Wie wir die Ukraine verraten. (Kleine Dokumentation zur Erinnerung)

Über die Lage in der Ukraine seit Anfang 2014 sind wir gut informiert. Wir haben hier einen Ausnahmejournalisten wie Konrad Schuller von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der immer wieder aus dem Land berichtet – auch über die Lage in den von Russland besetzten Gebieten berichtet. Hautnah, imaginativ, unbestechlich. Über die vom Kreml gesteuerten Kräfte an der Macht wie über ihre rechtlosen Untertanen. Ebenso aber auch über die Ausgrenzungsstrategie Kiews, die vor allem die Rentner in den „Volksrepubliken“ von Donezk und Luhansk trifft. Wir haben hier Lektoren und Herausgeber vom Format Katharina Raabes beim Suhrkamp Verlag und Manfred Sappers von der Zeitschrift „Osteuropa“, denen wir unverzichtbare Textsammlungen wie „Euromaidan“ (2014), „Testfall Ukraine“(2015), „Gefährdete Nachbarschaften – Ukraine, Russland, Europäische Union“ (2015) verdanken. Es erreichen uns authentischen Stimmen aus der Ukraine selbst und unabhängige Beiträge aus anderen Ländern der Region wie Litauen, aber auch aus Russland. Kurz, wir haben alles, was wir als Zeitgenossen, Nichtfachleute, als normale deutsche Bürger zu unserer Orientierung brauchen. Nicht zuletzt die Analysen von Osteuropa-Historikern – darunter auch deutscher, die sich der lange Zeit vorherrschenden, die Ukraine und ihre Geschichte weitgehend ausblendenden Fokussierung der einschlägigen bundesdeutschen Historiographie auf Russland von vornherein entzogen haben wie etwa Andreas Kappeler oder Wilfried Jilge. Oder die sich diesem alten Trend unter dem Eindruck des von Moskau bedrohten und beschädigten Umbruchs in der Ukraine doch heute entziehen wie Karl Schlögel oder Bianka Pietrow-Ennker und Benno Ennker. Inmitten unserer ganzen Aufgeklärtheit sind wir aber selber ein Problem. Wir selbst in unserer Gleichgültigkeit gegenüber dem im Innern nach wie vor umkämpften und von außen, von einer Großmacht mit Gewalt und Krieg überzogenen Demokratieversuch in einem Nachbarland. „Wie wir die Ukraine verraten. (Kleine Dokumentation zur Erinnerung)“ weiterlesen

Widerstand ist immer persönlich

Cover "Widerstand ist immer persönlich"

Neu aufgelegt: Widerstand ist immer persönlich: Gedankenspiele aus der alten Bundesrepublik.

Essays, Vignetten und Gedichte aus den 1980er Jahren – beispielsweise zur Psychiatriereform, RAF, Antifaschismus… und eine damals wie heute schmerzhafte Hinterfragung der linken Identität.

Edition Kritische Wälder, 2017, ISBN 3744896994, Paperback & Ebook (zB bei Amazon)

Erstveröffentlichungen u.a. im „Freibeuter“ (Wagenbach-Verlag), 1979-1989

Primo Levi über die Erinnerung

Ernst Köhler

1.

„Die ersten Berichte über die nationalsozialistischen Vernichtungslager begannen sich im Entscheidungsjahr 1942 zu verbreiten. Sie waren vage, stimmten aber untereinander überein: Sie ließen eine Massenvernichtung von einem derartig großen Ausmaß, von einer so unvorstellbaren Grausamkeit, mit so verworrenen Motivationen deutlich werden, dass die Öffentlichkeit, gerade wegen ihrer Ungeheuerlichkeit, dazu neigte, sie nicht zu glauben. Es ist bezeichnend, dass diese Ungläubigkeit von den Schuldigen selbst lange vorausgesagt wurde. Viele Überlebende erinnern sich daran…, was für ein Vergnügen es den SS-Leuten bereitete, den Häftlingen zynisch vor Augen zu halten: ‚Stellen Sie sich nur vor, Sie kommen in New York an, und die Leute fragen Sie: Wie war es in den deutschen Konzentrationslagern? Was haben sie da mit euch gemacht? Sie würden den Leuten in Amerika die Wahrheit erzählen. Und wissen Sie, was dann geschehen würde? Sie würden Ihnen nicht glauben, würden Sie für wahnsinnig halten, vielleicht sogar in eine Irrenanstalt stecken… Sonderbarerweise taucht dieser Gedanke…in Gestalt nächtlicher Träume aus der Verzweiflung der Häftlinge auf. Beinahe alle erinnern sich, entweder im Gespräch oder in ihren Aufzeichnungen, an einen Traum, der sich in den Nächten der Gefangenschaft häufig einstellte, unterschiedlich in den Einzelheiten, aber im Wesentlichen immer gleichbleibend: Sie waren nach Hause zurückgekehrt, erzählten mit Leidenschaft und Erleichterung einer ihnen nahestehenden Person von den vergangenen Leiden und sähen, dass ihnen nicht geglaubt, ja nicht einmal zugehört würde. In der typischsten (und grausamsten) Version wandte sich der Angesprochene ab und ging schweigend weg.“

