits kommen.

In seinem Dienst steht das monetäre System. In ihm sind einander entgegengesetzt Mittel der Kreditierung und bares Geld (oder gar Gold), das, wenn es darauf ankommt, knapp ist. Die Ursituation schildert Marx so: Alle wollen, dass man ihnen mit Gold zahlt, und das wenige Gold, das in Umlauf kommen könnte, lagert in den Kellern der Nationalbank. Welche verrückte Situation. Verrückt aber nur auf den ersten Blick. Denn, was Marx vielleicht nicht ganz ausdrücklich sagt, aber jedenfalls andeutet, die Knappheit des Geldes, ist geradezu heilsam für das System. Ist es einmal zum Zusammenbruch gekommen, so kann das Geld seine Funktion, die Produzenten zu disziplinieren, wieder voll ausüben.

Wir haben es hier schwarz auf weiß: das Kapital dient der Entwicklung der Produktivkräfte. Das ist seine substanzielle Wahrheit. Die periodischen Zusammenbrüche sind Mittel der Selbstheilung. Wenn Marx an einer Stelle sagt, das Geld sei kein „pfiffiges Auskunftsmittel“, so hat er die schlichte Vermittlungsfunktion des Geldes im Blick, die bei Tauschvorgängen den interessierten Seiten die Suche nach der jeweils anderen erspart. Darin, in dieser Harmlosigkeit, erschöpft sich die Rolle des Geldes indes nicht. Seine wesentliche Rolle kommt erst zum Vorschein, wenn es darum geht, den Aufschwung der Konjunktur zu bremsen oder ganz zu beenden. Denn der Zyklus hat sich inzwischen von dem Wachstum der Produktivkraft losgelöst.

Dabei hat sich das System der Zahlungen bereits schon lange vor Marx‘ Zeiten weiterentwickelt und, zumindest im inländischen Geldverkehr, von der entscheidenden Rolle gelöst, die Edelmetalle in ihm eingenommen haben. Das übliche Zahlungsmittel sind Wechsel geworden. Das Kreditsystem bricht zusammen, wenn Wechsel durch Banken nicht mehr eskomptiert und dadurch nicht mehr als Zahlungsmittel akzeptiert werden.

Noch einen Schritt weiter entwickelt sich das System der Zahlungen im Zusammenhang mit dem internationalen Handel. Der Konjunkturzyklus verläuft in verschiedenen Ländern nicht gleichzeitig. Das führt zu je neuen Ungleichgewichten im Handel zwischen den Ländern. Beziehen wir das in einem Beispiel auf zwei Länder: Das Land, das sich im Aufschwung befindet, führt mehr Waren ein, als es ausführt. Das wiederum hat zur Folge, dass die auf jenes Land gezogenen Wechsel, aus dem Waren vermehrt eingeführt werden, sich verteuern und gleichzeitig die auf das Aufschwungsland gezogenen Wechsel an Wert verlieren. Bis zum Eintritt des Zeitpunktes, in dem es günstiger wird, bei Zahlungen, die die Käufer der einführenden Waren zu tätigen haben, Gold einzusetzen. Was dann auch erfolgt und zum Goldabfluss aus dem Land des Aufschwungs ins Ausland führt. Und dieser Goldabfluss wiederum führt dazu, dass sich bei der Nationalbank des betreffenden Landes die Bereitschaft dazu verringert, Wechsel zu diskontieren. Am Schluss steht die Abbremsung des Aufschwungs.

Damit ist eine vorwiegend stille Form der Beendigung des konjunkturellen Zyklus beschrieben. Ohne Zusammenbruch des Kredits, ohne Krach geht eine Periode des Aufschwungs zu Ende. Der Druck, den das Geld auf die Produzenten ausübt, die Produktion technisch zu vervollkommnen, hat sich erneuert.

5. „Das Kapital“ – Klassiker des Historischen Materialismus oder Mystifikation von Friedrich Engels?

Das 3. Buch „Kapital“ wird immer großartiger, je tiefer ich eindringe… Es ist kaum fassbar, wie ein Mann, der solch gewaltige Entdeckungen, solch eine umfassende und vollständige wissenschaftliche Revolution im Kopf hatte, sie 20 Jahre bei sich behalten konnte.