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Von der Zurückhaltung zur Verantwortungslosigkeit – was aus der Realpolitik werden kann

(Vortrag, 2015)

Auch eine Außenpolitik der Vorsicht und der Zurückhaltung hat ihre Kosten. Und sie können unerträglich sein – für andere. In drei Schritten: zuerst deute ich an, wo mir selbst die dunkle, entsetzliche Seite des durchaus überlegten, rational begründeten Verzichts auf massive politische oder gar militärische Intervention zum ersten Mal aufgegangen ist – nämlich am Schicksal Bosniens in den jugoslawischen Zerfallskriegen der 1990er Jahre. Wer könnte mehr Verständnis für außenpolitische Mäßigung, Selbstbegrenzung, für die möglichste Vermeidung von anmaßenden, ungedeckten Großmachtambitionen haben als wir Deutschen vor dem Hintergrund unserer Geschichte?  Das wäre mein zweiter Punkt – ein Blick auf die deutsche Außenpolitik nach 1990 und ihre inzwischen vielfach hinterfragte und auch international kritisierte Tendenz zur Selbstentlastung, künstlichen Selbstverkleinerung, Drückebergerei. Abschließend streife ich noch die Politik der Obama-Administration im Nahen und Mittleren Osten. Ich stelle sie in den Kontext jenes Rückzugs aus der Rolle eines „Weltpolizisten“ oder „wohlwollenden Hegemon“, für den Präsident Obama erklärtermaßen steht.

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„Immer sind ja die Wörter schöner als die Geschichte“

Ernst Köhler

Über die neuen Gedichte von Peter Salomon

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Peter Salomon, Die Jahre liegen auf der Lauer. Neue Gedichte, Paperback, 92 S., 12,– € , Eggingen 2012 (Edition Klaus Isele)

Die jetzt erschienenen neuen Gedichte von Peter Salomon weisen eine große Spannweite auf – der Themen, der Formen, der Tonlage. Die ungeniert auseinanderstrebende Fülle wird aber zusammengehalten durch ein immer präsentes, nie erschlaffendes Methodenbewusstsein. Es ist eine Methodik des Experimentierens, des Spiels mit dem Bruch von Klischees und Konventionen – verbrauchten Verfahren des Sehens, Denkens, Empfindens, Schreibens, die diese zentrifugalen Text-Potenzen bändigt und in einen Reigen einbindet. Es gibt kein Gedicht, das nicht die Spuren dieses Zugriffs, dieser destruktiven Arbeit an sich trüge. Peter Salomon gilt als ein Lyriker, der sich dem gegenwärtigen Alltag zuwendet – samt seiner Misere und Qual. Das sagt er auch selbst von sich – allerdings präziser, differenzierter, literarisch versierter wie etwa in der knappen autobiografischen Skizze Wie ich nach Konstanz gekommen bin und warum ich es nicht wieder verlassen habe (Autobiographische Fußnoten, 2009). Aber mögen auch alle die in dieser Lyrik reproduzierten Erinnerungen, Begegnungen, Beobachtungen, Gedanken, Befindlichkeiten einen realen, alltäglichen Anlass, Vorwurf oder Hintergrund haben, sie wirken ausnahmslos gebrochen. Sie sind alle verwandelt. Das Alltagsmaterial muss jeweils zerschlagen worden sein – zerstückelt, bevor es wieder zusammengefügt worden ist. Es sind Konstruktionen, die uns der Autor anbietet – realitätshaltig, erfahrungsgesättigt, sinnenhaft konkretisiert, aber mit Bruchlinien. Richtiger: weltnah, weil sie ihre Künstlichkeit nie vertuschen. Die in der Überschrift dieser Besprechung zitierte Zeile findet sich in dem Gedicht Aus dem Jahr 1978. Sie bringt die Arbeitsweise des Lyrikers Peter Salomon wie nebenbei auf den Punkt.

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Das kleinere Übel und seine stille Anziehungskraft. Fragen zur amerikanischen Irak-Politik

Ernst Köhler

So verrannt und verrückt es klingt, aber für den täglichen Massenmord im Irak sind die Mörder verantwortlich – nicht die Amerikaner. Verantwortlich sind die miteinander auf den Tod verfeindeten islamischen Religionsgemeinschaften, richtiger: ihre geistlichen Führer und ihre Milizen, nicht die gescheiterten Besatzer. Hierzulande muss man anscheinend erst einmal die Mörder hinter den Amerikanern hervorziehen. Den Abzug verlangt auch niemand im Ernst. Auch die US-amerikanischen Demokraten nicht, die gerade eine Wahl gewonnen haben – nicht zuletzt über das Irak-Thema, aber ohne zu sagen, was sie im Irak anders machen wollen.

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Das Kosovo hinter der Kosovofrage – am Vorabend der Status-Verhandlungen

Ernst Köhler (September/ Oktober 2005)

1. Zwischen Diagnose und Diplomatie. Über den neuen Kosovo-Bericht des UN-Sonderbeauftragten Kai Eide.

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Bereits im August 2004 hatte der norwegische Diplomat Kai Eide im Auftrag Kofi Annans einen vielbeachteten Bericht über die Lage im Kosovo vorgelegt. Unter dem Eindruck der schweren Übergriffe im März 2004, hatte er davor gewarnt, die Verhandlungen über den künftigen „Status“ des Landes noch weiter zu verzögern. Im Klartext: die Frage, ob das Kosovo ein unabhängiger Staat sein wird, wie es die albanische Mehrheit will, oder aber als autonome Provinz bei Serbien-Montenegro bleibt, dürfe nicht länger vertagt werden. Die „Standards“ waren soeben in den anti-serbischen Unruhen massiv verletzt worden – dennoch sollten sie jetzt auf einmal nicht mehr als unverzichtbare Vorleistung gelten: als unabdingbare Voraussetzung für die Eröffnung des „Status-Prozesses“.

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Die Tagebücher von Victor Klemperer sind wirklich gelesen worden

Ernst Köhler

Buchbesprechung zu Mihail Sebastian: Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt. Tagebücher 1935-44.

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Mihail Sebastian: „Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt“ .Tagebücher 1935-44, Berlin 2005 (Claassen), broschiert 2006 (List)

Die Tagebücher von Victor Klemperer sind wirklich gelesen worden – nebenher, nicht in den Ferien, in den Abendstunden, über Wochen. Das war ein Bild von der deutschen Gesellschaft unter Hitler, wie man es ungeachtet allen verbürgten Wissens doch immer noch gesucht hatte. Den jetzt auch auf deutsch vorliegenden Tagebüchern von Mihail Sebastian aus den Jahren 1935-44 wäre die gleiche Aufmerksamkeit zu wünschen. Das Rumänien der „Eisernen Garde“, der Diktatur des Generals Jon Antonescu, Südosteuropa im Schatten, unter dem Druck, dann unter der Kontrolle des „Dritten Reichs“ scheint einigermaßen entrückt – bereits nicht mehr ganz gegenwärtige Geschichte.

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Die Wahrheit dennoch nicht zum Schweigen gebracht. Nachdenken über den Mord an Anna Politkovskaja

Ernst Köhler befragt Benno Ennker

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Der Historiker Benno Ennker

Der Mord an der weltbekannten russischen Journalistin Anna Politkovskaja hat bei uns eine besondere und anhaltende Betroffenheit hervorgerufen. Benno Ennker ist Osteuropahistoriker an der Hochschule St. Gallen und an der Universität Tübingen. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Sowjetgeschichte. Aber er ist auch ein Kenner des gegenwärtigen Rußlands. Die Fragen stellte Ernst Köhler.

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