Friedrich Engels in einem Brief an Laura Lafargue vom 8. März 1885

Bei Marx ist schon in den Jahren der Vorbereitung des 1. Bandes für den Druck (1866-67) Ernüchterung eingetreten. Es ist eine Ernüchterung im Hinblick auf die eigene spekulative Konstruktion gewesen. Marx, der zu dieser Zeit bereits auf einen Gesamtentwurf des Werkes zurückblicken kann, muss damals bemerkt haben, dass seine Konstruktion in die falsche Richtung geht. Dass für ein bestimmtes Phänomen genau dann die richtige Stelle im Theoriegefüge gefunden ist, wenn es sich funktional in das System einfügt – und nicht etwa dann, wenn es dysfunktional oder gar systemsprengend ist.

Das ist der einzige Punkt in diesen Darlegungen, der systematischer und nicht historischer Natur ist. Alles andere, was angeführt wurde, sind historisch-biographische Argumente aus der Zeit, in der Marx die Publikation abbricht, noch ehe sein theoretisches Gebäude in seiner Ausarbeitung bis an jene Stellen gelangt ist, die sein Gerüst bloßlegen. Das Werk von Marx wird von da an eine Art Phantomleben führen. Dass es im Entstehen begriffen ist, spricht sich herum. Der Umfang, in dem die interessierten Kreise Einblick in den Stand seines Entstehens hatten, war, wie sich das am Beispiel des Herausgebers der posthumen Edition, Friedrich Engels selbst zeigt, minimal. Doch welche Vorstellungen auch immer darüber kursiert haben mögen – ein Kapital hat Marx nie hinterlassen. Sein angebliches Hauptwerk ist ein Torso, der den Hauptteil der von seinem Verfasser in Aussicht gestellten Theorien nirgends entfaltet.

Bei der Vorbereitung des 1. Bandes für den Druck in den Jahren 1866/67 macht Marx einen Bogen um den in Aussicht genommenen theoretischen Kerngehalt des Werkes, den er auch später seinem Publikum konsequent vorenthalten wird. Die Gründe sind elementar. Wahrscheinlich hatte Marx doch bemerkt, dass seine Hoffnungen auf eine Revolution, die der Dialektik der kapitalistischen Gesellschaft selber geschuldet sein würde, von seinen eigenen Befunden desavouiert wurden. Was sie in Wahrheit bewiesen, war die unbegrenzte Fähigkeit des kapitalistischen Systems zur Selbsterneuerung.

Marx lässt das Projekt einer materialistischen Dialektik darum stillschweigend fallen; er wird sich niemals, weder im Jahre 1867 noch irgendwann später, zu dieser Entscheidung äußern. Engels deutet die Tatsache, dass Marx das Werk für sich behielt, in einer grundlegenden Weise falsch. Die unzähligen von Marx hinterlassenen Manuskriptvarianten aus der Zeit nach 1867, in großer Überzahl auf das 2. Buch bezogen, werden von Engels nicht als Zeichen einer substanziellen Unsicherheit, sondern als Ergebnis einer beispiellosen, sich niemals zufriedengebenden Gründlichkeit ausgegeben.

Die durch Engels zusammengestellte posthume Edition gehört wohl zu den ganz problematischen postumen Editionen der europäischen Geistesgeschichte. Nichtsdestoweniger  wird gerade das Kapital in der Folge zum wichtigsten Bestandteil der Fundierung einer Ideologie, die eine historische Tragweite ohnegleichen entfaltet.

Marx bekundete niemals, dass er es aufgegeben habe, das Werk zu Ende zu führen. Er hat sich wohl niemals zu einer ganz eindeutigen Entscheidung durchgerungen. Der Herausgeber der einschlägigen hinterlassenen Manuskripte, Friedrich Engels, ist ebenfalls zu einem nüchternen Fazit nicht imstande oder nicht willens gewesen.

Ganz im Gegenteil, er hat die Mythen geliefert, die den wahren Stand der Dinge unzugänglicher machten, als er zu Marx´ Lebzeiten war. Auf diese Weise ist eine Sicht auf das Werk entstanden, wonach es als beinah vollendeter, konsistenter Entwurf irgendwo in der Hinterlassenschaft des Verfassers schlummert und darauf wartet, von sachkundigen Interpreten ans Licht gebracht und ins volle Dasein geholt zu werden. Aber dieser Darstellung liegt ein elementarer Irrtum zugrunde, der anschließend 150 Jahre lang kultiviert werden sollte.

Angesichts dessen ist es frappierend, dass in der aktuellen Jubiläumsliteratur Texte fehlen, die sich mit den Ereignissen des Bezugsjahres 1867 selbst befassen. Soweit ich sehe, bildet die vorliegende Studie in dieser Hinsicht eine einsame Ausnahme.

Insel Zlarin, 15.08.17